Kein neues Phänomen
Antisemitismus im Fußball
„Warum Antisemitismus im Fußball, ist Fußball nicht unpolitisch?“, lautet eine häufig gestellte Frage, wenn Antisemitismus im Fußball angesprochen wird. Und eigentlich sollte die Verwunderung über das Vorkommen von Antisemitismus im Fußball auch berechtigt sein, doch leider gibt es ihn schon lange. Viel zu lange.
Viele Menschen verbinden mit Fußball starke Gefühle. In der Abgrenzung zum gegnerischen Team und zu seinen Fans entstehen temporäre Sinn- und Wertegemeinschaften. Ohne diese gruppenbildende Eigenschaft wäre Fußball für viele Zuschauerinnen und Zuschauer wohl weniger attraktiv. Zur Vergemeinschaftung gehört als Teil der „Kultur“ der Abgrenzung vom gegnerischen Verein, von seiner Mannschaft und seinen Fans das Beschimpfen und Herabsetzen dieser „anderen“.
Dabei werden gesellschaftlich geltende Grenzen regelmäßig überschritten. Teil der „Diskriminierungskultur“ sind häufig auch antisemitische Schmähungen der als „fremd“ und „anders“ dargestellten gegnerischen Fans, Spieler und Vereine. Mittels des Antisemitismus wird die eigene Position aufgewertet und der Gegner herabgewürdigt. Demonstrativ zum Ausdruck gebrachter Antisemitismus wirkt im Fußball als eine der stärksten Schmähungen.
Fußballantisemitismus
Im Fußball äußert sich Antisemitismus in gemeinschaftlichen Gesängen, in die manchmal mehrere Hundert Fans einstimmen, und in individuellen Beschimpfungen. Wenn viele Fans an antisemitischen Gesängen beteiligt sind, handelt es sich zumeist um besondere Situationen wie sogenannte Derbyspiele oder DFB-Pokalspiele. Dem gegnerischen Verein und seinen Fans soll durch die Bezeichnung „Jude“ eine möglichst große Geringschätzung gezeigt werden. Auch Fans, die von sich selber der Meinung sind, nicht antisemitisch zu sein, stimmen in diese Gesänge mit ein. Der gemeinsame Hass einer Fanszene auf ihren Gegner lässt ansonsten akzeptierte Tabus überschreiten und die Schranken zu Diskriminierung und Abwertung weit öffnen. Dieses Phänomen bezeichne ich als Fußballantisemitismus. Eines wird dabei immer wieder deutlich: Rechtsoffene und neonazistische Fanszenen fungieren hier deutlich als Antriebsmotor für den Fußballantisemitismus.
Ausdrucksformen des Antisemitismus im Fußball
Außer mit verbalen Mitteln wie Gesängen und Sprechchören wird Antisemitismus auch in visueller Form zum Beispiel auf Transparenten, in Wandmalereien und durch Aufkleber geäußert. Zuweilen wird sich auch direkt positiv auf den Nationalsozialismus bezogen. Nachdem in Italien im Anschluss an das Spiel Lazio Rom gegen Cagliari am 22. Oktober 2017 Aufkleber mit dem Konterfei von Anne Frank, bekleidet im Trikot von AS Rom, verklebt worden waren, tauchten ähnliche Aufkleber auch im Vorfeld des Spiels FC Schalke 04 gegen Borussia Dortmund am 25. November 2017 auf.
Weitaus häufiger als Präsentationen im Stadion sind allerdings antisemitische Malereien, Parolen und Aufkleber im Umfeld von Stadien oder von Fanprojekträumen. Antisemitische Schmierereien, die mit Fußballfans in Verbindung zu bringen sind, erscheinen auch fernab von Stadien. In der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen werden dagegen mit antisemitischen Beschimpfungen einhergehende Angriffe auf Personen. Körperliche Gewalt in Verbindung mit Antisemitismus wird im Fußball fast ausnahmslos von rechtsoffenen und neonazistischen Fans und Fangruppen gegen andere Fans — nicht aber gegen Spieler — verübt.
Seit einigen Jahren attackieren rechtsoffene und neonazistische Fangruppen und Hooligangruppen verstärkt antirassistische Fangruppen. Bei solchen Angriffen sind die Opfer sowohl Fans des eigenen als auch des gegnerischen Vereins. So kam es aus der rechten Fanszene von Alemannia Aachen über mehrere Jahre immer wieder zu Gewalt gegen die Fangruppe Aachen Ultras, die sich wegen der Angriffe genötigt sah, sich als organisierte Fangruppe aus dem Stadion zurückzuziehen. Auf der Website der Aachen Ultras heißt es in einem Bericht über einen der vielen Angriffe, „dass es dabei auch zu Rufen wie ‚Homos‘, oder ‚Verpisst euch, ihr Juden‘ gekommen“ sei.
Gewalt gegen „Makkabi“
Antisemitisch motivierte körperliche Gewalt gegen Spieler wurde bisher nur bei Spielen von Vereinen des 1965 in Deutschland wiedergegründeten jüdischen Turn- und Sportverbands Makkabi Deutschland e.V. verübt. Makkabi-Spieler werden bei Spielen von gegnerischen Spielern und Fans oder von Betreuern des gegnerischen Teams bedroht und angegriffen. Weit häufiger als körperliche Angriffe sind dabei antisemitische Beleidigungen. Beschimpfungen wie „Scheiß Jude“ oder „Euch hat man vergessen zu vergasen“ treffen alle, die bei den Makkabi-Vereinen spielen. Es wird dabei zudem pauschal unterstellt, alle Makkabi-Spieler seien jüdischen Glaubens. Die Beleidigungen werden nicht allein von neonazistischen Fans geäußert. So griffen am 6. September 2015 in Köln nach dem Ende des Spiels von TuS Makkabi Köln gegen ESV Olympia Köln Gegenspieler unter „Scheiß Juden“- und „Free Palestine“-Rufen Makkabi-Spieler an. Nach Aussage von Benjamin Rajczyk, Abteilungsleiter Fußball und Kassenwart von TuS Makkabi, sind für den Kölner Makkabi-Verein derartig massive antisemitische Vorfälle neu.
Die Konfliktsituation im Nahen Osten äußerst sich hier in einem spezifischen Antisemitismus. In den letzten Jahren waren vor allem die Makkabi-Teams aus Berlin und Frankfurt am Main mit diesem spezifischen Antisemitismus konfrontiert. Darüber hinaus wird Makkabi von einigen Verbandsfunktionären und Vereinen zudem in antisemitischer Manier unterstellt, der Verband würde seine Verfolgung im Nationalsozialismus (aus)nutzen, um sich nach Vorfällen als jüdische Sportvereinigung eine besondere Aufmerksamkeit zu sichern und damit einen Vorteil zu verschaffen.
Der Umgang mit Antisemitismus
Am Umgang mit antisemitischen Vorfällen wird deutlich, dass die einzelnen Fußballlandesverbände über keine gemeinsame Strategie gegen Antisemitismus verfügen und auf Vorfälle daher unterschiedlich reagieren. Ein Grund hierfür scheint die mangelnde Sensibilisierung zu sein. Dies führt auch dazu, dass Sportgerichte nach antisemitischen Vorfällen manchmal milde Urteile fällen.
Ein Beispiel dafür ist die sportgerichtliche Auseinandersetzung nach dem Spiel zwischen dem SV Babelsberg 03 und dem FC Energie Cottbus am 28. April 2017. Das Sportgericht geriet bundesweit in die Schlagzeilen, weil es bei seiner Urteilsverkündung nicht auf die antisemitischen und neonazistischen Straftaten einging. Letztendlich schaltete sich sogar der DFB ein. Der primäre Fokus von Vereinen und Verbänden liegt auf Formen physischer Gewalt. So werden antisemitische Vorfälle, in denen keine körperliche Gewalt angewendet wird, in ihrer Brisanz unterschätzt.
Wiederkehrende Muster
Bei vielen Vereins- und Verbandsfunktionären herrscht zudem die Meinung vor, Fußball sei generell unpolitisch. Mit dieser Sicht wird versucht, sich der Auseinandersetzung über antisemitische Vorfälle zu entziehen. So zeigt sich bei vielen Vereinen ein zögerliches Verhalten, gegen rechtsoffene oder neonazistische Fangruppen, die mit antisemitischen Übergriffen in Erscheinung treten, vorzugehen. Dies gilt auch für die Reaktionen, wenn Vereinen vorgeworfen wird, ihre Spieler oder Fans hätten sich antisemitisch geäußert. Es gibt einige Vereine, die diese Vorwürfe ernst nehmen. Sie sanktionieren das Verhalten der Täter und Täterinnen und beziehen deutlich Stellung gegen antisemitisches Verhalten. Bei vielen anderen Vereinen werden die Vorwürfe dagegen zumeist erst einmal ignoriert, und es wird behauptet, die Vorfälle hätten sich gar nicht oder zumindest nicht so ereignet.
Können Vorfälle nicht (mehr) ignoriert werden, wird ihre Relevanz heruntergespielt und versucht, dem gegnerischen Verein eine Mitschuld zu geben, beziehungsweise behauptet, die Fans, von denen die antisemitischen Vorfälle ausgingen, seien eigentlich gar keine Fans des Vereins und normalerweise nicht im Stadion anzutreffen. Eigenverantwortung und Vereinsrealitäten werden damit verdeckt. Dieses Verhalten von Vereinen kann als wiederkehrendes Reaktionsmuster nach vielen antisemitischen oder rassistischen Vorfällen beobachtet werden. Ein zusätzliches Problem stellt die mangelnde Differenzierung zwischen den verschiedenen Ebenen von Gewalt, diskriminierendem Verhalten und Antisemitismus dar. Insbesondere Antisemitismus wird häufig unter dem Begriff Rassismus subsumiert.
Umgang von Fans
Anhand von ausgewerteten Interviews mit Fußballfans, aber auch Fanprojektmitarbeitenden, lässt sich erkennen, dass viele Fans sich nicht mit ihrer antisemitischen Einstellung und Handlung auseinandersetzen wollen. Im Fußball besteht eine spezifische Verbindung zwischen der pauschalen, uneindeutigen und negativen Verwendung des Wortes „Jude“ zur abgrenzenden und herabsetzenden Adressierung der gegnerischen Fangruppe und der Aufwertung der eigenen Gruppe. In der Aufwertung der eigenen Gruppe erfährt das Individuum in der kollektiven Identität eine Selbstwertsteigerung. Wichtig für die positive Aufwertung seiner selbst ist der Unterschiede herausstellende, abwertende Vergleich zur anderen Gruppe. Dafür werden Unterschiede überhöht, produziert und zur Auf- beziehungsweise Abwertung dienlich gemacht. Genau hier erhält die antisemitische Abwertung, in Verbindung mit weiteren Diskriminierungen, ihre Bedeutung. Die negativen, antisemitischen Stereotype werden auf die gegnerische Fangruppe übertragen. Dem Fußball wohnt insofern das Potential einer Selbstwertsteigerung inne, die mit Hilfe der antisemitischen Abwertung realisiert wird.
Umweg Stadion
Die antisemitische Kommunikation wird nicht mit antijüdischen Handlungen beziehungsweise mit Juden in Verbindung gebracht, da die Betroffenen des antisemitischen Verhaltens (oft) keine Juden sind. Einige der Fans sehen sich außerdem in einer Fußballwelt, die nichts mit der Gesellschaft zu tun hat, in der andere Gesetze herrschen und in der Antisemitismus nicht so bewertet werden sollte wie in der Gesellschaft. Parallel zur Gesellschaft hat sich hier ein Reservat der offenen Diskriminierung entwickelt, in dem antisemitische Kommunikation einen festen Platz hat. Antisemitismus wird darüber hinaus über den Umweg Stadion wieder in den alltäglichen Sprachgebrauch zurückgetragen.
Fußball muss damit also als ein Ort betrachtet werden, an dem antisemitische Verhaltens- und Denkweisen erlernt und gefördert werden können. Bisher wurde in der Forschung immer nur beschrieben, wie antisemitische Stereotype in den Fußball hineingebracht wurden und werden oder wie sie im Fußball ihre Verwendung finden. Es soll hier festgehalten werden, dass antisemitische Einflüsse im Fußball nicht, wie oft angenommen, nur aus Richtung der Gesellschaft kommen. Sie finden vielmehr ihren Weg, inhaltlich wieder gestärkt, in den umgangssprachlichen Gebrauch der Gesellschaft zurück. Dies ist auch bei anderen Diskriminierungsformen im Fußball der Fall.