„Ich war ein seltener Fall“
Etwas weniger als 20 Jahre sind vergangen, seit eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Zeitzeugin zum ersten Mal „ihre“ Chronist*innen traf. Vermittelt über Familienangehörige hatte sich die damals 96-jährige Helene (Leni) Zytnicka auf die Suche gemacht nach kundigen Zuhörer*innen und Aufschreibenden, denen sie ihren „seltenen Fall“, wie sie selbst sagte, zur Veröffentlichung anvertrauen konnte. Die Autor*innen Heidi Behrens und Norbert Reichling haben mit der „deutsch-jüdisch-polnischen Geschichte der Leni Zytnicka“ nun mit einem spannenden, kenntnisreichen und in der Tat „seltenen“ Zeitdokument diesem Wunsch Rechnung getragen. Mitunter in distanzierter Schilderung, dennoch aber beeindruckend plastisch, erzählte die 1904 in Essen geborene Zeitzeugin ihre Lebensgeschichte — zu lesen nun eingebettet in die chronologisch aufgebaute, historisch-kritische Darstellung und Bearbeitung durch die Autor*innen. Das „seltene“ an Leni Zytnickas „Fall“ ist dabei die immer wieder virulente Frage nach Identitäts- und Zugehörigkeits-Zuschreibungen und deren überlebensrelevanten Konsequenzen: Mit ihrer Eheschließung mit dem polnischen Juden David Zytnicki konvertierte die damals 22-Jährige 1926 zum Judentum, verlor zugleich ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Zwölf Jahre später, am 28. Oktober 1938, wurde sie in dieser „Eigenschaft“ zusammen mit ihm und ihren beiden Töchtern in der sogenannten „Polenaktion“ von Essen aus an die polnische Grenze deportiert, gelangte 1939 schließlich nach Warschau, wo ihr Mann Teil der jüdischen Infrastruktur des Ghetto-„Arbeitsamtes“ wurde. Leni Zytnicka aber gelang es, im „arischen“ Teil Warschaus zu leben. Nutzen konnte sie hier die deutschen Ausweispapiere ihrer Schwester, ebenso wie ihre Sprachkenntnisse und ihren Herkunftszusammenhang, eine „Deutsche“ aus dem Ruhrgebiet zu sein. Durchaus vage bleibt Leni Zyntickas eigene Erzählung jedoch immer dann, wenn es um strategische Vorteile oder geschickte Überlebensstrategien als Wandererin zwischen ihren Rollen geht: Als vorgeblich „Reichsdeutsche“ jenseits, als jüdische Ehefrau diesseits der Ghetto-Mauern gelang es ihr, gemeinsam mit ihrem Mann die richtigen Kontakte zu knüpfen, kritischen Überprüfungen „ihrer“ Ausweisdokumente zu entgehen und mit der Überzeugungsstärke einer selbstbewussten Frau auch in heiklen Situationen der NS-Verfolgung die Stirn zu bieten. Als Überlebende kehrte sie nach 1945 nach Deutschland, bald auch nach Essen zurück, kämpfte dort bis Ende der 1970er Jahre für die Anerkennung ihres Status als Verfolgte des Nationalsozialismus. Ihr Mann wird die Aufstandskämpfe und die Auflösung des Ghettos in Warschau hingegen nicht überlebt haben. Er wurde nach 1945 für tot erklärt. Besonders ist Leni Zytnickas Fall auch, weil es die Zeitzeugin selbst war, die ihre Geschichte erzählt wissen wollte. So ist es angemessen und in der Einordnung klug, dass der biographischen Skizze ein Abschluss-Kapitel angeschlossen ist. Hier machen Behrens und Reichling nicht nur ihre eigene Position als gewissermaßen beauftragte Interviewpartner*innen transparent und schärfen den Blick auf die Möglichkeiten, aus der ungewöhnlichen „Opfer“-Geschichte zu lernen. Sie betonen auch, dass Leni Zytnickas Biographie in all ihren (erzwungenen) Identitätsbrüchen ihrem Wesen nach auch Teil einer so häufig gebrochenen Geschichte des Überlebens und des Widerstands gegen die NS-Verfolgung ist — eine Geschichte, die für 17.000 im Deutschen Reich lebende polnische Jüdinnen und Juden im Oktober 1938 mit der „Polenaktion“ begann: dem „Präludium der Vernichtung“ (Jerzy Tomaszewski), mit dem die NS-Verfolgungspolitik ihre Infrastrukturen künftiger Verschleppungen zum ersten Mal im Praxis-Fall ausagierte. Ihren Überlebenden und Opfern ist zu lange kaum ein Resonanzraum geblieben und gegeben worden für ihre Geschichte.
Heidi Behrens & Norbert Reichling:
„Ich war ein seltener Fall“.
Die deutsch-jüdisch-polnische
Geschichte der Leni Zytnika
Klartext, Essen 2018
240 Seiten, 19,95 Euro