Markus Hartmann (l.) und Stephan Ernst (r.) am 1. September 2018 in Chemnitz.
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Zwei Täter?

Aktuelle Erkenntnisse zur Ermordung von Walter Lübcke

Auch wenn der Neonazi Stephan Ernst sein Geständnis widerrufen hat, so bestehen kaum Zweifel, dass er am 2. Juni 2019 den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hat. Sein engster politischer Weggefährte, der Kasseler Markus Hartmann, sitzt ebenfalls in U-Haft. Ihm wirft die Bundesanwaltschaft Beihilfe zum Mord vor. Und die Ermittler\*innen verdächtigen Ernst, im Januar 2016 einen Geflüchteten niedergestochen zu haben.

Auch wenn der Neonazi Stephan Ernst sein Geständnis widerrufen hat, so bestehen kaum Zweifel, dass er am 2. Juni 2019 den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hat. Sein engster politischer Weggefährte, der Kasseler Markus Hartmann, sitzt ebenfalls in U-Haft. Ihm wirft die Bundesanwaltschaft Beihilfe zum Mord vor. Und die Ermittler*innen verdächtigen Ernst, im Januar 2016 einen Geflüchteten niedergestochen zu haben.

Markus Hartmann und Stephan Ernst kennen sich aus der Kasseler Neonazi-Szene der frühen 2000er Jahre. Nach einer knapp sechsjährigen Haftzeit war Ernst 1999 aus dem Raum Wiesbaden nach Kassel gezogen. 1992 hatte er am Wiesbadener Hauptbahnhof aus rassistischen Gründen auf einen türkischen Iman eingestochen, der dabei fast gestorben wäre. 1993 hatte er zudem in Hohenstein bei Wiesbaden versucht, geflüchtete Menschen durch eine Rohrbombe zu töten. (vgl. LOTTA #75)

Die Kasseler Neonazi-Szene Anfang der 2000er Jahre war von der Kameradschaft Gau Kurhessen geprägt. Markus Hartmann, geboren 1976, soll dort Mitglied gewesen sein — ebenso wie in der Gruppe Freier Widerstand Kassel, die sich in den folgenden Jahren formierte. Bis Ende der 2000er Jahre nahmen Ernst und Hartmann zusammen an Aufmärschen teil, dann habe man sich nach den Angaben von Ernst aus den Augen verloren, 2014 jedoch wieder getroffen und sei zu engen Freunden geworden.

Zusammen besuchten sie am 14. Oktober 2015 eine Informationsveranstaltung in Lohfelden bei Kassel, auf der es um die Einrichtung einer Unterkunft für Geflüchtete ging. Dort verteidigte der CDU-Politiker Walter Lübcke das Vorhaben. Er stellte sich gegen rassistische Pöbeleien im Saal und sagte jenen Satz, der letztlich seinen Tod bedeutete: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Markus Hartmann filmte dies. Auf dem Video sind Buhrufe und Beschimpfungen zu hören, ein Mann brüllt: „Ich glaub’s nicht, verschwinde!“ Stephan Ernst gibt an, diesen Satz gerufen zu haben. Nach polizeilichen Erkenntnissen hat Hartmann das Video auf Facebook und YouTube immer wieder hochgeladen. Vor allem Anhänger*innen des Kasseler PEGIDA-Ablegers KAGIDA nahmen es begierig auf, kommentierten es mit Hasstiraden und Gewaltfantasien und verbreiteten es weiter. Bisweilen verschwand das Video, doch jedes neue Hochladen setzte eine neue Dynamik frei und schürte den Zorn auf Lübcke aufs Neue. Noch 2019 ging die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und heutige AfD-Anhängerin Erika Steinbach auf das Video ein und teilte ihren 80.000 Twitter-Follower*innen mit: „Zunächst sollten die Asylkritiker die CDU verlassen, bevor sie ihre Heimat aufgeben!“.

Kein Schläfer-Typ

Nicht nur im virtuellen Raum erfuhr Stephan Ernst die Resonanz, die ihn in seinem Mordplan bestätigte. Zusammen mit Hartmann ging er auf rechte Demonstrationen wie beispielsweise am 1. September 2018 in Chemnitz, zu der die AfD aufgerufen hatte. Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang mutmaßte, dass es sich bei Ernst um einen „Schläfer“ handele. Doch das war er eben nicht.

Der aktuelle Ermittlungsstand besagt, dass Ernst am Abend des 2. Juni zum Haus der Familie Lübcke in Wolfhagen fuhr und dieses beobachtete. Das hatte er, wie er einräumt, schon mehrmals getan. Doch an diesem Abend trat Walter Lübcke kurz vor Mitternacht auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Ernst aus dem Dunkeln an Lübcke heran schlich und ihn aus ein bis zwei Metern Entfernung mit einem Kopfschuss ermordete — ohne ein einziges Wort an ihn zu richten.

Als ihn die Polizei am 15. Juni mit Haftbefehl abholte, hatte er offensichtlich keinen Plan B. Er legte ein Geständnis ab, gab Täterwissen preis, verriet sein Waffenlager und belastete Markus Hartmann und den in Nordrhein-Westfalen lebenden Waffenhändler Elmar J.. Dann wechselte er den Anwalt und widerrief sein Geständnis. Unterstützung erfährt Stephan Ernst aktuell offensichtlich nur von wenigen Freund*innen und von seiner Mutter. Die klagt auf einer eigens eingerichteten Website: „Ich hatte nach allem was ich so gelesen habe immer den Eindruck das das Wort Kameradschaft eine Bedeutung hat. Leider muss ich feststellen das jetzt wo er mal Hilfe bräuchte, in finanzieller Art für den anstehenden Prozess sich keiner mehr für ihn interessiert (sic!).“

Zurück zum Fall Halit Yozgat

Die Parallelen zwischen dem Mord an Walter Lübcke und dem Mord des NSU an Halit Yozgat in Kassel am 6. April 2006 sind auffallend. Es gab keine Bekennerschreiben oder ähnliches — der NSU bekannte sich erst 2011. Auch beim Mord an Yozgat geht man davon aus, dass seine Mörder wortlos auf den arglosen Yozgat zutraten und ihm aus kurzer Entfernung in den Kopf schossen. Es ist nach wie vor nicht bewiesen, dass die Tat von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangen wurde. Die Morde an Lübcke und Yozgat sind noch durch mindestens eine weitere Begebenheit miteinander verschränkt. Am 12. Juni 2006 wurde Markus Hartmann auf dem Polizeipräsidium in Kassel im Fall Yozgat befragt. Er hatte auffallend häufig die Fahndungsseite angeklickt, auf der die Polizei um Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes bat, und die Polizei wollte wissen, warum. Hartmann erzählte in knappen Sätzen, dass er in dem Haus in Kassel, in dem er wohne, Kontakt zu einem Nachbarn habe. Der sei ein Freund von Halit Yozgat gewesen und habe mit diesem zusammen seinen Urlaub verbracht. Hartmann gab an, Halit Yozgat in einem Imbiss persönlich kennengelernt zu haben. Sein Nachbar habe ihm von dem Mord erzählt, und da er Halit Yozgat ja flüchtig gekannt habe, habe er den Fall über die Fahndungsseite verfolgt. Nach ein paar Routinefragen und wenigen Minuten war die Befragung beendet. Der Polizist, der diese durchgeführt hatte, notierte auf dem Spurenblatt: „Nicht weiter relevant, als abgeschlossen anzusehen.“

Es ist nicht vorstellbar, dass der Kriminalbeamte nicht wusste, dass er einen organisierten Neonazi vor sich sitzen hatte. Just im Jahr 2006 war Hartmann angezeigt worden, weil er in einer Kneipe „Sieg Heil“ gebrüllt und den Hitlergruß gezeigt hatte. Seit 2005 verbreitete er unter dem Pseudonym „Stadtreiniger“ über öffentliche Internetforen rassistische Hetze, mehrere Medien berichteten im Jahr 2007 darüber. Ein hasserfüllter Rassist und Neonazi, der Halit Yozgat kannte — doch die Kasseler Polizei war offensichtlich nicht an ihm interessiert. In der Befragung von Hartmann gab es nicht die geringste Andeutung, die auf seine neonazistische Einstellung und seine Aktivitäten in der Szene abzielte. Es wirkt, als hätte man seine Personalie so schnell wie möglich abhaken wollen.

Auch in den Nachermittlungen nach der Selbstenttarnung des NSU ab 2011 wurde die Spur Markus Hartmann nicht wieder aufgegriffen. Ein weiterer Ermittlungsskandal im NSU-Komplex, der im von Polizeiskandalen übersättigten Hessen kaum noch als Aufreger taugt. Mit handwerklichem Ungeschick lässt sich ein derart gravierendes und fortgesetztes Versäumnis nicht erklären. Die Behörden müssen Auskunft geben, warum man Hartmann im Fall Halit Yozgat nicht weiter behelligte. Zur Erinnerung: Beim Mord an Halit Yozgat war der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme am Tatort. Und der erzählt bis heute offensichtlich die Unwahrheit darüber, warum er dort war. Temme und eine Kollegin vom Verfassungsschutz führten insgesamt sieben Neonazis aus der Kasseler Szene als V-Personen. Von sechs von ihnen sind die Namen bis heute unbekannt.

Tatverdacht „Beihilfe zum Mord“

Markus Hartmann lebte unter anderem davon, dass er legal Waffen über das Internet verkaufte, darunter Gewehre und Pistolen. Die Waffenerlaubnis hatte er 2015 erhalten. Zwar hatte die Stadt Kassel ihm diese Erlaubnis zunächst wegen seiner politischen Betätigungen verweigert, doch Hartmann hatte gegen diese Entscheidung geklagt und vom Verwaltungsgericht Recht bekommen. Laut dem Investigativteam von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung hatte der Verfassungsschutz wichtige Erkenntnisse zu seinen neonazistischen Aktivitäten dem Gericht nicht mitgeteilt.

Bei der Wohnungsdurchsuchung bei Hartmann stellte die Polizei ein Buch des rechten Autors Akif Pirinçci sicher, in dem dieser auch über die Versammlung am 14. Oktober 2015 in Lohfelden schreibt. Darin hatte Hartmann den Namen Walter Lübcke gelb markiert. Die Bundesanwaltschaft wirft Hartmann nun „Beihilfe zum Mord“ vor. Dies begründet sie in einer Stellungnahme zu einer Haftbeschwerde von ihm. Sie schreibt, dass die Gespräche von Hartmann und Ernst ab dem Jahr 2014 „in das Politische und Radikale abgedriftet“ seien. Hartmann habe Stephan Ernst mit Schusswaffen und dem Schießen vertraut gemacht, auf seine Initiative hin sei Ernst dem Schützenclub 1952 Sandershausen beigetreten, in dem Hartmann Mitglied war. Auch habe er Ernst eine Schrotflinte und Munition gegeben und mit ihm Schießübungen in Wäldern und auf dem Vereinsgelände durchgeführt. Zudem soll Hartmann Ernst den Kontakt zu Elmar J. vermittelt haben, der die Pistole besorgt haben soll, mit der Walter Lübcke ermordet wurde. Konkret: Ohne den Rückhalt, den Zuspruch und die Kontakte von Hartmann hätte der Mord an Walter Lübcke wahrscheinlich nicht stattgefunden.

Schwer belastet wird Markus Hartmann durch seine ehemalige Lebensgefährtin Lisa D., die ihn in ihrer polizeilichen Aussage als „Denker“ und Stephan Ernst als „Macher“ bezeichnet. Sie erzählte auch, dass Hartmann ihr einmal gesagt habe, dass er sich für den Fall der Diagnose einer schweren Erkrankung mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft sprengen und möglichst viele Ausländer mit in den Tod nehmen werde.

Keine Panik in der CDU

Nachdem sich nach dem Mord an Walter Lübcke herauskristallisiert hatte, dass dieser offensichtlich in keine krummen Geschäfte verwickelt war, keinen Nachbarschaftsstreit führte, kein „dunkles Geheimnis“ hatte und nichts auf einen geplanten Raub hindeutete, blieb nur noch der Neonazi-Mord als denkbares Motiv. Doch in seiner Partei und den meisten Medien blieb es merkwürdig still. Es schien, als wollte man nicht wahrhaben, dass es vermutlich ein Rechter war, der den Regierungspräsidenten erschossen hatte. Auch nach der Verhaftung von Stephan Ernst hielt sich die Aufregung in der CDU in Grenzen. Denn schnell war klar geworden, dass Lübcke nicht als CDU-Politiker und Repräsentant des Staates ausgesucht worden war, sondern als Verfechter der Willkommenskultur. Vor allem hatte Lübcke auf der Veranstaltung am 14. Oktober 2015 in Lohfelden klare Kante gegen die rassistischen Pöbeleien gezeigt. Dem rechten Mob, der es gewohnt ist, von konservativen Politiker*innen mit verständnisvollen Worten gepampert zu werden, hielt Lübcke entgegen, dass die Gesellschaft auf sie, die rechten Pöble­r*innen, verzichten könne. Das war vermutlich der Knackpunkt, dabei sei Stephan Ernst — so soll es Markus Hartmann seiner Lebensgefährtin erzählt haben — „beinahe völlig ausgetickt“.

Es gab eine Trauerfeier für Lübcke, an der mehrere tausend Personen teilnahmen, es gab Trauerbeflaggung an den Landesbehörden, und Ministerpräsident Volker Bouffier kündigte an, Lübcke posthum eine Medaille zu verleihen. Doch die Wut über die Ermordung von Walter Lübcke, der doch ein Konservativer war, wurde fast ausnahmslos von Linken auf die Straße getragen. Denn die wussten, auf wen der Schuss auf Lübcke zielte — auf alle, die sich für die Rechte und die Würde Geflüchteter einsetzen. Der hessische Landesverband der Jungen Union hatte zu keiner Demonstration aufgerufen, er veröffentlichte nicht einmal einen Nachruf auf Walter Lübcke.

Der Mordversuch an Ahmed I.

Im September gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass gegen Stephan Ernst auch wegen des Verdachts des versuchten Mordes an Ahmed I. ermittelt werde. Dem damals 22-Jährigen, der aus dem Irak geflüchtet war, wurde am 6. Januar 2016 in der Nähe einer Geflüchteten-Unterkunft in Lohfelden von einem vorbeifahrenden Radfahrer ein Messer in den Rücken gestoßen. Ahmed I. wurde lebensgefährlich verletzt und behielt schwere Schäden. Worauf sich der Tatverdacht gegen Ernst in diesem Fall genau begründet, gibt die Staatsanwaltschaft „aus ermittlungstaktischen Gründen“ nicht bekannt. Ahmed I. war sich von Anfang an sicher gewesen, Opfer eines rassistischen Angriffs geworden zu sein, doch er fühlte sich mit seinem Verdacht von der Polizei nicht ernst genommen.

Wohl hatte die Polizei auch nach Rechts ermittelt. So teilten Neonazis aus Lohfelden nach der Tat über Soziale Netzwerke mit, dass die Polizei in ihren Garagen nach dem Fahrrad gesucht hatte, das bei der Tat benutzt worden war. Nach neuesten Verlautbarungen der Kasseler Polizei soll damals auch Stefan Ernst, der nur 2,5 Kilometer vom Tatort entfernt lebte, überprüft und befragt worden sein. Die Suche nach dem Täter verlief jedoch im Sande. Die Unterkunft in Lohfelden, in der Ahmed I. wohnte und in deren Nähe die Tat geschah, war jene, für deren Einrichtung sich Walter Lübcke auf der Bürgerversammlung am 14. Oktober 2015 eingesetzt hatte.

Kein Land in Sicht

Die Umstände des Mordes an Walter Lübcke und des Beinahe-Mordes an Ahmed I. spiegeln die Probleme und Skandale, die in den vergangenen Jahren in Hessen in Bezug auf militante Rechte aufgekommen waren. Das Verhalten der Polizei nach dem Angriff auf Ahmed I. erinnert in fataler Weise an den NSU-Mord in Kassel 2006. Auch die Familie und die Freund*innen von Halit Yozgat waren sich damals sicher gewesen, dass er einem rassistischen Verbrechen zum Opfer gefallen war. Doch auch sie wurden nicht ernst genommen und fühlten sich in den Ermittlungen wie Kriminelle behandelt. An der Inkompetenz und dem Desinteresse der Polizei, Spuren nach rechts einzuordnen und konsequent zu verfolgen, scheint sich in Kassel nichts geändert zu haben. Markus Hartmann, der durch seine Fantasien als rassistischer „Stadtreiniger“ stadtbekannt wurde, wird im Fall Yozgat als „nicht weiter relevant“ bewertet, obwohl er das Mordopfer kannte. In den Folgejahren kann er legal mit Waffen handeln und — laut Bundesanwaltschaft — auf der Anlage seines Schützenvereins einem mutmaßlichen Neonazi-Killer das Schießen beibringen.

Noch ist nicht geklärt worden, wie beim Mordanschlag am 2. Juni 2019 die Hautpartikel von Stephan Ernst auf die Kleidung von Walter Lübcke gelangten. Nur durch die Analyse der DNA war man auf Ernst gekommen. Man mag sich nicht ausmalen, wie die Geschichte verlaufen wäre, wären diese winzigen Hautpartikel nicht gefunden worden.

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