„Gamifizierung des Terrors?“
Ein problematischer Begriff
Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 ist plötzlich die Rede von der „Gamification“ beziehungsweise „Gamifizierung des Terrors“. Ist dieser Begriff tatsächlich geeignet, um die besonderen Charakteristika des Anschlags zu beschreiben? Oder handelt es sich um ein modisches Schlagwort, das mehr verschleiert als erklärt?
Von zahlreichen anderen rechtsterroristischen Anschlägen unterscheidet sich die Mordtat von Halle dadurch, dass der Täter Stephan Baillet die Ermordung der 40-jährigen Jana L. und des 20-jährigen Kevin S. mit einem an seinem Helm montierten Smartphone filmte und das Video live ins Internet streamte. Dafür benutzte er die vor allem für die Übertragung von Videogames bekannte Plattform Twitch. Der 27-jährige Baillet kopierte das Vorgehen des Attentäters von Christchurch (Neuseeland), der im März 2019 in zwei Moscheen 55 Menschen ermordete und erstmals einen Anschlag live im Internet übertrug. Wie der Täter aus Halle war auch er Teil einer „digitalen Hasskultur“ (Maik Fielitz), die in Onlineforen wie 8chan zum Ausdruck kommt.
Der Täter von Halle veröffentlichte zudem in einem Online-Forum mehrere Dokumente, in denen er sich zu der antisemitischen Motivation seiner Tat bekennt und Einblicke in den Vorbereitungsprozess bietet. Ein Dokument enthält eine mit „Achievements“ (Errungenschaften/Erfolge) überschriebene Seite, auf der mit zynischen Slogans die Ermordung von verschiedenen Zielpersonen mit unterschiedlichen Waffen benannt wird. So heißt es zum Beispiel: „Nailed it. Kill someone with a nail-bomb.“ Als Vorbild für diese „Achievements“ dienten zweifelsohne populäre Videogames wie Battlefield oder Call of Duty, die Belobigungen für im Spiel erzielte Erfolge auf ähnliche Art und Weise benennen. Diese Bezüge zu Videogames dienen nun einigen Kommentator*innen als Ausdruck einer „Gamifizierung des Terrors“.
Was bedeutet „Gamification“?
Games zeichnen sich durch Regeln, Wettbewerb, Kooperation, Herausforderungen, Ziele und Erfolge aus. Entwickler*innen von (Video-)Games sind seit jeher bestrebt, die Spieler*innen möglichst lange an das Game zu binden. Dazu muss die Motivation stetig aufrecht erhalten beziehungsweise immer wieder erneuert werden. Diese Aufgabe erfüllt das Game-Design. Ein schon früh eingesetztes Mittel in Videogames sind „Highscores“ (Bestenlisten). Es finden auch zahlreiche andere kompetitive Elemente und Belohnungen wie Abzeichen, Stufen- und Rangsysteme oder neue freizuschaltende Inhalte (beispielsweise Level oder Ausrüstung) Verwendung. Soziale Interaktionen mit anderen Spieler*innen können ebenso die Motivation beeinflussen.
Diese Game-Design-Elemente lassen sich auch in Kontexte integrieren, deren Zweck nicht Unterhaltung, sondern die Produktion und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen ist, oder in denen pädagogische Ziele verfolgt werden. So findet der Begriff „Gamification“ seit 2010 immer häufiger Verwendung, insbesondere bei Wirtschaftsunternehmen wurde „Gamification“ zu einem Trendthema. Dabei wird „Gamification“ im Kern verstanden als die Verwendung von Elementen des Game-Designs in Kontexten, die keine Games sind. Auch das vom chinesischen Staat eingeführte „Social Credit System“ macht sich „Gamification“ zu Nutze.
„Gamification“ bezeichnet somit ein Mittel der Verhaltenslenkung, das sich die Spielelemente zu Nutze macht, um ein gewünschtes Verhalten zu motivieren. So verstanden ist „Gamification“ ein zielgerichteter Prozess, in dem diejenigen, die „Gamification“ nutzen, bestrebt sind, das Verhalten von Dritten (Mitarbeiter*innen, Konsument*innen, Schüler*innen, Bürger*innen) auf einen von ihnen festgelegten Zweck hin zu orientieren.
Nun findet der Begriff nach dem Anschlag von Halle Eingang in Analysen zu rechter Gewalt. Das übliche Verständnis von „Gamification“ passt aber nicht zu den rechtsterroristischen Anschlägen, bei denen sich keine externe Steuerung eines zielgerichteten, Game-Design-Elemente integrierenden Prozesses findet. Die ausschließlich männlichen Täter sind dabei in der Regel nicht in eine Organisation und Kommandokette eingebunden. Vielmehr sind sie Teil eines radikalen Online-Milieus. Die Sozialwissenschaftler Peter Waldmann und Stephan Malthaner verstehen unter „radikalen Milieus“ das mit terroristischen Gruppen interagierende soziale Umfeld, das deren politische Ziele teilt, bestimmte Formen der Gewaltanwendung befürwortet und den Gewaltakteuren logistische wie moralische Unterstützung bietet. Die Autoren gehen von einer komplexen mitunter ambivalenten Beziehung aus, die gewaltföernde oder gewalthemmende Folgen haben kann.
Ein radikales Milieu kann sich auch online, beispielsweise auf Foren oder in Gruppen von Messenger-Diensten konstituieren. Im Falle der Attentäter von Christchurch oder Halle zeichnet es sich dadurch aus, dass es nicht eine bestehende Gewaltgruppe unterstützt, sondern dass die Taten einzeln agierender Täter verherrlicht werden und sich davon inspiriert weitere Personen dieses radikalen Milieus zur Ausübung ähnlicher Gewalttaten entschließen. Gewaltfördernd dürfte sich nicht nur diese Verklärung von politisch motivierten Mördern als „Helden“ und Vorbilder auswirken, sondern ebenso der in diesem Milieu kultivierte Rassismus, Antisemitismus und Frauenhass sowie die Beschwörungen apokalyptischer Untergangsszenarien, die mit Slogans wie „Der große Austausch“ oder „white genozid“ benannt werden.
Die Motivation, einen Anschlag zu verüben, wird aber nicht durch „Gamification“-Elemente gefördert, sondern entsteht aus der sozialen Interaktion innerhalb dieses radikalen Milieus. Die „Achievement“-Liste des Halle-Täters ist ein zynischer „Gag“ und nicht tatsächlich handlungsleitend. Im Internet existieren durchaus „Highscore“-Listen, in denen die Todesopfer von Terrorist*innen und Amokläufer*innen gezählt werden. Aber diese als einen wichtigen Motivationsgrund für Täter auszumachen, heißt, die Gewaltakte zu entpolitisieren. Zwar dürften vielfach auch eher persönliche Gründe in die Tatmotivation hineinwirken. Etwa, wenn Täter durch eine Gewalttat zu einem „Helden“ werden oder sich selbst vergewissern wollen, nicht zu denen zu gehören, die nur reden, sondern zu denen, die auch handeln. Diese eher persönlichen Motivlagen weisen aber immer auch eine politische Dimension auf. Denn es geht diesen Tätern nicht einfach darum, für eine Zeit die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sondern sie wollen zu „Helden“ einer Bewegung werden, mitunter Vorbilder oder Märtyrer eben jener radikalen Milieus, deren Teil sie sind. Oder sie wollen die vom radikalen Milieu beziehungsweise sich selbst formulierten Ansprüche an einen „politischen Soldaten“ erfüllen, indem sie den Schritt zur „Tat“ vollziehen.
Zentrales Ziel von Gewalttaten wie dem Anschlag in Halle ist es, eine politische Botschaft zu verbreiten, die sich nicht nur an die Opfergruppe richtet, sondern ebenso an Sympathisierende, auch und gerade an die Bezugspersonen im radikalen Milieu. Diese Botschaft muss nicht die Form eines Programms mit konkreten Forderungen haben. Sie kann allein im Wunsch nach Vernichtung aller „Fremden“ und Nicht-Dazugehörigen bestehen. Stephan Baillets „Manifest“ besteht im Wesentlichen aus dem Satz: „Dedomesticate yourself and KILL ALL JEWS!“ („De-domestiziere dich und töte alle Juden!“). Der Täter will als Beispiel vorangehen. Er habe demonstrieren wollen, dass sich auch mit selbst gebauten Waffen Anschläge durchführen ließen, schrieb er in seiner „Dokumentation“.
Propaganda mit Game-Motiven
Es ist das Merkmal terroristischer Gewalt, dass sie Mittel zum Zweck, der Verbreitung einer Botschaft, ist. Die Täter von Christchurch und Halle kalkulierten darum nicht nur die Reaktion der Massenmedien für die Verbreitung ein, sondern nutzten auch die Möglichkeiten, die Online-Dienste wie Twitch oder Facebook bieten. Dadurch bedienten sie nicht nur die Sehgewohnheiten ihrer Zielgruppen, sondern buhlten auch um deren Aufmerksamkeit, indem sie besonders „krasse“ Bilder, den Live-Mord an Menschen aus der Egoshooter-Perspektive, bieten. Rückgriffe auf Bildsprache, Ästhetiken und Begriffe aus dem Kontext von Videogames sind darin durchaus nicht zufällig. Vielmehr sind sie zum einen Ausdruck der Verwurzelung der Täter in ditigalen Kulturen und zum anderen Teil einer Propagandastrategie.
Solcher Rückgriffe auf Games bedienen sich auch staatliche Armeen wie die Bundeswehr. Erinnert sei hier an deren Plakate auf der Gamescom 2018 mit Slogans wie „Multiplayer at its best“. Auch der Islamische Staat (IS) nutzte in seiner Propaganda die Bildsprache von Videogames. Durch die Verwendung dieser popkulturellen Ästhetiken sollen zielgruppengerecht Kämpfer*innen und Unterstützer*innen rekrutiert werden. Als „Gamification“ ist das nicht zu begreifen, da es sich nicht um die Nutzung von Game-Design-Elementen handelt, sondern lediglich Game-Motive und -Bilder integriert werden.
Neuer Tätertypus ist selten
Die Rede von der „Gamifizierung des Terrors“ impliziert einen grundlegenden Wandel rechtsterroristischer Gewalt. Dies ist aber nicht zutreffend. Zwar tritt global ein neuer Tätertypus auf, der stärker als andere Täter*innen durch radikale Online-Milieus, wie sie sich auf 8chan und anderswo finden, geprägt ist und diese zu wichtigen Adressat*innen auserkoren hat. Dieser neue Tätertypus hat aber nur einen sehr kleinen Anteil an den schweren Gewalttaten mit einer rechten Motivation. In Deutschland entspricht neben dem Halle-Attentäter nur der Münchener Attentäter Ali David Sonboly diesem Typus.
Demgegenüber stehen nur im Jahr 2019 drei rassistisch motivierte Anschläge von alleine handelnden Tätern in Bottrop und Essen, Wächtersbach und Taunusstein, von denen sich keiner in vergleichbaren Online-Milieus bewegte. Keiner dieser Täter nutzte das Internet, um ein Tatbekenntnis zu veröffentlichen. Auch der mutmaßlich für die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke verantwortliche Haupttäter, Stephan Ernst, lässt sich schwerlich dem neuen Typus zurechnen. Wie der 45-jährige Ernst sind auch die drei vorgenannten Täter älter als 40 Jahre. Bei den zahlreichen, in den vergangenen Jahren verübten, Brandanschlägen auf Unterkünfte von Geflüchteten spielte „Gamification“ ebenso keine Rolle.
Die plötzliche Attraktivität der Rede von der „Gamifizierung des Terrors“ kann damit erklärt werden, dass der Begriff, oberflächlich betrachtet, geeignet scheint, neue Elemente einiger rechtsterroristischer Anschläge, nämlich die Bezüge auf Videogames und digitale Kulturen durch die Täter, zu bezeichnen. Problematisch ist aber, dass der Begriff der „Gamification“ aus einem anderen Kontext entlehnt ist und sich das dort entwickelte Begriffsverständnis nicht auf rechtsterroristische Gewalt übertragen lässt. Passender wäre es deshalb, den Begriff zu meiden und stattdessen von einer neuen Inszenierungsform von Gewalt zu sprechen, die sich bei Bildern und Motiven populärer Videogames bedient, um die Kommunikation der politischen Botschaft zu verstärken.
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Der Autor ist Mitglied der Nachwuchsforschungsgruppe „Rechtsextreme Gewaltdelinquenz und Praxis der Strafverfolgung“ der Hans-Böckler-Stiftung. Der Artikel basiert auf einem „Working Paper“ zum Thema.