Jan Große-Nobis

Zwischen Repression und Subversion

Seenotrettung in Zeiten der autoritären Formierung

Für die Seenotrettung im Mittelmeer gab es zuletzt zwei gute Nachrichten. Die erste: Matteo Salvini als Hauptwidersacher führt nicht länger de facto die Regierung Italiens. Die zweite: Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, jeden vierten aus Seenot geretteten Menschen aufzunehmen, und das Malta-Abkommen ermöglicht die schnelle Aufnahme aus Seenot Geretteter. Zumindest letzteres ist auch ein Erfolg der zivilen Seenotrettung und der „Seebrücke“-Bewegung.

Für die Seenotrettung im Mittelmeer gab es zuletzt zwei gute Nachrichten. Die erste: Matteo Salvini als Hauptwidersacher führt nicht länger de facto die Regierung Italiens. Die zweite: Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, jeden vierten aus Seenot geretteten Menschen aufzunehmen, und das Malta-Abkommen ermöglicht die schnelle Aufnahme aus Seenot Geretteter. Zumindest letzteres ist auch ein Erfolg der zivilen Seenotrettung und der „Seebrücke“-Bewegung.

Offen ist aber, ob nun auch eine progressive Revision der Dublin-Regelung folgt, welche die Zuständigkeit der Einreisestaaten für die Schutzsuchenden festlegt. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass mit einem anderen, „solidarischeren“ Aufteilungssystem auch eine striktere und an Kriterien der Effizienz orientierte Durchführung der Aufnahme- und Abschiebeprozeduren einhergehen wird. Ohnehin ist die Lage im Mittelmeer nicht zu trennen von der Lage in Libyen und in der Sahara, wo die Abschottung vor Geflüchteten im Sinne einer Externalisierung der EU-Grenzen praktiziert wird. Auch sind aktuell kaum Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer unterwegs. Dafür ist vor allem die Kriminalisierung der Seenotrettung verantwortlich.

Repression

Von Anbeginn geriet zivile Seenotrettung ins Visier staatlicher Repression. Die Kriminalisierung musste dabei Umwege gehen: Gesetze wurden erweitert ausgelegt, unter einem anderen Straftatbestand subsumiert oder es wurden sogar punktuelle Gesetzesänderungen eingeleitet. Dass sowohl in Rekurs auf spezielle Gesetze, die besondere Formen auch präventiver Repression zulassen (Anti-Terror- und Anti-Mafia Gesetze), gehandelt wurde, als auch über die Wege der Bürokratie (Verweigerung der Staatsflagge), zeigt, wie sehr sich Normalgeschäft und Handeln im Ausnahmezustand im Rahmen der autoritären Formierung durchkreuzen. Man kann von regelrechter Sabotage der Seenotrettung seitens der europäischen Staaten reden.

Eine andere Qualität der Repression hat die Seenotrettung sicherlich in Italien unter Salvini seit 2018 erfahren, der diese quasi zur Staatsräson erhob. Salvini versuchte immer wieder, mit allen Mitteln und seine Befugnisse als Innenminister überschreitend, das Anlegen von Schiffen in italienischen Häfen zu verhindern. Mit Hilfe einiger gleichgesinnter Staatsanwälte kriminalisierte er die Seenotretter*innen. Seine zwei Sicherheitsdekrete von Oktober 2018 und August 2019 brachten ihn dann in die Lage, seinem Vorgehen juridische Konsistenz zu geben. Das Innenministerium erhielt die Kompetenz, Schiffen die Durch- oder Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer zu verbieten, sollten diese die „nationale Sicherheit“ gefährden. Zudem wurden die Mittel der Polizei zur Bekämpfung „illegaler Einwanderung“, unter anderem durch Undercover-Operationen, erhöht.

Feindbilder

An Salvini zeigt sich, welche Rolle Seenotrettung im Weltbild der neuen Faschist*innen einnimmt. Seenotrettung dient als Konkretisierung des Hauptfeindes, der angeblich die „Volkseinheit“ und staatliche Souveränität gefährdenden Migrant*innen. Dieses Vorgehen ist vor dem Hintergrund der politischen Strategie Salvinis zu deuten: Er braucht einen öffentlichen Feind und einen vermeintlichen Ausnahmezustand, um sich selbst als Lösung zu präsentieren. Gleichzeitig darf die konstruierte Ausnahmesituation nicht wirklich aufgelöst werden. Vielmehr muss die Konstruktion befestigt werden: zum einen durch eine Multiplikation der Fälle von Schiffen, die um einen Landungshafen ringen müssen; zum anderen durch die oben angedeutete Erweiterung der Befugnisse des Innenministeriums; schließlich durch Maßnahmen, die die Anzahl illegalisierter Migrant*innen erhöhen und ihre Integration erschweren.

Dieses Vorgehen gleicht einer Übertragung des Wahlkampfes in die Praxis der Regierung. Dabei ist die Aufhebung des vermeintlichen Souveränitätsverlusts Italiens Salvinis Hauptversprechen: Die Tatsache, dass dieses Versprechen prinzipiell nicht eingelöst werden kann, wird dadurch kompensiert, dass zum einen eben Migrant*innen als Ursache ausgemacht werden (und nicht etwa die Herrschaft des kapitalistischen Verwertungszwanges) und zum anderen den Anhänger*innen Salvinis die Möglichkeit geboten wird, sich mit der von ihrem „Capitano“ durchgeführten Aggression gegen den öffentlichen Feind zu identifizieren.

In Salvinis Darstellung wird Seenotrettung unmittelbar mit Linksautonomen assoziiert, die zweite Feindfigur im Weltbild Salvinis. Nicht gänzlich ohne Grund, denn in den letzten Monaten ist die einzige echte Opposition gegen Salvini die von sozialen Bewegungen und Basisgruppen gewesen. Wie im Fall der Seenotrettung decken sich hier praktische Solidarität und politischer Widerstand. Soziale Bewegungen wurden deshalb auch zum Ziel der Sicherheitsdekrete, die unter anderem einen nationalen Plan zur Räumung von Hausbesetzungen und Strafen von bis zu vier Jahren Haft für angeblich gefährdendes Verhalten bei Demonstrationen beinhalteten.

Tatsächlich wurde Seenotrettung auch zum Austragungsort für den europäischen Konflikt um die Dublin-Regelung. Nur stand im Interesse Salvinis kaum eine Lösung der Frage nach gleichmäßiger Aufteilung. Vielmehr wurde Seenotrettung wieder zur Repräsentantin für etwas anderes — nun: die Staaten des nördlichen Europas — gemacht, gegen das die Aggression gerichtet wird.

Politische Bedeutungen von Seenotrettung

Salvini liegt im Feindbild Seenotrettung nicht gänzlich falsch: Seenotrettung situiert sich an einer der delikatesten Stellen der gegenwärtigen politischen Lage. Es gilt also ihre eigentliche politische Bedeutung auszuarbeiten.

Politisch wäre Seenotrettung primär als Abwehrkampf zu begreifen, als Antwort auf die schlimmsten Folgen des kapitalistisch-staatlichen Normalzustandes und deren Zuspitzung im Rahmen von Rechtsruck und neofaschistischem Aufbegehren. Als humanistisches Handeln ziviler Kräfte führt es eine Kritik des tödlichen und unmenschlichen Charakters des durch Recht und Gesetz eingehegten Normalzustands mit sich.

Seenotrettung kann aber auch als subversiver Akt begriffen werden, als praktische Herausforderung des europäischen Grenzregimes. Sie eröffnet einen Raum für das eigentliche Subjekt der Anfechtung des Grenzregimes: Migrant*innen in ihrer eigensinnigen Bewegung, die selbst Reaktion auf die repressiven Bewältigungsversuche der Vielfachkrise der kapitalistischen Ordnung ist. Betrachtet man den kapitalistischen Staat und seine Grenzen in Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari als „Kriegsmaschine“, die sich gegen subversive Bewegungen richtet, ist Seenotrettung als Moment der Sabotage dieser Maschine zu verstehen. Darin ist die Praxis der Seenotrettung auch nicht fern von dem, was man in Anlehnung an Guy Debord „Schaffung von Situationen“ nennen könnte: Seenotrettung eröffnet in der Mitte eines festgefahrenen Gefüges einen Raum, in dem sich Neues präsentieren kann, das zum Subjekt von veränderndem, den Status Quo in Frage stellenden Handeln wird.

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