„Die eigene Praxis des Erinnerns hinterfragen“
Interview mit dem Historiker Michael Sturm
Mit dem Historiker Michael Sturm sprachen wir über Entwicklungen antifaschistischer Erinnerungskultur. Anlass bildeten Kontroversen im Spannungsfeld „Erinnern“ und „Vergessen“. Ein Gespräch über marginalisierte Perspektiven, den 8. Mai und die Notwendigkeit, das eigene Handeln selbstkritisch zu reflektieren.
Die „Migrantifa“-Aktivistin Amy Davis konstatierte in der taz vom 7. Mai 2020: „Ich glaube, es ist allen selbst überlassen, wie sie an dem Tag gedenken. Aber für uns gab es keine richtige Befreiung, weil Faschismus nicht Geschichte ist.“ Esther Bejarano forderte als eine der letzten Überlebenden des KZ Auschwitz unterdessen, den 8. Mai zu einem Feiertag zu erklären. Wie kann man unterschiedlichen Perspektiven gerecht werden, ohne die Komplexität aus dem Auge zu verlieren?
Es ist wichtig wahrzunehmen, dass es jenseits der lange Zeit hegemonialen und heute noch vom extrem rechten Spektrum vertretenen Deutungen des 8. Mai als „Tag der Niederlage“ auch unter rassismuskritischen und sich als antifaschistisch begreifenden Akteur*innen vielschichtige Perspektiven auf dieses Datum gibt. Diese sind geprägt von unterschiedlichen biografischen und generationellen Erfahrungen. Diese unterschiedlichen Sprechorte können jedoch durchaus in einem solidarischen Verhältnis zueinander stehen.
Aus der Perspektive vieler NS-Verfolgter, wie zum Beispiel Esther Bejarano, ist der 8. Mai zweifellos ein „Tag der Befreiung“. Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs bedeutete für sie die Rettung vor dem sicheren Tod. In diesem Sinne bildete das Datum eine Zäsur — wenngleich viele Verfolgte mit bleibenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen, dem Verlust von Angehörigen und Freund*innen oder fortwährender Stigmatisierung in der postnationalsozialistischen Gesellschaft konfrontiert waren. Die immer wieder beschworene „Stunde Null“ ist demnach eine Fiktion. Darauf verweist das Statement von Amy Davis, die auf die Kontinuitätslinien und Aktualisierungen von Rassismus und völkischem Denken und deren potenziell mörderischen Konsequenzen aufmerksam macht. Sie benennt aus meiner Sicht sehr klar einen Fallstrick, der sich an einen Feiertag „8. Mai“ knüpfen könnte: nämlich, dass die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch für die Gegenwart ergebenden Herausforderungen historisiert und somit entpolitisiert werden. Gesellschaftskritische Fragen könnten einer Meistererzählung weichen, die die fortwährende Virulenz von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland als Relikt „ewig gestriger“ Haltungen verharmlost.
Ich denke aber, dass in dieser Wahrnehmung kaum Differenzen zwischen Amy Davis und Esther Bejarano bestehen, da auch letztere den 8. Mai nicht als Ausgangspunkt einer „Erfolgsstory“ begreift, die von einer gelungenen „Vergangenheitsbewältigung“ und einer umfassenden demokratischen Läuterung Deutschlands kündet. Gerade Esther Bejarano zeigt mit ihren Positionierungen etwa in der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex, wie Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Erfahrungen extrem rechten Terrors gezogen werden können, ohne die ihnen zugrundeliegenden historischen Konstellationen unmittelbar gleichzusetzen.
Der 8. Mai als Feiertag könnte einen Anlass bieten, über diese unterschiedlichen Wahrnehmungen und Perspektiven ins Gespräch zu kommen.
Woran liegt es, dass die Perspektiven von Betroffenen rechter Gewalt gesellschaftlich so selten Gehör finden und sie kaum als Wissende und Handelnde wahrgenommen werden?
Die Nicht-Wahrnehmung von Betroffenenperspektiven stellt eine Verbindungslinie zwischen den Erfahrungen NS-Verfolgter nach 1945 und von Rassismus Betroffenen heute dar. Beispielsweise haben jüdische Autor*innen, die sich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik mit der Dokumentation der Shoah oder anderer NS-Verbrechen beschäftigten, in der deutschen Öffentlichkeit, aber auch in der Geschichtswissenschaft kaum Anerkennung gefunden. Ihre Erkenntnisse und Veröffentlichungen wurden aufgrund ihrer jüdischen Perspektive als voreingenommen und somit als nicht „objektiv“ diskreditiert, während zahlreiche nichtjüdische Historiker*innen, von denen viele in der NS-Zeit als Teil der „Volksgemeinschaft“ sozialisiert worden waren, für sich in Anspruch nahmen, sachlich und somit glaubwürdig über das Geschehen im Nationalsozialismus zu urteilen.
Mit ähnlicher Missachtung sehen sich heute vielfach die Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt konfrontiert. Ihre Wahrnehmungen und Äußerungen werden häufig — nicht selten ergänzt um kulturalisierende Zuschreibungen — als emotional und überzogen und somit als nicht „objektiv“ abgetan. Die Erfahrungen und Forderungen beider Betroffenengruppen kollidieren offenkundig mit den jeweils hegemonialen Erinnerungskulturen und Selbstbildern der Bundesrepublik. Jüdinnen und Juden, aber auch andere NS-Verfolgte, die in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik öffentlich ihre Perspektiven und Ansprüche artikulierten, galten als „Störenfriede der Erinnerung“, die ja wesentlich von Schuldabwehr und den Versuchen gekennzeichnet war, die NS-Verbrechen zu relativieren. Die Perspektiven der in der Gegenwart von rechter und rassistischer Gewalt Betroffener stellen wiederum das bundesrepublikanische Selbstbild einer demokratisch geläuterten Nation in Frage, die ihre Lehren „aus der Geschichte“ gezogen habe.
Staatlich unterstützte Formen des Gedenkens werden von antifaschistischen Gruppen zum Teil abgelehnt, weil sie das Gedenken instrumentalisieren würden. Wie beurteilst du die Praktiken antifaschistischen Gedenkens — in Bezug auf den NS wie auch die Opfer rechter und rassistischer Gewalt?
Zunächst scheint es mir wichtig festzustellen, dass es nicht das EINE antifaschistische Gedenken gibt. In der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit haben antifaschistische Gruppen zahlreiche interaktive Gedenkformen entwickelt, die vielfach auch auf Interventionen in öffentliche Räume und Debatten abzielten: etwa antifaschistische Stadtrundgänge, demonstrative Straßenumbenennungen oder auch Zeitzeug*innenveranstaltungen. Nicht zuletzt sind zahlreiche Gedenkstätten und Erinnerungsorte aus Initiativen hervorgegangen, die ihr Engagement explizit als „antifaschistisch“ und als Gegenentwurf zu staatlich organisiertem Gedenken verstanden.
Ein wichtiger Punkt ist allerdings, dass antifaschistische Gruppen nicht allein aufgrund ihrer Selbstverortung für die Perspektive der Betroffenen sprechen können, deren Erwartungen an die Formen und Inhalte des Gedenkens sehr unterschiedlich sein können. Auch wenn kritische Sichtweisen auf staatliche Gedenkveranstaltungen und -praktiken zurecht deren vereinnahmenden Charakter betonen, gibt es Betroffene, denen es sehr wichtig ist, staatlicherseits anerkannt zu werden — auch oder gerade im Rahmen offizieller Gedenkveranstaltungen.
Gleichzeitig können auch antifaschistische Gedenkpraktiken durch problematische Vereinnahmungsversuche gekennzeichnet sein. Beispielsweise wenn rhetorisch oder ikonografisch scheinbar ungebrochene Kontinuitätslinien zwischen der Repression etwa gegen antifaschistische Gruppen in der Bundesrepublik und dem NS-Terror gezogen werden, was einerseits eine historische Überhöhung der eigenen Rolle, andererseits eine Banalisierung nationalsozialistischer Verfolgung impliziert. Allerdings habe ich den Eindruck, dass diese unangemessenen Analogien nicht mehr die Verbreitung haben wie noch vor einigen Jahren und zunehmend kritisch hinterfragt werden.
Leere Flecken und inhaltliche Verengungen in antifaschistischen Erinnerungspraktiken im Hinblick auf die Opfer und Folgen rassistischer Gewalt nach 1945 ergeben sich meiner Wahrnehmung nach auch durch den Umstand, dass antifaschistische Szenen vorwiegend „weiß“ geprägt und die Erfahrungen und Sichtweisen von Rassismus Betroffener kaum repräsentiert sind. Mein Eindruck ist, dass sich antifaschistische Interventionen in diesem Kontext eher darauf verlegen, sich mit Täter*innen, deren ideologischen Hintergründen und Strukturen zu beschäftigen oder das „Große Ganze“ erklären zu wollen, dabei jedoch die Perspektiven betroffener Akteur*innen eine untergeordnete Rolle spielen.
Hat die Selbstenttarnung des NSU hier eine Veränderung bewirkt?
Aus meiner Sicht gibt es seit der kritischen Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex eine größere Sicht- und Hörbarkeit von Akteur*innen, die ihre Erfahrungen und Forderungen offensiv in die Öffentlichkeit tragen und dabei auch sehr klar die Ausprägungen von strukturellem und institutionellem Rassismus in Deutschland benennen. Ins Zentrum rücken hier die Namen und Biografien der Opfer, die in der Öffentlichkeit häufig ungenannt bleiben. Für die Toten und Betroffenen der Anschläge des NSU gibt es mittlerweile zahlreiche Erinnerungszeichen, von Gedenktafeln über Theaterproduktionen, Filme, Texte bis hin zu demonstrativen Interventionen oder Veranstaltungsformaten wie dem NSU-Tribunal. Auffällig ist allerdings, dass die Initiativen hierzu oftmals nicht von klassischen („weißen“) antifaschistischen Gruppen ausgehen, sondern von migrantischen und BIPoC-Aktivist*innen. Festzuhalten bleibt aber auch, dass es bislang nur sehr wenige Erinnerungszeichen für Opfer und Betroffene rechter Gewalt in Deutschland nach 1945 gibt. Erst in jüngster Zeit formieren sich Initiativen an verschiedenen Orten, um durch Gedenktafeln, Blogs, Veranstaltungen oder Kunstprojekte an die vergessenen Opfer des rechten Terrors zu erinnern. Deutlich wird hier, dass rechte Gewalt in Deutschland weder eine neue Entwicklung noch eine Ausnahme darstellt, sondern einen integralen Bestandteil der Nachkriegsgeschichte bis heute bildet.
Wo siehst du hier Ansatzpunkte, antifaschistische Gedächtnispolitik zu verändern und weiterzuentwickeln?
Das kritische Potenzial einer antifaschistischen oder emanzipatorischen Erinnerungskultur sollte darin bestehen, die eigenen Praktiken und Narrative immer wieder zu hinterfragen: An wen und woran soll warum erinnert werden? Welche Personen, Ereignisse und Perspektiven bleiben ausgeblendet? Die dichotome Gegenüberstellung von instrumentellem offiziellen Gedenken einerseits und kritischem antifaschistischen Gedenken auf der anderen Seite geht so einfach nicht auf. Zweifellos ist es richtig, die Narrative, Inszenierungspraktiken und Intentionen staatlicher Geschichtspolitik zu hinterfragen, ähnliche Fragen sind aber auch an den sich antifaschistisch begreifenden Umgang mit „Geschichte“ zu stellen.
Daraus ergibt sich, dass es in antifaschistischen Erinnerungspraktiken nicht darum gehen kann, homogenisierende Meistererzählungen, ikonisierende Heldendarstellungen oder historische Mythen zu schaffen. Weniger erklären und mehr fragen sollten aus meiner Sicht die Grundprämissen einer kritisch-emanzipatorischen Erinnerungskultur bilden. Denn der Blick auf die Geschichte antifaschistischer Erinnerungspraktiken zeigt auch, dass die Stimmen, Erfahrungen und Perspektiven der Vielen, die von Rassismus und anderen Ideologien der Ungleichwertigkeit betroffen sind, oftmals nicht wahrgenommen werden.
Danke für das Interview!