Irgendwo in Hessen (II)
Hohenstein im Rheingau-Taunus-Kreis
Der Neonazi Stephan Ernst wuchs im südhessischen Hohenstein auf und verübte in seiner Jugendzeit hier seine ersten rassistischen Anschläge. Damit war er nicht alleine: In der Gemeinde wurden oft Menschen, die als „Fremde“ wahrgenommen wurden, ausgegrenzt und angegriffen. Viel habe sich seit den frühen 1990er Jahren daran nicht geändert, berichtet eine ehemalige Hohensteinerin.
Hohenstein liegt unweit der hessischen Grenze zu Rheinland-Pfalz. Außergewöhnliches gibt es über die 6.000-Menschen-Gemeinde kaum zu erzählen. 1190 wurde die Burg Hohenstein errichtet, etwa zur gleichen Zeit wurde der heutige Ortsteil Strinz-Margarethä erstmals erwähnt. Im Jahr 1914 wurde der Asteroid „Hohensteina“ nach dem Heimatort der Frau seines Entdeckers benannt. Über hundert Jahre später wurde der Ort als jener bekannt, in dem Stephan Ernst aufwuchs. Dieser soll den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet haben (siehe LOTTA #75, S. 28 ff.).
Ernsts Jugendzeit
In einer Nachbargemeinde verübte der damals 15-jährige Stephan Ernst 1989 seinen ersten Anschlag. Im Aarbergen-Michelbach zündete er in einem mehrheitlich von Menschen türkischer Herkunft bewohnten Haus einen Kanister mit fünf Litern Benzin an. Verletzt wurde soweit bekannt glücklicherweise niemand. 1992 griff er am Wiesbadener Hauptbahnhof eine Person an, die er als „Ausländer“ und Homosexuellen wahrnahm. Nach mehreren Messerstichen überlebte der Mann nur durch eine Notoperation.
1993 parkte Ernst in Hohenheim-Steckenroth einen PKW zwischen Wohncontainern, die von geflüchteten Menschen bewohnt wurden. Er setzte den Wagen, auf dessen Rücksitz er eine selbstgebastelte Rohrbombe deponiert hatte, in Brand. Diese sollte offenbar während der Löscharbeiten detonieren. Die Bewohner*innen löschten das Feuer jedoch rechtzeitig, es wurde niemand verletzt.
Reaktionen sollen Ernsts Anschläge kaum hervorgerufen haben, es „gab keine Empörung, kein Umdenken, kein Bewusstsein. Im Gegenteil: Es wurde relativiert, verharmlost und — wie jetzt auch — einer einzelnen Person zugeschrieben“, so Julia Vogt, die ebenfalls in Hohenstein aufwuchs, in einem Gespräch mit LOTTA. In der Lokalpresse wurde Ernst nach dem Anschlag 1993 zum „Hobbybastler“ verklärt, obwohl sein rassistisches Motiv bekannt war. In der extremen Rechten organisiert war er nach jetzigem Kenntnisstand zu dieser Zeit nicht. Seine Anschläge waren aber nicht die einzigen in der Region.
Vor allem zwischen 1989 und 1993 wurden auch im angrenzenden Main-Taunus-Kreis mehrmals geflüchtete Menschen und deren Unterkünfte Ziel von rassistischen Anschlägen. So sollen im Oktober 1989 Neonazis der Kameradschaft Taunusfront die Scheiben einer Unterkunft von geflüchteten Menschen in Bad Homburg eingeschlagen haben. Vor allem aber war die Unterkunft in Schwalbach immer wieder betroffen, alleine im April 1991 wurden dort innerhalb einer Woche drei Brandanschläge verübt.
„Wer nicht mitmachte, wurde ausgegrenzt“
Eine Anbindung an die organisierte Neonazi-Szene gab es wohl auch in den Jahren danach nicht. Es sollen nur lose Zusammenhänge gewesen sein, in denen die Leute kamen und wieder gingen. Die Jugendclubs in der Region seien aber, so Julia Vogt, von rechten Jugendlichen unterwandert gewesen, hier sei regelmäßig RechtsRock gehört und vereinzelt auch Material der NPD-Jugend JN verteilt worden. Vogt betont: „Wer nicht mitmachte, wurde ausgegrenzt. Alternative Angebote für junge Menschen wurden angegriffen.“
So auch 2006, als ein „Konzert gegen Rechts“ organisiert wurde. Das Konzert sei von etwa 30 Jugendlichen, die mit Traktoren vorfuhren, mit Flaschen angegriffen worden. Die Polizei habe eine Hundestaffel zur Verstärkung rufen müssen, um die rechten Jugendlichen zu verjagen. Später hätten diese noch versucht, ein Auto von Konzertbesucher*innen von der Straße zu drängen. Die Ermittlungen wegen der Vorfälle seien aber wohl eingestellt worden. An den beschriebenen Zuständen habe sich auch bis heute nichts Wesentliches geändert.
Fährt man heute durch die Gemeindeteile, bestätigt sich dieser Eindruck. An einem Windrad ist ein gesprühtes Hakenkreuz sichtbar, im Ortsteil Steckenroth ein weiteres in einen Baum eingeritzt und ein „White Power“-Symbol an einen Stromkasten geschmiert. In fast allen Gemeindeteilen sind teils ausgeblichene, teils recht neue neonazistische Aufkleber oder gesprühte Tags mit Botschaften wie „NS-Zone“, „FCK AFA“ und „88“ zu sehen.
Reaktionäre Dorfgemeinschaft
Den Rückhalt, den Ernst gehabt habe, erklärt Julia Vogt mit der Stimmung vor Ort. Diese sei wie in vielen anderen Dörfern und Kleinstädten geprägt von einer Ablehnung gegen „Fremde“: sowohl zugezogene, als auch geflüchtete Menschen. Als Anfang der 1990 Jahre eine Wohncontainer-Unterkunft für geflüchtete Menschen in Steckenroth eingerichtet wurde, dauerte es nur wenige Tage, bis diese mit Hakenkreuzen und weiteren NS-Symbolen beschmiert war.
An einer weiteren Unterkunft am Rand von Hohenstein, in der kurdische Geflüchtete in kleinen Baracken wohnten, wurde regelmäßig randaliert. Zeitweise wurde auch die Wasserversorgung unterbrochen. Kinder wurden auf Spielplätzen bespuckt und Ältere sogar angegriffen, erzählt Julia Vogt. Auch Menschen, die sich engagierten und die mit den geflüchteten Menschen arbeiteten, bekamen die Ablehnung zu spüren. Sie wurden beispielsweise massiv beschimpft und in einigen Läden nicht mehr bedient. Mehrfach war das Auto einer Familie Ziel von Angriffen, es wurde zerkratzt, Reifen wurden aufgeschlitzt und Scheiben eingeschlagen. Ein Sommerfest, das „Zugezogene“ mit geflüchteten Menschen organisiert hatten, wurde von niemandem aus dem Ort besucht. Vielmehr waren mittlerweile im gesamten Ort Hakenkreuze gesprüht.
Rechte Lebenswelt
Hohenstein kann exemplarisch gesehen werden. Gerade in vielen kleineren Gemeinden wirken sich Alltagsrassismus, Ablehnung gegen alles „Fremde“ sowie eine Wagenburgmentalität zu einer Stimmung aus, in der Neonazis Akzeptanz oder in einem gewissen Maß Sympathie entgegengebracht wird. Die Weltbilder unterscheiden sich oft ohnehin nicht wesentlich. Dies ist auch in anderen Regionen Hessens wiederzufinden, sei es im Vogelsberg (vgl. LOTTA #74, S. 33) oder im Main-Kinzig-Kreis, wo in Wächtersbach ein Rassist in einer Dorfkneipe einen rassistischen Mordanschlag ankündigte und — ohne das jemand intervenierte — seine Ankündigung auch in die Tat umsetzte (vgl. LOTTA #76, S. 6).
Ein derartiges Klima mag auch Stephan Ernst das Bewusstsein gegeben haben, dass viele zwar nicht selbst tätig werden, aber sein Handeln richtig finden würden. Während seiner Jugendzeit in Hohenstein war er keine exponierte
Person vor Ort, er war einer von vielen. Erst durch seine Anschläge hob er sich von den anderen ab. Nach der sechsjährigen Haft wegen der Anschläge Anfang der 90er Jahre zog er nach Kassel. 2019 wurde er von der ehemaligen Lebensgefährtin seines mutmaßlichen Mord-Komplizen Markus Hartmann als „Macher“ bezeichnet. Das war er offenbar auch schon in seiner Jugend.