„140 qm gegen das Vergessen“
Trauer, Solidarität & Widerstand
Nach dem rechten Terroranschlag in Hanau, bei dem Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Said Nesar El Hashemi und Vili Viorel Păun aus rassistischen Motiven getötet wurden, haben viele Menschen Angst, trauern und sind wütend.
Viele Menschen gehen in den Tagen nach der Tat auf die Straße, fordern mehr Aufmerksamkeit für Rassismus und rechten Terror, kritisieren Ignoranz und Untätigkeit. Es braucht Raum für Trauer, aber auch für politische Forderungen, Protest, Widerstand.
Gegen das Vergessen hat die Initiative 19. Februar Hanau einen Ort geschaffen, einen Raum des Vertrauens und der Solidarität. Dieser Raum schafft die Möglichkeit unterschiedliche Perspektiven und Geschichten sichtbar zu machen und den Forderungen nach lückenloser Aufklärung der Tat, politischen Konsequenzen, Gerechtigkeit und Unterstützung auch ganz praktisch Ausdruck zu verleihen.
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass rechte Gewalt immer auch eine Botschaftstat ist und sich nicht nur gegen die direkt Betroffenen, sondern auch gegen (vermeintliche) Angehörige der Gruppen, gegen die die Tat gerichtet war, richtet, ist es ein großer Verdienst der Initiative, die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen „Erinnern“ und „Vergessen“ in der rassistischen Mehrheitsgesellschaft verhandelt werden, infrage zu stellen.
Neben der Errichtung eines Denkmals fordert die Initiative, das Leid der Familien ernst zu nehmen. Die Initiative verweist darauf, dass die Erinnerung umkämpft ist: „Heutzutage ist es bereits ein Erfolg, dass die Tat als das anerkannt wird, was sie war: purer Rassismus. Kein verwirrter Einzeltäter. Wie viele Hinterbliebene mussten selbst Jahrzehnte um diese Benennung kämpfen! Doch das reicht uns nicht. Wir wollen Taten sehen. Wir wollen, dass Hanau keine Station von vielen ist, sondern die Endstation.“
Der Raum gegenüber einem der Tatorte ist auch ein Raum der Anerkennung. Es gelingt Angehörigen, Freund_innen und Aktivist_innen, Möglichkeiten zu finden, auch in Pandemie-Zeiten immer wieder auf die Virulenz rechten Terrors aufmerksam zu machen und der Ermordeten zu gedenken. Am 19. eines jeden Monats finden Aktivitäten in Hanau statt, die an das Geschehene erinnern, aber immer auch darauf aufmerksam machen, dass es nicht um eine einzelne, vergangene, individuelle Tat geht. Gedenken bedeutet hier auch: Trauerarbeit, gemeinsame Bewältigung von Herausforderungen, Empowerment, politische Forderungen, Kritik deutscher Zustände.
Für diesen Schwerpunkt hat Seda Ardal von der Initiative 19. Februar Hanau aufgeschrieben, was Gedenken für die Initiative bedeutet, was sie tut, welche Auswirkungen die Corona-Maßnahmen auf ihre Praxis hatten/ haben und was für einen Ort sie mit dem „Laden“ an einem der Tatorte geschaffen hat und weiterentwickeln will:
Die „Initiative 19. Februar Hanau“
Wir sind die Initiative 19. Februar Hanau. Wir haben uns nach dem 19. Februar 2020, nach der Nacht, in der neun junge Menschen bei dem extrem rechten Anschlag in Hanau ermordet worden sind, gegründet.
Auf den darauf folgenden Mahnwachen, Kundgebungen und Trauerfeiern haben wir uns ein Versprechen gegeben: dass die Namen, die Gesichter und die Geschichten der Opfer nicht vergessen werden. Dass wir für eine lückenlose Aufklärung kämpfen werden. Dass wir Gerechtigkeit und Veränderung einfordern werden. Dass wir die Familien, die Betroffenen und Überlebenden nicht alleine lassen. Dass wir verhindern, dass die Tat vom 19. Februar unter den Teppich gekehrt wird.
Wir werden unsere Stimmen erheben und sie dafür einsetzen, dass von Seiten der Regierung endlich Konsequenzen gezogen werden. Dass endlich erkannt wird, dass wir längst nicht mehr nur ein Rassismus-Problem, sondern ein tiefsitzendes rechtes Terror-Problem haben. Wir wollen verhindern, dass es bei folgenloser Betroffenheit und leeren Worten der Politiker*innen bleibt. Wir wollen, dass das rechte Morden beendet wird, rechte Netzwerke aufgedeckt werden und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, erkannt und angegangen wird. Dass erkannt wird, dass es die Betroffenen sind und nicht die Täter, die es zu schützen gilt.
Am 19. Februar 2020 kamen neun unserer Geschwister bei einem extrem rechten Terroranschlag ums Leben: Gökhan, Ferhat, Kaloyan, Mercedes, Sedat, Hamza, Said Nesar, Fatih und Vili. Es ist nicht das erste Mal, dass Deutschland einen rassistischen, extrem rechten Mordanschlag verschuldet. Doch diesmal müssen wir zusätzlich mit einer ganz neuen Herausforderung umgehen: einer Pandemie.
Auswirkungen der Pandemie
Nicht mal vier Wochen lagen zwischen dem Anschlag und den ersten Kontaktbeschränkungen aufgrund der Pandemie. Dies war für viele Angehörige und Freund*innen eine weitere Katastrophe. Bevor überhaupt geeignete Psychotherapeut*innen gefunden werden konnten, wurden die Praxen geschlossen, und man wurde mit Online-Sitzungen vertröstet, die für viele nicht in Frage kamen.
Im JUZ in Kesselstadt sollte eine Gruppen-Therapie für die Jugendlichen, die am 19. Februar 2020 ihre Freunde verloren oder die Tat überlebt hatten, stattfinden. Doch wenige Tage nach der ersten Sitzung schloss das JUZ. Auch hier konnte das virtuelle Therapie-Angebot nicht das leisten, was gebraucht wurde. Es fehlte damit nicht nur an einer adäquaten psychotherapeutische Begleitung, sondern durch die Schließung des JUZ und den Wegfall der sozialpädagogischen Betreuung vor Ort auch eine sehr wichtige Konstante im Alltag der Jugendlichen.
Das Beisammensein und vor allem das gemeinsame Trauern ist in der migrantischen Kultur sehr wichtig. Doch dies war durch die Anti-Corona-Maßnahmen, die im März immer weiter verschärft wurden, für viele kaum noch möglich, da Vereine, Moscheen und weitere Orte der Zusammenkunft bis auf weiteres geschlossen wurden.
Den Ort neu erfinden
Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, unsere Stadt und ihre Menschen nicht im Stich zu lassen. Sie nach dem 19. Februar 2020 nicht einfach der Angst und der Trauer zu überlassen. Den Heumarkt nicht als einen Tatort stehen zu lassen, sondern genau dort, wo die ersten Schüsse in dieser schrecklichen Nacht fielen, neu zu erfinden. Wir haben genau dort einen Ort geschaffen, einen „Laden“ eröffnet, in dem wir aktiv die Erinnerung an sie aufrecht erhalten und gemeinsam mit allen, die sich daran beteiligen möchten, der Solidarität und dem Widerstand einen Raum bieten wollen.
Denn Hanau ist nicht Terror. Hanau ist nicht Rassismus. Hanau ist nicht tot. Wir wollen uns nicht mehr als Opfer sehen, wir wollen nicht mehr schweigen, und schon gar nicht wollen wir uns verstecken.
In diesem Raum kommen Angehörige und Betroffene mit genau demselben Schmerz, demselben Trauma, demselben tiefen, niemals zu füllenden Loch zusammen und ehren ihre Verlorenen in so
vielen verschiedenen Formen — und das alles, ohne ein Wort verlieren zu müssen. Sie fühlen alle dasselbe, sie fragen sich alle dasselbe, sie sehnen sich alle nach demselben: nach ihren Kindern, die sie verloren haben. Der Raum fühlt sich für sie bereits an, wie das neue Zuhause ihrer Kinder. Wenn sie hier sind, sagen sie, sind sie bei ihnen zu Besuch.
Solidarität hat genausoviele Gesichter wie Trauer. Dem wollen wir an jedem 19. eines Monats Ausdruck geben. Gemeinsam mit den Angehörigen und den Freund*innen unserer neun Geschwister denken wir in verschiedenen Formen an sie. Wir besuchen gemeinsam die Tatorte am Heumarkt und in Kesselstadt, legen Blumen nieder und zünden Kerzen an, schweigen gemeinsam und erinnern uns an sie. Wir versammeln uns am Brüder-Grimm-Denkmal am Marktplatz und legen Fotos von ihnen und Briefe für sie nieder.
Wir besuchen sie nicht nur am 19. eines jeden Monats, sondern auch an ihren Geburtstagen auf den verschiedenen Friedhöfen, auf denen sie ruhen. Und am Ende des Tages kommen wir im Laden zusammen und auch wir — für einen kurzen Moment zumindest — zur Ruhe.
Ein Raum des Zusammenbleibens
Am 19. eines jeden Monats erinnern und gedenken wir gemeinsam an unsere neun Verlorenen in verschiedenen Formen. Es hat sich ein Prozess etabliert, in dem wir jeden Monat gemeinsam mit den Angehörigen diesen Tag des Erinnerns planen und umsetzen. Wir haben das Brüder-Grimm-Denkmal am Marktplatz zu einem Gedenkort gestaltet, an dem seit dem 19. Februar Blumen, Kerzen, Fotos, persönliche Gegenstände und andere Gedenkgegenstände der Hanauer Bürger*innen niedergelegt werden. Dieses Denkmal pflegen wir regelmäßig, genauso wie die Tatorte am Heumarkt und in Kesselstadt. An jedem 19. des Monats besuchen wir gemeinsam mit den Angehörigen, den Freund*innen und allen, die sich am Gedenken beteiligen möchten, diese Orte und legen frische Blumen und Kerzen nieder, hängen neue Bilder auf und erinnern uns in Stille an die Getöteten.
Von Monat zu Monat beteiligen sich — auch aufgrund der Lockerungen der Corona-Maßnahmen — immer mehr Menschen an dem Gedenken, und verschiedene Städte tragen ihren Beitrag zum Erinnern bei.
Am 5. Mai haben wir unseren Raum offiziell eröffnet, doch die Tür steht bereits seit dem 1. April allen offen. Wir haben die letzten Wochen mit Schweiß und Tränen, mit den Vätern und Müttern, den Brüdern und Schwestern der Opfer gemeinsam einen Ort errichtet, der nicht nur den Heumarkt, der nicht nur Hanau, sondern uns alle daran erinnern soll, dass unsere Stadt seit dem 19. Februar 2020 nicht mehr dieselbe sein wird.
Es ist nicht nur ein Raum des Zusammenkommens, es ist ein Raum des Zusammenseins und des Zusammenbleibens. Denn wir bleiben. Wir vergessen nicht, wir schauen nicht weg, wir sind da. Einfach da. Zu jeder Zeit und für jede*n.
Für das Bleiben brauchen wir Unterstützung. Wir sind und bleiben unabhängig, und der Erhalt des Ladens ist auf Spenden angewiesen. Wir sind für jede Spende dankbar.