„Geburtsstunde des deutschen Faschismus“?
Rechter Paramilitarismus während des „Kapp-Lüttwitz-Putsches“
Nachdem es in der letzten Ausgabe der LOTTA schwerpunktmäßig um die aufständischen Kämpfe der organisierten Arbeiter*innenbewegung im Zusammenhang mit der „Märzrevolution“ im rheinisch-westfälischen Industriegebiet ging, beschäftigt sich der zweite Teil der dreiteiligen Artikelserie mit den „Reichswehr“- und „Freikorps“-Einheiten, die gegen die „Märzrevolution“ eingesetzt wurden.
Rund um den Bahnhof von Wetter spielten sich am Nachmittag des 15. März 1920 bürgerkriegsähnliche Szenen ab. Angehörige einer Kompanie des aus Münster angerückten Freikorps Lichtschlag hatten sich im Bahnhofsgebäude verschanzt und lieferten sich ein Feuergefecht mit Arbeiter*innen, die den Einmarsch dieser im Ruhrgebiet bereits berüchtigten Truppe zu verhindern versuchten. Insgesamt elf Freikorps-Angehörige und eine unbekannte zweistellige Anzahl an Arbeiter*innen kamen ums Leben.
Der Vorfall in Wetter stand in Zusammenhang mit einem Ereignis, das zwei Tage zuvor die Republik erschüttert hatte. In Berlin hatten am 13. März extrem rechte Kreise um den Verwaltungsbeamten Wolfgang Kapp und den Reichswehrgeneral Walther von Lüttwitz gegen die demokratisch gewählte Regierung (bestehend aus SPD, Zentrum und DDP) geputscht und diese für abgesetzt erklärt. Kapp rief sich selbst zum Reichskanzler aus und ließ keinen Zweifel daran, ein rechtsautoritäres Regime in Gestalt einer Militärdiktatur errichten zu wollen. Der „Kapp-Lüttwitz-Putsch“ brach nach wenigen Tagen zusammen, nachdem die aus Berlin geflohene Reichsregierung zu einem Generalstreik aufgerufen hatte, an dem sich rund 12 Millionen Arbeiter*innen, Angestellte und Beamt*innen beteiligten.
„Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“
Die Reichswehr-Führung indessen weigerte sich, gegen die Putschist*innen vorzugehen. „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“ verkündete Truppenamtschef Hans von Seeckt lapidar. Zudem bekannten sich zahlreiche „Freikorps“-Verbände, die der Reichswehr angegliedert waren, zu Kapp und seiner antidemokratischen Agenda. So auch das Freikorps Lichtschlag, das sich am 15. März den Arbeiter*innen in Wetter hatte geschlagen geben müssen. Ursprünglich war die Kompanie des „Freikorps“ von Oskar von Watter, in Münster residierender Kommandierender General des Wehrkreises VI, in Marsch gesetzt worden, um gegen eine in der Stadt angeblich ausgerufene „Räterepublik“ vorzugehen — ein Gerücht, das nicht der Wahrheit entsprach.
Vielmehr hatte sich in Wetter, wie in anderen Ruhrgebietsstädten, eine Arbeiter*innenwehr konstituiert, um die verfassungsmäßige Ordnung gegen die Putschist*innen zu verteidigen — und zu jenen waren aus Sicht der Arbeiter*innen die Angehörigen des „Freikorps“ zu zählen, hatten diese doch bei ihrem Eintreffen in Wetter die schwarz-weiß-rote Fahne, das Erkennungszeichen der extrem rechten Republikfeinde gehisst. Der Aufforderung, sich von Kapp und Lüttwitz zu distanzieren, war ihr Kompanieführer, Otto Hasenclever, nicht nachgekommen. Vielmehr erklärte er, die Haltung des Kommandierenden Generals in Münster zu vertreten, der jedoch auf „dem Boden von Lüttwitz“ stehe. Tatsächlich hatte sich Watter, obgleich er mit den Putschist*innen sympathisierte, zu diesem Zeitpunkt noch nicht positioniert. Wie zahlreiche weitere Reichswehrkommandeure wartete er ab, bekannte sich aber auch nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung. Jedoch gingen unter dem Vorwand, für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen, Reichswehr und „Freikorps“ überall im Reich gegen die Arbeiter*innenbewegung vor. An zahlreichen dieser Schauplätze kam es zu Gewalt und Massakern, für die überwiegend Militär- und Polizeiverbände die Verantwortung trugen.
Facetten der Konterrevolution
Der Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger resümiert, dass das Wüten der (para)militärischen Verbände im Kontext der „Märzrevolution“ 1920 als die „Geburtsstunde des deutschen Faschismus“ bezeichnet werden könne. Freilich: Die nationalsozialistische Bewegung steckte noch in ihren Anfängen, bildete lediglich eine der Strömungen im Spektrum der extremen Rechten und spielte im Zusammenhang mit dem Geschehen des „Kapp-Lüttwitz-Putsches“ keine Rolle. Den Protagonist*innen des Staatsstreiches im Frühjahr 1920 fehlte wiederum der revolutionäre Gestus, mit dem sich die faschistische Bewegung in Italien oder der NS zu inszenieren versuchten. Kapp, Lüttwitz und die anderen Putschist*innen setzten nicht auf eine völkisch-nationalistische „Mobilisierung der Leidenschaften“ (Paxton), sondern bauten auf staatliche Strukturen wie Polizei und Militär, um die Republik zu beseitigen. Ebensowenig entwickelten sie Vorstellungen über Gestalt und Verfasstheit eines faschistischen oder nationalsozialistischen Staats- und Gemeinwesens. Der staatspolitische Horizont der Putschist*innen reichte kaum über die Errichtung einer Militärdiktatur hinaus.
Dennoch spricht einiges dafür, das Geschehen als eine „Geburtsstunde des deutschen Faschismus“ zu beschreiben. Der Umsturzversuch bildet einen Kristallisationspunkt, an dem sich in der Rückschau zum einen einige der Aufstiegs- und Erfolgsbedingungen des NS herausarbeiten lassen. Zum anderen manifestierte sich hier besonders im gewaltförmigen Agieren der „Freikorps“ ein paramilitärisches Politikverständnis, das für die politische Praxis des NS prägenden Einfluss haben sollte.
Eine Grundposition, die die Putschist*innen mit dem Nationalsozialismus, aber auch mit anderen Strömungen der extremen Rechten teilten und die als Bindeglied bis weit ins bürgerliche Spektrum fungierte, bildete die fundamentale Ablehnung der Weimarer Demokratie und ihrer als „Novemberverbrecher“ geschmähten Protagonist*innen, vor allem aus den Reihen der Sozialdemokratie. Obgleich besonders Reichspräsident Friedrich Ebert, der nach eigenem Bekunden die „Revolution hasste wie die Sünde“ und sein Reichswehrminister Gustav Noske seit November 1918 im Verbund mit den traditionellen Eliten in Militär und Kapital alles unternommen hatten, um weitergehende sozial-, wirtschafts- und demokratiepolitische Forderungen von Arbeiter*innen, Matrosen und Soldaten mit Gewalt abzuwürgen, arbeiteten ihre Gegner*innen von Beginn an konsequent an deren Sturz und an der Beseitigung der Republik.
Erich Ludendorff, während der letzten beiden Jahre des Ersten Weltkriegs faktischer Militärdiktator und nach dem November 1918 eine schillernde Figur der extremen Rechten postulierte in einem Brief an seine Frau Mathilde: „Die größte Dummheit der Revolutionäre war es, dass sie uns alle am Leben ließen. Na, ich komme einmal wieder zur Macht, dann gibt’s kein Pardon.“ Als am Morgen des 13. März 1920 die Marine-Brigade Ehrhardt das Berliner Regierungsviertel besetzte und an Kapp und Lüttwitz vorbei durch das Brandenburger Tor paradierte, wohnte auch Ludendorff dem Aufmarsch bei. Die rechten Feinde der Republik waren gut vernetzt — auch wenn der Putsch größtenteils chaotisch verlief. Die Legitimität einer Konterrevolution stand nicht zur Debatte, umstritten war lediglich der Zeitpunkt.
Bürgerliche Mobilmachung gegen die Republik
An zahlreichen Orten entstanden seit Ende 1918 „Bürgerausschüsse“, gleichsam als bürgerliche Sammlungsbewegungen gegen Rätebewegung und Sozialdemokratie, in denen antidemokratische Einstellungen weit verbreitet waren. Dem im November 1918 in Münster gegründeten „Bürgerausschuss“ gehörten alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Organisationen der Stadt an — mit Ausnahme der Sozialdemokratie. Zudem konstituierten sich zahllose überparteiliche, antisozialistisch ausgerichtete Lobby- und Propagandaorganisationen, wie beispielsweise die Antibolschewistische Liga, die über ein Netz an Ortsgruppen verfügte. In Münster waren es nicht zuletzt Studierende, die als Versammlungsredner*innen in Erscheinung traten, aber auch in Kooperation mit dem VII. Armeekorps Schulungsveranstaltungen für Reichswehrangehörige durchführten, finanziell unterstützt von der rheinisch-westfälischen Industrie.
Studierende in Münster organisierten sich zudem in der Akademischen Wehr, einem antibolschewistischen studentischen „Freikorps“ mit bis zu 750 Mitgliedern. Im Frühjahr 1920 kam die Formation, in der es offene Sympathien für die Putschisten gab, im nördlichen Ruhrgebiet gegen Arbeiter*innen zum Einsatz. Nach der Auflösung der Akademischen Wehr im April 1920 schlossen sich zahlreiche ehemalige Angehörige dem extrem rechten Stahlhelm oder dem „Freikorps“ unter der Führung von Franz Pfeffer von Salomon an, der später eine bedeutende Rolle in der westfälischen NSDAP spielen sollte. Hubert Naendrup, Universitätsprofessor und Gründer der Akademischen Wehr avancierte 1933 zum ersten nationalsozialistischen Rektor der Universität. Es sind nicht nur diese Karrieren, die der These von der im „Kapp-Lüttwitz-Putsch“ zu suchenden „Geburtsstunde des deutschen Faschismus“ Plausibilität verleihen. Vor allem war es die Praxis des Paramilitarismus selbst, die extrem rechten weltanschaulichen Grundpositionen eine neue radikalisierte und gewaltaffine Ausdrucksform verlieh.
Performative Gewalt
Im Frühjahr 1920 rückten aus ganz Deutschland Reichswehr- und „Freikorps“-Verbände in das rheinisch-westfälische Industriegebiet ein, um den Widerstand von Arbeiter*innenwehren und Roter Ruhrarmee zu brechen. Insgesamt verfügte General Watter als Oberbefehlshaber über eine Streitmacht von rund 30.000 Mann, von denen nach Schätzungen von Klaus Gietinger etwa 80 Prozent mit den Putschist*innen sympathisierten. Der Historiker Hagen Schulze bilanzierte zutreffend, aber nicht ohne apologetischen Unterton: „Was […] in der letzten Märzwoche in Richtung Ruhrgebiet rollte, war die Auslese der ganzen deutschen Freikorpsbewegung, die alles andere als verfassungstreu war und […] kampffähig wie nie zuvor.“ An dem Aufmarsch beteiligt waren außer dem Freikorps Lichtschlag, der Akademischen Wehr Münster und zahlreichen anderen Einheiten auch die Division Epp, bestehend aus dem Freikorps Epp und dem Freikorps Oberland, die bereits an der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik mitgewirkt hatten, das Freikorps Roßbach, das einen berüchtigten Ruf durch seine brutalen Einsätze im Baltikum erworben hatte und die Marine-Brigade von Loewenfeld, die allesamt auf der Seite von Kapp und Lüttwitz gestanden hatten.
Die paramilitärischen Verbände rekrutierten sich zum einen aus ehemaligen Soldaten, die vielfach durch die Fronterfahrungen des Ersten Weltkriegs einen Brutalisierungsprozess durchlaufen hatten. Zum anderen traten zahlreiche jüngere Männer, Angehörige der so genannten „Kriegsjugendgeneration“ den „Freikorps“ bei. Sie kannten den Krieg nicht aus eigenem Erleben, versuchten fehlende Erfahrung jedoch mit einem höheren Maß an Brutalität wettzumachen. Die „Freikorps“ waren durch enge Gruppenidentität und eine starke Führerorientierung geprägt. Ihre Mitglieder begriffen sich vielfach als idealistische Avantgarde, die extrem antisozialistisch ausgerichtet waren und für die Erneuerung der Nation zu kämpfen glaubten. In diesem Sinne stilisierten sich die „Freikorps“-Angehörigen häufig zu „politischen Soldaten“ — ein Aspekt, der neben der starken Führerorientierung auch das Selbstverständnis der NS-Bewegung, nicht zuletzt ihrer Wehrverbände SA und SS prägen sollte. Von zentraler Bedeutung als sinn- und gemeinschaftsstiftendes Element sowohl für die „Freikorps“ wie auch für Faschismus und Nationalsozialismus war zudem die Praxis der Gewalt, die nicht lediglich als Mittel zum Zweck betrachtet wurde, sondern als konstitutiv für die eigene Existenz und die postulierte „nationale Wiedergeburt“ galt. Gewalt erhielt in dieser Sichtweise eine „reinigende“ Aufladung. Deren Inszenierung ersetzte politische Programme, beschränkten diese sich doch meist auf Polemiken gegen die „Novemberverbrecher“ und das „Diktat von Versailles“, während „Volk“, „Heimat“ und „Nation“ ebenso abstrakt wie verheißungsvoll als identitätsstiftende Begriffe beschworen wurden. Gewaltpraktiken paramilitärischer Verbände hatten demnach häufig einen performativen Charakter, was beispielsweise durch das öffentliche Ausstellen ermordeter politischer Gegner*innen oder der Verstümmelung ihrer Leichen zum Ausdruck kam. Indessen waren die Gewaltpraktiken der „Freikorps“ nicht wahllos oder willkürlich. Sie folgten einem ideologischen Muster, das sämtliche Grundpositionen der extremen Rechten aufwies — und diese durch exzesshafte Brutalität weiter zuspitzte.
Wegbereiter des NS
Als exemplarisch für die weltanschauliche Grundierung paramilitärischer Gewalt kann der Tagesbefehl des württembergischen General Otto Haas gelten, mit dem er am 1. April 1920 die Brigade Epp mit dem Vormarsch gegen die Rote Ruhrarmee in der Nähe von Hamm beauftragte: „Uns gegenüber steht der ungeordnete Haufen jener Elemente, die nicht bodenständig sind, sondern durch die Lockungen der großstädtischen Industrie in den Ruhrbezirk gezogen sind. Einen besonders großen Anteil stellen Nichtdeutsche. Vor allem die in großer Zahl eingeströmten polnisch-russischen Massen, […] die aus ihrem Osten das Gift des Bolschewismus mitgebracht haben.“ Unverkennbar tritt in dem Befehl ein massiver Antibolschewismus zu Tage, der zudem rassistisch aufgeladen wurde, gelten Pol*innen und Russ*innen doch als dessen Protagonist*innen. Diese erscheinen als gleichsam unheimliche und heimtückische „Massen“, die „Gift“ ins deutsche Volk tragen würden. Nicht selten wiesen diese Zuschreibungen auch eine dezidiert antisemitische Ausrichtung auf, wurden Jüdinnen und Juden doch häufig als Protagonist*innen des „Bolschewismus“ diskreditiert. Das „deutsche Volk“ wird in dieser Sichtweise als „völkische“ Einheit konstruiert. Einige „Freikorps“, wie etwa die Marine-Brigade Erhardt und die Marine-Brigade von Loewenfeld brachten ihre völkische Gesinnung auch durch das Hakenkreuz zum Ausdruck, das sie gut sichtbar auf ihre Stahlhelme gepinselt hatten. Die in dem Befehl aufscheinende Aversionen gegen „Elemente, die nicht bodenständig sind“, enthalten aber auch eine kulturpessimistische Ausrichtung, die sich gegen die vermeintlich dekadenten „Lockungen der großstädtischen Industrie“ wendet, worunter die Akteure des Paramilitarismus plurale und emanzipatorische Gesellschafts- und Lebensentwürfe verstanden. Insofern waren deren weltanschauliche Grundpositionen nicht zuletzt von einem aggressiven Antifeminismus geprägt, der sich in teilweise exzesshafter Gewalt gegen Frauen entlud, die — als „Rote Flintenweiber“ denunziert — verdächtigt wurden, an den revolutionären Aktionen beteiligt gewesen zu sein. Gleichzeitig zeichnete Haas in seinem Befehl das elitäre Bild des disziplinierten, von „Pflichterfüllung“ geleiteten und angesichts der zu bekämpfenden Verhältnisse auch „politischen“ Soldaten, in dessen Händen die „Rettung“ Deutschlands liege.
Antibolschewismus, Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, die Verachtung pluraler Gesellschaftsentwürfe und völkischer Nationalismus, gekoppelt mit der Vorstellung eines politischen Soldatentums, in dem eine permanente Gewaltpraxis „nach innen“ sinn- und gemeinschaftsstiftend wirkte und „nach außen“ die Botschaft unversöhnlicher Feindschaft transportierte — das waren die Kernbestandteile sowohl des rechten Paramilitarismus als auch der faschistischen Bewegungen und des NS. In dieser Verknüpfung von Ideologie und gewaltförmiger Praxis entstand tatsächlich ein neues extrem rechtes Politikverständnis, das die sukzessive Auflösung der „Freikorps“ überdauerte, jedoch in Wehrverbänden wie dem Stahlhelm, der Organisation Escherich oder der rechtsterroristischen Organisation Consul fortbestand. Seine endgültige Zuspitzung sollte dieses Politikverständnis jedoch in der präzedenzlosen Mordpolitik des NS finden.