Die Zukunft offen halten
Überlegungen zu emanzipatorischen Perspektiven antifaschistischer und rassismuskritischer Gedächtnispolitiken
„Nichts und niemand ist vergessen!“? Die Erinnerung an die Opfer des NS ist seit jeher ein wichtiger Bestandteil eines antifaschistischen Politikverständnisses. Auch das Gedenken an die Opfer rechter und rassistischer Gewalt hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Bestandteil antifaschistischer Arbeit entwickelt. Dabei bewegen sich antifaschistische und rassismuskritische Gedächtnispolitiken in zahlreichen Spannungsfeldern: Etwa die Frage, ob es eine Gegenerzählung oder linke Mythenbildung braucht; die Schwierigkeit, Opfern einen Namen und ein Gesicht zu geben, ohne diese zu heroisieren oder auch die Problematik, dass jede erzählte Geschichte bedeutet, eine unendliche Anzahl von weiteren Perspektiven zu verschweigen.
Im Grunde nutzen alle politischen Akteur_innen Geschichte und Geschichten zur Sinnstiftung, Identitätskonstruktion und Gemeinschaftsbildung. Erinnerungskulturen und Gedächtnispolitiken sind nie objektiv. Das „kollektive Gedächtnis“ ist geprägt durch Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein beeinflussen sowie unser Selbst- und Weltbild prägen.
„Erinnerungskultur“ ist nach Aleida Assmann, die viele wegweisende Arbeiten zu Erinnerung und Gedächtnis publiziert hat, nicht einheitlich definiert. Einerseits handelt es sich um einen Sammelbegriff für die „Pluralisierung und Intensivierung der Zugänge zur Vergangenheit“. Andererseits um „die Aneignung der Vergangenheit durch eine Gruppe“ mit identitätsstiftender Wirkung. Die „ethische Erinnerungskultur“ stellt eine kritische Auseinandersetzung mit Staats- und Gesellschaftsverbrechen dar, in der besonders die Opferperspektive zum Tragen kommt. Wir sprechen an dieser Stelle auch von Gedächtnispolitiken, um zu markieren, dass Erinnern und Vergessen zu thematisierende Aspekte antifaschistischer und rassismuskritischer Politiken sind.
Kontinuitäten im Wandel
Zentral ist in diesem Zusammenhang der Begriff der „Basiserzählung“. Dabei geht es um historische Ereignisse, die zur Legitimation des Bestehenden herangezogen werden. Marginalisierte Perspektiven halten kaum Einzug in die hegemonialen Basiserzählungen einer Gesellschaft. So sind beispielsweise im „kollektiven Gedächtnis“ der Mehrheitsgesellschaft Versuche des Verschweigens und Verdrängens einer vermeintlich offensiven Beschäftigung mit der deutschen NS-Geschichte gewichen. Statt die Spezifika der präzedenzlosen Verbrechen zu benennen und nach den Ursachen und gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen zu fragen, die den Nationalsozialismus ermöglicht haben, wird die Aufarbeitung der Vergangenheit in die Basiserzählung der „Erfolgsgeschichte der Deutschen“ integriert.
„Die deutsche Gedenkkultur zeichnet sich in weiten Teilen dadurch aus, dass sie Schuldabwehr, Selbstviktimisierung und Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus, vor allem an den Holocaust, in selbstbezogener und selbstgefälliger Art und Weise in Einklang bringt“, konstatieren Alexandra Klei, Katrin Stoll und Annika Wienert in einem Beitrag für zeitgeschichte-online. Antifaschistische Interventionen in die Praktiken des (hegemonialen) Gedenkens sind unter anderem dort nötig, wo im Sinne eines „Endes der Geschichte“ nicht mehr personelle und ideologische Kontinuitäten aufgezeigt werden und nur noch pauschal den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht wird.
Die hegemoniale Basiserzählung einer solch inklusiven Opferformel lässt sich beispielsweise zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 beobachten. Auch über die Region hinaus ist der Mythos Dresden wirkmächtig. Hier bildeten die geschichtspolitischen Vorstöße von Neonazis den Anlass, eigene Fragen an den Umgang mit der Vergangenheit zu stellen. Eine antifaschistische Intervention, die der Universalisierung und Enthistorisierung entgegenwirkt, sind die Hörstationen der gruppe audioscript. Sie setzen den Opfermythen des Luftkrieges autobiografisches Material von Opfern der Shoah entgegen. Dadurch wird zum einen ein Umgang mit der Abwesenheit von Zeug_innen gefunden, zum anderen geht es darum, „die Menschen aus der Gruppe, in die sie qua Konstruktion gepresst wurden, herauszulösen und ihre Heterogenität in Trauer, Kampf und Widerstand und ihren ganz persönlichen Umgang mit der Verfolgung deutlich zu machen“.
Doing Memory
Während die vermeintliche Aufarbeitung des NS in die Narrative der deutschen Gesellschaft integriert wurde, ist die Geschichte rechter und rassistischer Gewalt — trotz oder gerade wegen ihrer andauernden Aktualität — ebenso wenig präsent und anerkannt wie migrantisches Leben als selbstverständlicher Teil der Nachkriegsgeschichte. Fast völlig vergessen sind beispielsweise die Morde an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân 1980 in Hamburg (vgl. S. 60) oder die rassistischen Ausschreitungen am 12. August 1979 in Merseburg, bei denen die beiden kubanischen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret getötet wurden.
Kritische Praktiken der Erinnerung an rechte Gewalt müssen darauf abzielen, Einfluss auf die hegemoniale Basiserzählung zu nehmen und, so betonen es Tanja Thomas und Fabian Virchow in einem Artikel in dem Sammelband „Leerstelle Rassismus? Analyse und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU“, verstehbar zu machen, „wie wessen und welche Erinnerungen in öffentlichen Räumen artikuliert und in einer Gesellschaft relevant gesetzt werden.“ Die Sozialwissenschaftler_innen haben das Konzept Doing Memory entwickelt, das darauf angelegt ist, „Erinnern“ und „Vergessen“ als programmatisch miteinander verwobenen Prozess zu denken. Eine solche Konzeptionierung eröffne Einblicke in die Machtbasiertheit, aber auch in die Veränderbarkeit von Vergangenheitskonstruktionen. Insbesondere mit Blick auf rechte und rassistische Gewalt ließen sich mit einem solchen Begriff Fragen des sozialen und gesellschaftlichen Bedingungsfelds des Erinnerns und Vergessens erörtern.
Leerstelle Kolonialismus
Durch die Sichtbarkeit der Black-Lives-Matter-Proteste und Diskussionen um koloniale Denkmäler wird die Notwendigkeit der weiteren Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer Nachwirkungen deutlich. Die zivilgesellschaftlichen Vereine Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), Each One Teach One (EOTO) und Berlin Postkolonial haben zu Beginn des Jahres in Berlin ein Modellprojekt zur „Dekolonisierung städtischer Erinnerungskultur“ gestartet, das die lokale Kolonialgeschichte beleuchtet und Verbindungen zu aktuellen Ungleichheiten herstellt. Neben der Auseinandersetzung mit eigener linker Geschichte ist die Beschäftigung mit dem Kolonialismus bisher häufig eine Leerstelle antifaschistischer Praxen. Symbolpolitiken, wie etwa das Fällen der „deutschen Eiche“ zum 20. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen oder die Umbenennungen von Straßen sind nicht zu unterschätzen, da sie Widersprüche und Kontinuitäten aufzeigen können. Es gilt jedoch auch anzuerkennen, dass antifaschistische Politiken selbst nicht frei von gesellschaftlichen Machtstrukturen und solchen hegemonialen Basiserzählungen sind, die es zu stören gilt.
Kontinuitäten aufzeigen
Eine kontinuierliche Beschäftigung mit Geschichte(n), die sich nicht auf einzelne Kampagnen oder Gedenktage beschränkt, findet nur selten statt. Eine Beschäftigung mit den (lokalen und regionalen) Orten nationalsozialistischer Verbrechen und den daran geknüpften Erfahrungen ist auch abseits der großen Gedenkstätten unverzichtbar. Die Errichtung von Erinnerungsorten ist mitunter bis heute umkämpft; hier sind es auch antifaschistische Initiativen und Kampagnen, die auf vergessene Ereignisse und Orte aufmerksam machen und sich von dem immer wiederkehrenden statischen Muster (staatlicher) Gedenkrituale wie Kranzniederlegungen, Schweigeminuten und Gottesdiensten abheben, bei denen es zu geschichtspolitischen Inszenierungen, fragwürdigen Deutungsmustern und Vereinnahmungsversuchen kommt.
Exemplarisch sei hier auf die Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark verwiesen, die das Konzept des „offenen Gedenkens“ geprägt hat und Kontinuitäten der Verfolgung und struktureller Gewalt aufzeigt (vgl. LOTTA 65, S. 53 ff.) Weitere Beispiele für eine antifaschistische Geschichtspolitik sind die Initiative Faites votre jeu! im ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld in Frankfurt, die sich intensiv mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzt und an die damals Inhaftierten erinnert (vgl. LOTTA #70 S. 59 ff,) sowie die Besetzung des ehemaligen Fabrikgeländes der Firma Topf & Söhne in Erfurt.
Uno di noi?
Das Aufzeigen marginalisierter Positionen, die Kontextualisierung und Aufdeckung der politischen Dimensionen einer Tat sind wichtige Elemente antifaschistischer und rassismuskritischer Erinnerungsarbeit. Die Initiative Niemand ist vergessen, die die Berliner Opfer rechter Gewalt dokumentiert, stellt ernüchternd fest, dass sich trotz großer Mobilisierung vergleichsweise wenig Menschen an einer Demonstration in Gedenken an Dieter Eich, der im Mai 2000 aus Hass auf Sozialhilfeempfänger ermordet wurde, beteiligten. Daraus leitet die Initiative den Anspruch ab, lieber auf Vernetzung und inhaltliche Schärfe als auf Masse bei Veranstaltungen zu setzen (vgl. AIB #127, S. 41). Wohnungs- und Obdachlose tauchen im öffentlichen Gedenkdiskurs nur am Rande auf. Auch in antifaschistischen Zusammenhängen findet diese Gruppe oft nur wenig Beachtung (vgl. LOTTA #51 S. 21 ff).
Sind die Opfer hingegen Teil einer politischen oder (sub-)kulturellen Bewegung, wie etwa Silvio Meier oder Frank Böttcher, werden die Angriffe nicht nur als Mord an einem Einzelnen, sondern als Angriff auf die gesamte Szene bewertet. Dies ist auch bei den international bekannt gewordenen Antifaschist_innen und Aktivist_innen, wie etwa Clément Meric, Heather Heyer oder Carlo Giuliani, der Fall. Die Wahrnehmung der internationalen Dimension rechter Gewalt ist auch ein Verdienst der Kampagne Siempre Antifascista, die sich in Folge der Morde an den antifaschistischen Skinheads Carlos Palomino in Madrid und Jan Kucera im tschechischen Príbram gründete. Neben der Erinnerung an von Nazis getötete Antifaschist_innen stellt sie die internationale Vernetzung ins Zentrum und setzt sich dafür ein, die jeweiligen Kämpfe nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern sich solidarisch aufeinander zu beziehen.
Linke Mythenbildung vermeiden
Antifaschistische Gedächtnispolitiken sind nicht per se emanzipatorisch. Die Herstellung oder Verstärkung einer kämpferischen Identität mittels passender Vergangenheitsbezüge birgt immer die Gefahr, dass Ambivalenzen, Widersprüche und Brüche geglättet oder eliminiert werden. So ist auch eine Auseinandersetzung mit den Schwächen und (historischen) Fehleinschätzungen wichtig. Die Historikerin Cornelia Siebeck plädiert deshalb dafür, dass das Geschehene nicht ambivalenzfrei zugerichtet werden darf, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als geschlossenen Gegensinn zu erzählen. Ein positives Beispiel für eine kritisch-solidarische Bezugnahme ist die Partisanenausstellung banditi e rebelli. Das Ausstellungskollektiv möchte zu einem besseren Verständnis der Resistenza beitragen und schreibt auf seiner Website: „Die banditi e rebelli haben auf der richtigen Seite gekämpft. Das heißt aber nicht, unkritisch den Mythen zu folgen, die sich um die Resistenza ranken. Um von ihr zu lernen, müssen wir auch die Schwächen und Fehleinschätzungen der Partisanenbewegung beleuchten.“
Ort des Sprechens und Hörens schaffen
Die Selbstenttarnung des NSU stellt eine Zäsur antifaschistischer Politiken dar. Angehörige der Opfer hatten bereits 2006 betont: „Kein 10. Opfer!“ In einem offenen Brief zum Urteil des Oberlandesgerichts München richtete sich Elif Kubaşık, Witwe des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, im April 2020 an die Öffentlichkeit: „Wir wollten nichts Unmögliches. Wir wollten, dass Sie uns ernsthaft zuhören, uns, die schon vor allen andere ahnten, dass hinter den Morden Nazis stecken.“
Ein selbstreflexives Bewusstsein ist für die Weiterentwicklung antifaschistischer Gedächtnispolitiken unabdingbar, wie Ibrahim Arslan sagt: „Überlebende sind keine Statisten. Überlebende sind Hauptzeugen des Geschehens.“ Der Freundeskreis in Gedenken an die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992 weist darauf hin, dass Betroffene eigene Vorstellungen haben, „die sie klar benennen und auch umsetzen. Sie verschaffen sich Gehör. Sie fordern Antworten. Sie fordern heraus. Allein Bereitschaft für diese Auseinandersetzung zu signalisieren, wäre schon ein Anfang.“
Antifaschistische Erinnerungspolitik sollte darum bemüht sein, ein Sprechen und Hören von verschiedenen Positionen aus zu ermöglichen um unterschiedliche Wahrnehmungen, vielfältige Erfahrungen und Stimmen ernst zu nehmen. Dabei geht es darum, so Thomas und Virchow, „die Anerkennungsnormen, Privilegien und Institutionen in Frage zu stellen, die regulieren, wer gehört, was gesagt und woran erinnert werden kann“. Solidarität bedeutet in diesem Zusammenhang, Räume für Begegnung und Orte des Sprechens zu schaffen und andererseits „Verbündet-(zu)-sein“. Ziel ist die Anerkennung menschlicher Pluralität, struktureller Diskriminierung und Exklusionserfahrungen. Die Initiative 19. Februar Hanau tritt für eine „Gesellschaft der Vielen“ ein und hat gegenüber dem Tatort in Hanau einen Raum „gegen das Vergessen“ geschaffen. Mit dem einfachen, aber richtungsweisenden Slogan „Erinnern heißt verändern“ wird eine Zukunftsperspektive eröffnet und eine Einladung an alle verknüpft, die Offenheit für die Geschichten und Perspektiven der Betroffenen mitbringen (vgl. S. 13). „Es gibt viele Erfahrungen und Geschichten. Viele Verletzungen. Viele Wünsche und Bedürfnisse. Viele Perspektiven. Sie gilt es zu hören. Aus der Vereinzelung zusammenzubringen. Zu vernetzen. Und so Erinnerungspolitiken herauszufordern. Als Kollektiv in der Vielfalt“ betont der Freundeskreis in Gedenken an die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992.
Ausblick
„Gerade mit Blick auf eine andere Zukunft brauchen wir eine kritische Auseinandersetzung mit Vergangenheit. Wie sonst wollen wir der strukturellen Geschichtsvergessenheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft widersprechen“ schreibt das AutorInnenkollektiv Loukanikos in dem Band „History is unwritten“. Dennoch gibt es keine abschließenden Antworten, wie antifaschistische und rassismuskritische Gedächtnispolitiken aussehen sollten. Auch dieser Artikel hätte ganz anders geschrieben werden können. Wir möchten mit diesem Text Ansätze zur Diskussion stellen, die ein kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte und Gegenwart gedächtnispolitischer Fragestellungen pflegen.
Das Wachhalten von Erinnerung und Aufmerksamkeit für Vergessenes verlangt Beharrlichkeit und Ausdauer. Wünschenswert sind Gedächtnispolitiken, die ein vielstimmiges Bild wahrnehmbar machen und Geschichte nicht linear und geschlossen erzählen. Das Bestehende ist nicht alternativlos. Entscheidend ist, sich auf den Weg zur Utopie zu begeben und eine bessere Zukunft zu erstreiten. Trotz aller Widersprüche und Ambivalenzen ist es — nicht zuletzt angesichts eines sich immer weiter nach rechts verschiebenden Diskurses — besser, diesen Versuch zu wagen, als es zu lassen.