Irgendwo in Hessen

Zum Mordanschlag in Wächtersbach

Der Mordanschlag in Wächtersbach folgte einem rassistischen Motiv. Reflexion oder Auseinandersetzung über Alltagsrassismus bleiben in der Region dennoch aus. Der Bürgermeister erklärte nach der Tat, dass es vor Ort „keinen Platz für Rassismus“ gäbe. Für viele ist das Thema damit beendet, obwohl von Rassismus betroffene Menschen aus der Region seit dem Anschlag in Angst vor weiteren Taten leben.

Der Mordanschlag in Wächtersbach folgte einem rassistischen Motiv. Reflexion oder Auseinandersetzung über Alltagsrassismus bleiben in der Region dennoch aus. Der Bürgermeister erklärte nach der Tat, dass es vor Ort „keinen Platz für Rassismus“ gäbe. Für viele ist das Thema damit beendet, obwohl von Rassismus betroffene Menschen aus der Region seit dem Anschlag in Angst vor weiteren Taten leben.

Am 22. Juli wurde im Industriegebiet von Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis) auf den 26-jährigen Bilal M. geschossen. Er erlitt einen Bauchdurchschuss und überlebte nur knapp. Drei Stunden später fand die Polizei den tatverdächtigen Roland Koch im benachbarten Biebergemünd, auch er war lebensgefährlich verletzt und verstarb noch am selben Tag im Krankenhaus. Die Polizei ermittelte, dass sich der 55-Jährige selbst in den Kopf geschossen hatte. Vor dem Anschlag war er in seiner Stammkneipe Martinseck in seinem Wohnort Biebergemünd gewesen und hatte dort die Tat

angekündigt. Nach dem Anschlag suchte er erneut die Kneipe auf und schilderte, was er getan hatte. Anschließend rief er laut Hessischem Rundfunk selbst den Notruf der Polizei und kündigte weitere Taten an. Letztendlich fuhr er aber an den Ortsrand und nahm sich das Leben.

Die Auswahl des Opfers basierte auf einem rassistischen Motiv. Dies soll auch mehreren Medienberichten zufolge aus dem gefundenen Abschiedsbrief hervorgehen, zu dessen genauem Inhalt bisher keine Angaben gemacht wurden. Der Brief soll mit einem — mit einem Hakenkreuz und dem SS-Motto „Meine Ehre heißt Treue“ versehenen — Koppelschloss beschwert worden sein. Dennoch ist der Tatverdächtige kein bekannter Neonazi, es deutet bislang nichts auf Kontakte in die Szene hin.

Die ersten Reaktionen im Ort waren irritierend: Freimütig gaben Anwohner_innen den angereisten Pressevertreter_innen Auskunft darüber, dass es sie nicht wundere, dass ihr Nachbar die Tat verübt habe. Seine Gewaltphantasien und rechte Gesinnung seien den meisten in der Nachbarschaft bekannt gewesen. Berichte aus der Kneipe Martinseck wirken ebenso nüchtern. Der Wirt gab verschiedenen Medien Interviews. Seine Kernaussage: Der Täter habe des Öfteren solche Taten angekündigt, diese Ankündigungen habe aber niemand ernst genommen. Die Aussagen des Wirtes lassen erahnen, wie oft Personen solche oder ähnliche Gewaltphantasien dort aussprechen. Es scheint so normal zu sein, dass niemand in der Kneipe auf die Idee kam, intervenieren zu müssen. Dem Wirt zumindest dürften rassistische Aussagen grundsätzlich nicht aufgestoßen sein, er selbst verbreitete via Facebook Grafiken der NPD.

Noch sind einige Hintergründe zum Mordanschlag von Wächtersbach unklar. War es nur ein Zufall, dass die Tat am 22. Juli, dem Jahrestag der von Anders Breivik verübten Attentate in Oslo und Utøya, verübt wurde? Fühlte sich der Täter durch den einen Monat zuvor verübten Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke motiviert? Ebensowenig ist derzeit sicher, ob Roland Koch, der Täter von Wächtersbach, einen Nachahmer gefunden hat: Am 3. September verübte ein 54-jähriger Mann im südhessischen Taunusstein eine ähnliche Tat. Aus dem Auto heraus schoss er mit einer Zwille und Metallkugeln auf Schwarze Menschen und verletzte einen 25-jährigen aus Syrien stammenden Mann am Kopf.

Reaktionen auf den Anschlag

Am Tag nach dem Anschlag fand am Tatort in Wächtersbach eine Mahnwache statt. Etwa 400 Menschen, vornehmlich aus der Region, waren gekommen. Reden hielten der Landrat, der Bürgermeister und eine Vertreterin der Kirchen, sie alle sind Weiße. Tenor war, dass es hier „Kein[en] Platz für Rassismus“ geben solle. Von Rassismus betroffene Menschen kamen auf der Kundgebung aber nicht zu Wort. Niemand berichtete über alltägliche Erfahrungen, niemand von der Angst, die Schwarze Menschen in der Region nun haben.

Die Perspektive von Menschen, die täglich von Rassismus betroffen sind, eröffnete sich erst am folgenden Samstag. Ein antifaschistisches Bündnis aus Frankfurt hatte zur Demonstration in Wächtersbach aufgerufen. Unter den etwa 300 Teilnehmer_innen befanden sich viele Schwarze Menschen aus der Region, sie berichteten in Gesprächen und Redebeiträgen, dass viele weitere nicht mit zur Demonstration kommen wollten — aus Angst. „Mein Vater wollte auch nicht hierher kommen, er sagte, er hat keine Lust abgeknallt zu werden“, war ein erschütternder Kommentar eines Teilnehmers zu den Auswirkungen des Mordanschlags.

In weiteren Gesprächen am Rande der Demonstration äußerten Menschen mir gegenüber ihre Bestürzung darüber, dass bis zu diesem Zeitpunkt Bilals Name in den Medien nicht genannt wurde, der des Täters aber wohl. Die Behauptung, es würde „hier“ keinen Platz für Rassismus geben, erzürnte eine weitere Protestierende. Sie machte mit Nachdruck deutlich, dass viele den Mordversuch als Angriff auf sich begreifen und Angst vor weiteren Anschlägen haben. Sie fürchtete, dass der Anschlag andere Rassist_innen zu ähnlichen Taten anstiften könnte. Es gebe hier weitere potenzielle Täter_innen, war sich die Protestierende sicher.

Der alltägliche Rassismus

Warum Wächtersbach? Was die Gesprächspartner_innen über die Stimmung vor Ort berichten, trifft nicht nur auf den Main-Kinzig-Kreis zu. Es könnte irgendwo im ländlichen Raum in Hessen sein. Kim, eine Schwarze Person, die in der Region ihre Jugend verbrachte, schilderte ihren Eindruck von der „Dorfjugend“ in den späten 1990er Jahren: „Die haben in einer rechten Erlebniswelt zwischen Kirmes und Kneipe gelebt. Da hieß es dann ‘Ich bin ja kein Nazi, aber…‘. Aber was dann folgte, war stets plumper Rassismus.“ Verbindendes beziehungsweise ausschließendes Element seien damals die Böhsen Onkelz gewesen. „Wenn ich gesagt habe, ob das sein muss, dass die Band hier läuft, wurde mir direkt empfohlen, jetzt besser zu gehen“, schildert Kim seine Erfahrung aus dieser Zeit, in der ihm wegen seiner Hautfarbe sowieso schon eine feindselige Stimmung entgegenschlug.

Die Erlebnisse, die von Rassismus betroffene Menschen wiedergeben, sind nicht nur in der Kneipe oder auf der Kirmes zu verorten. Die Polizei — in Hessen wegen des Polizeiskandals (siehe LOTTA #74) ohnehin schon in der Kritik — leistete sich ein weiteres Beispiel für alltäglichen Rassismus, der nicht-weißen Menschen widerfährt. Eine Woche nach dem Anschlag in Wächtersbach stieß am Frankfurter Hauptbahnhof ein vermutlich psychisch kranker Mann einen achtjährigen Jungen und seine Mutter auf ein Gleis. Während die Mutter sich noch retten konnte, erfasste ein einfahrender Zug den Jungen tödlich. Der mutmaßliche Täter ist ein 40-Jähriger mit Wohnort in der Schweiz und eritreischer Staatsbürgerschaft. Als Bilal M., das Opfer aus Wächtersbach, vernehmungsfähig war, wurde er im Krankenhaus von Polizeibeamten befragt. Eine ihrer ersten Fragen lautete, ob er den mutmaßlichen Täter vom Frankfurter Hauptbahnhof kenne, sie kämen ja beide aus Eritrea.

Weiterlesen