Von Heuschrecken und Hunden

Hongkongs rechte „localists“

Bei den Protesten in Hongkong nehmen rassistisch motivierte Übergriffe auf Festlandchines*innen zu. Ursprung der Attacken ist das politische Spektrum der „localists“, einer Bewegung, die zum Ziel hat, eine spezifische kulturelle Identität in der früheren britischen Kolonie zu verteidigen. Schon seit Jahren gehen Hongkongs „localists“ teils gewalttätig gegen Einwanderer*innen und Tourist*innen vom Festland vor. Der Hintergrund der Bewegung, die seit geraumer Zeit erheblich stärker wird, reicht Jahrzehnte in Hongkongs Geschichte zurück.

Der Mann war sichtlich verärgert. „Geh zurück auf’s Festland!“, brüllte die Menge, als er die Zen­trale der US-Bank JPMorgan Chase in Hongkong betreten wollte, seinen Arbeitsplatz. „Wir sind doch alle Chinesen!“, rief er in der chinesischen Hochsprache Mandarin, wandte sich von den De­mons­trant­*innen ab und ging, bedrängt von Journalist*innen, in Richtung auf die Eingangstür. We­nige Schritte fehlten, da sprang ihn ein Vermummter von hinten an, drosch mit harten Faustschlägen auf seinen Kopf ein, zerschmetterte seine Brille und verschwand wieder in der grölenden Masse. Fassungslos, mit eingezogenem Kopf und schmerzverzerrtem Gesicht sah der Mann dem Angreifer nach, bis Kollegen ihn in der Bank in Sicherheit brachten. Sein „Vergehen“, das ihm am 4. Oktober 2019 den Zorn der Demonstrant*innen und die Prügel eingetragen hatte: Er war Festlandchinese — aus Sicht der Protestierenden also ein Ausländer, der in Hongkong unerwünscht war.

Rassistische Attacken auf Festlandchines*innen werden bei den aktuellen Protesten in Hongkong, wenngleich im Westen kaum je darüber berichtet wird, immer wieder verübt. Zuweilen unterbleibt zumindest physische Gewalt; so etwa im Fall von Jiayang Fan, einer Journalistin aus den USA mit chinesischen Vorfahren, die im September von Demonstrant*innen erst rassistisch beleidigt, dann drohend befragt wurde, wie sie denn behaupten könne, aus den Vereinigten Staaten zu kommen, wo sie doch „ein chinesisches Gesicht“ habe und Mandarin spreche. Tourist*innen aus der Volksrepublik werden von Demonstrierenden regelmäßig als „Heuschrecken“ oder als „Wilde“ verunglimpft und auf­gefordert, Hongkong zu verlassen. Im August fesselten Protestierende während der Besetzung des Hongkonger Flughafens zwei Männer, die Mandarin sprachen, mit Kabelbindern, banden sie an Ge­päckwagen fest und unterzogen sie regelrechten Verhören. „Gelbe Gangster“ ist mittlerweile unter den Demonstrant*innen ein verbreitetes Schimpfwort für Bewohner*innen der Volksrepublik ge­worden. Sogar „Shina dogs“, „China-Hunde“, ist immer wieder zu hören. Der Ausdruck entstammt dem rassistischen Sprachgebrauch der japanischen Besatzer im Zweiten Weltkrieg.

Abgrenzung von Beijing

„Localists“: Mit diesem festen Begriff, den manche mit „Lokalpatrioten“ ins Deutsche zu überset­zen versuchen, wird in Hongkong der harte Kern der Demonstrant*innen bezeichnet, die seit dem Frühjahr 2019 in der südchinesischen Metropole auf die Straße gehen. Zu den „localists“ zählt ein Großteil derjenigen, die zur Durchsetzung ihrer Ziele Gewalt anwenden — Gewalt gegen die Polizei, aber auch gegen Geschäfte, Büros und Cafés, die Festlandchines*innen gehören oder auch nur ver­dächtigt werden, gute Beziehungen zur Volksrepublik zu pflegen. Das Milieu der „localists“ ist zu­dem die Quelle der rassistischen Attacken auf Festlandchines*innen. Es hat die Proteste, die Hong­kong seit dem vergangenen Jahr erschüttern, maßgeblich vorangetrieben, und es ist in ihrem Rah­men weiter erstarkt. Es handelt sich um eine rechtslastige Bewegung, die sich in schroffer Abgren­zung zu China definiert — und dabei tief in der Geschichte der einstigen britischen Kronkolonie ver­ankert ist.

Abgrenzung gegenüber Beijing gehört bereits seit der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 zur politischen Grundüberzeugung eines einflussreichen Bevölkerungsteils in Hongkong. Das liegt daran, dass gegen Ende des Bürgerkriegs zahlreiche rechte Kuomintang-Aktivist*innen und -Anhänger*innen, darunter nicht zuletzt wohlhabende Unternehmer aus Shanghai, in die britische Kolonie übersiedelten; sie zogen ein Leben unter der Herrschaft von Kolonialbeamten dem Verbleib in der Volksrepublik vor. Zwar zählten zu den chinesischen Migrant*innen, die Hongkongs Bevöl­kerung in der kurzen Zeit von 1945 bis 1951 von 600.000 auf zwei Millionen Menschen anwachsen ließen, auch viele, die einfach vor dem Bürgerkrieg geflohen waren und keine politischen Prioritä­ten hatten. Dennoch war der Antikommunismus in der britischen Kolonie nicht nur in den Kolonial­behörden, sondern auch unter der Bevölkerung seit den 1950er Jahren stark ausgeprägt. Auch dar­aus erklärt es sich, dass Hongkongs antikoloniale Revolte, die sich 1967 aus Protesten gegen die un­zumutbaren Arbeitsbedingungen vor Ort entwickelte, nicht genügend Unterstützung fand, um er­folgreich zu sein: Lieber London als Beijing — das stand nicht nur für Industrielle wie den späteren Milliardär Li Ka-shing, in dessen Plastikblumenfabrik die Revolte mit Arbeitsprotesten begann, fest. Li ist bis heute der reichste Mensch in Hongkong.

Nach der Niederschlagung des antikolonialen Aufstands kam in Hongkong zum Antikommunismus eine zweite gegen Beijing gerichtete Komponente hinzu: die Herausbildung einer spezifischen kul­turellen Identität. Cantopop etwa, gesungen nicht in Mandarin, sondern in der Sprache Südchinas, Kantonesisch, ist ein Beispiel dafür, wie sich chinesische und westliche Elemente seit den frühen 1970er Jahren in Hongkong zu etwas Neuem verbanden. Die britische Kolonialmacht stand der Ent­wicklung positiv und durchaus auch fördernd gegenüber; schließlich half die Stärkung einer eigen­ständigen identitären Kultur, die bestehende Kluft zwischen Hongkong und der Volksrepublik weiter zu vertiefen. Dies schien vor allem mit Blick auf die langsam, aber sicher sich abzeichnende Entkolonialisierung recht hilfreich zu sein, um den Londoner Einfluss so weit wie möglich zu festi­gen.

Der „Pate“ der „localists“

Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen hat sich seit Mitte der 2000er Jahre die Bewegung der „localists“ formiert. Erste Kristallisationspunkte waren Proteste gegen die Zerstörung historischer Gebäude und Plätze, die profitablen Investitionsprojekten weichen sollten. Dagegen wehrten sich unter anderem linksliberale und linke Milieus. Auf die Frage, ob man wirklich Kolonialbauten schützen müsse — Queen’s Pier etwa, das Anfang 2008 abgerissen wurde, diente früher als Schau­platz für den feierlichen Empfang der in London eingesetzten Kolonialgouverneure –, hörte man immer wieder, die Anlandestelle habe auch im Alltag der Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt; sie sei Teil einer spezifischen Hongkonger Kultur. Es folgten Proteste gegen den Abriss kleiner Dör­fer beim Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke aus Hongkong in die angrenzende Volksrepublik-Metropole Shenzhen. Sie scheiterten — wie zuvor der Widerstand gegen den Abriss der alten Kolo­nialbauten.

Das anhaltende Scheitern hat unter den „localists“ zu einer politischen Kräfteverschiebung geführt. Während der linke Flügel der Bewegung geschwächt und bald ganz an den Rand gedrängt wurde, erstarkte ihr rechter, schlicht antichinesischer Teil. Deutlich zeigte dies der überraschende Erfolg, den der Publizist Chin Wan im Jahr 2011 mit seinem Buch „Über den Stadtstaat Hongkong“ erziel­te. Darin sprach sich Chin für die Gründung eines autonomen Stadtstaates im Rahmen einer Konfö­deration mit der Volksrepublik, Taiwan und der ehemaligen portugiesischen Kolonie Macao aus. Hongkong solle sich, forderte er, auf der Basis einer britisch-chinesischen Mischkultur gegen eine „Kolonisierung“ durch die Volksrepublik wehren. Bedeutende Agenten dieser angeblichen „Koloni­sierung“ seien Übersiedler und Touristen vom Festland, die — so behauptete Chin 2013 im Gespräch mit der South China Morning Post — „lediglich Barbaren unter kommunistischer Kolonialherr­schaft“ seien und deshalb ferngehalten werden müssten. Der Erfolg seines Buches in der damals nach rechts schwenkenden Bewegung hat Chin den Beinamen „Pate der localists“ eingebracht.

Tatsächlich wies das Vorgehen wachsender Teile der „localists“-Bewegung klare Parallelen zu Chins Ansichten auf. Im Februar 2012 sammelten „localists“ über das Internet binnen weniger Tage einen Betrag von 100.000 Hongkong-Dollar — damals um die 10.000 Euro –, um eine ganzseitige Zeitungsanzeige gegen die Anwesenheit von Festlandchinesen in Hongkong zu finanzieren. Bereits damals wurden diese offen als „Heuschrecken“ diffamiert. Im Februar 2014 gingen 100 „localists“ gegen „Heuschrecken“ auf die Straße und forderten Tourist*innen aus der Volksrepublik auf: „Geht zurück nach China!“ Neue Polit-Organisationen mit Namen wie Hongkonger Come First oder Hong Kong Localism Power schossen beinahe wie Pilze aus dem Boden; Hong Kong Localism Power warb explizit für „Widerstand gegen kulturelle Säuberung“ und für die „Trennung zwischen dem Festland und Hongkong“. Im fernen London gründete ein Chin-Wan-Anhänger gar eine Hong Kong Independence Party (HKIP), die bis heute „Selbstbestimmung“ für Hongkong sowie eine Rückkehr der Stadt „in das britische Commonwealth“ verlangt. Kein Wunder, dass einige „loca­lists“ begannen, in aller Öffentlichkeit britische Kolonialflaggen zu schwenken.

„Hong Kong Indigenous“

Zu einer der bekanntesten Organisationen der hart nach rechts driftenden „localists“ wurde die An­fang 2015 gegründete Hong Kong Indigenous. Ausschlaggebend für die Gründung war das Schei­tern der Massenproteste des Jahres 2014 („Regenschirm-Revolution“), die nicht zuletzt freie Wah­len nach westlichem Vorbild gefordert hatten — vergeblich. Die recht jungen Aktivist*innen von Hong Kong Indigenous beschlossen, handfester vorzugehen als 2014, und machten sich zunächst mit Attacken auf Tourist*innen vom chinesischen Festland einen Namen, denen sie vorwarfen, le­diglich Waren zum Weiterverkauf auf dem Festland zu erwerben und mit ihren Shoppingtrips die Preise in Hongkong in die Höhe zu jagen. Rasch gerieten sie dabei in körperliche Auseinanderset­zungen mit der Polizei. Hong Kong Indigenous machte sich nicht nur für die Abspaltung der südchi­nesischen Metropole von der Volksrepublik stark; die Gruppierung übte auch scharfe Kritik an der Einwanderung von Festlandchines*innen. Diese „verwässerten“ Hongkongs kulturelle Identität, hieß es zur Begründung; im Kampf für die eigene Identität aber sei Gewaltlosigkeit fehl am Platz.

Dass es ihnen damit ernst war, demonstrierten Aktivisten von Hong Kong Indigenous etwa am Abend des 8. Februar 2016 im Stadtteil Mong Kok. Damals schritt die Polizei dort gegen Straßen­händler*innen ein, die zum chinesischen Neujahrsfest Fischbällchen und andere traditionelle Spei­sen verkauften. Hong Kong Indigenous-Aktivisten nahmen das zum Anlass, sich als Verteidiger der Hongkonger Tradition zu inszenieren und die Straßenhändler gegen die Polizei in Schutz zu neh­men, handfest, mit Flaschen, Steinen und anderen Wurfgeräten. Beobachter*innen sprachen von den gewalttätigsten Auseinandersetzungen seit der antikolonialen Revolte des Jahres 1967.

Dass es dabei gar nicht so sehr um die Straßenhändler*innen ging, sondern um Politik, das zeigten wieder­holte Rufe der Aktivist*innen nach einer Abspaltung Hongkongs von der Volksrepublik. Für Über­raschung sorgte wenig später, dass am 28. Februar bei Nachwahlen in einem Teil Hongkongs Ed­ward Leung als Kandidat von Hong Kong Indigenous aus dem Stand 15,4 Prozent der Stimmen er­zielen konnte. Laut Umfragen lag die Zustimmung zu den „localists“ damals in ganz Hongkong durchschnittlich bei acht bis neun Prozent; Experten wie Francis Lee Lap-fung von der Chinese University of Hong Kong wiesen dabei darauf hin, dass dies vor allem auf massiven Sympathien un­ter den 18- bis 30-Jährigen beruhte: Unter diesen, berichtete Lee im November 2016, verzeichneten die „localists“ erstaunliche Zustimmungsraten von bis zu 40 Prozent.

Unter der Kolonialflagge

Alles, was die überwiegend jungen rechten „localists“ auszeichnet, konnte man bei den Protesten in Hongkong im Verlauf des vergangenen Jahres beobachten: Gewalttätigkeit gegenüber der Polizei, offenen Hass und Gewalt gegen Festlandchines*innen, teilweise demonstrativ zur Schau gestellte Sympathien für die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien. Polizisten wurden mit Brandsätzen beworfen und mit Pfeilen beschossen; durch einen Steinwurf kam ein unbeteiligter 70-Jähriger zu Tode. Als Demonstrant*innen am 1. Juli das Parlament stürmten, zerstörten sie nicht nur die Ein­richtung, sondern hissten auch die britische Kolonialflagge.

Am 11. November übergoss ein Ver­mummter einen Mann, der einer Gruppe von lautstark „Wir sind Hongkonger!“ skandierenden De­monstrant*innen widersprach, mit einer brennbaren Flüssigkeit und steckte ihn in Brand; das Opfer wurde in kritischem Zustand in die Intensivstation eingeliefert. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Ge­walt auch Hongkongs Universitäten erreicht und dazu geführt, dass Studierende vom Festland gleich in Scharen die Flucht ergriffen. Angriffe auf festlandchinesische Kommiliton*innen und die Verwüstung der Büros von Professor*innen aus der Volksrepublik hatten Panik geschürt.

An der Chinese University of Hong Kong hatte bereits am 18. September ein Vorfall Entsetzen aus­gelöst. In der Hochschule hatten Demonstrant*innen, wie die South China Morning Post berichtete, ein Plakat aufgehängt, das den Beginn des japanischen Überfalls auf Nordostchina im Jahr 1931 pries — an dessen 88. Jahrestag. Es sei das erste Mal, kommentierte ein chinesischer Journalist auf Twitter, „dass ich Menschen sehe, die für Demokratie kämpfen, indem sie die Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs verherrlichen“. Die verbreitete Beschimpfung von Festlandchines*innen mit dem alten rassistischen Ausdruck der japanischen Besatzer, „Shina dogs“, kam nicht von ungefähr.

Agitation im Ausland

Hongkongs „localists“ beschränken ihre Aktivitäten nicht auf die südchinesische Metropole; sie sind längst auch in deren global verstreuter Diaspora präsent. Es gibt Auslandsorganisationen wie die in London ansässige Hong Kong Independence Party. In der britischen Hauptstadt attackierten rund 30 Demonstrant*innen am 15. November Hongkongs Justizministerin Teresa Cheng, die sich dort zu einem Arbeitsbesuch aufhielt. Cheng wurde zu Boden gestoßen und am Arm verletzt.

Natürlich sind nicht alle Hongkong­er*innen Anhänger*innen der Opposition gegen Beijing; deren erdrutschartiger Sieg bei den Lokalwahlen am 24. November, bei denen sie in 17 der 18 Distrikte Hongkongs die Mehrheit erlangen konnte, täuscht wegen des Mehrheitswahlrechts nach britischem Modell darüber hinweg, dass selbst in der stark aufgeheizten aktuellen Stimmung immer noch mehr als 42 Prozent für eine Pro-Beijing-Partei votierten. Und: Nicht alle Gegner*­in­nen der Volksrepublik sind „localists“. Diese sind aber besonders unter den jüngeren Aktivist*innen stark präsent.

Politisch folgenreich ist, dass Deutschland führenden Aktivisten der „localists“ inzwischen Asyl ge­währt. So genießen zwei Männer, die wegen ihrer Beteiligung an Angriffen auf Polizisten am 8. Fe­bruar 2016 in Mong Kok inhaftiert worden waren, dann gegen Kaution freikamen und sich Ende 2017 ins Ausland absetzen konnten, seit Mai 2018 in der Bundesrepublik Flüchtlingsschutz. Ray Wong und Alan Li waren führende Mitglieder von Hong Kong Indigenous. Für Hongkongs Justiz ist die Gewährung von Asyl für Wong und Li ein krasser Affront; schließlich wird ihr damit unter­stellt, die Strafverfahren, die sie gegen die beiden Aktivisten wegen ihrer Beteiligung an Angriffen auf Polizisten eingeleitet hatte, seien Unrecht.

Der Vorgang ist umso bemerkenswerter, als die Bun­desrepublik ihrerseits etwa beim Hamburger G20-Gipfel exemplarisch gezeigt hat, wie sie mit Pro­testen umgeht. Zumindest Wong ist von Deutschland aus weiterhin politisch aktiv: Glaubt man Presseberichten, dann wurde im August 2019 auf einer Kundgebung in Hongkong eine Videobot­schaft von ihm gezeigt. Er trete, teilte er mit, weiter für die Bewahrung von Hongkongs identitärer Kultur ein — nun eben im deutschen Exil.

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