„Erinnern heißt verändern“
Eine Einleitung in den Schwerpunkt
Als eine der letzten Überlebenden des KZ Auschwitz forderte Esther Bejarano, den 8. Mai zu einem Feiertag zu erklären. In einer von ihr gestarteten Petition heißt es: „Es ist nicht hinnehmbar, dass 75 Jahre danach extrem Rechte in allen deutschen Parlamenten sitzen und in immer rascherer Folge Mord auf Mord folgt.“
„Say their names“ war nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau eine zentrale Forderung der Hinterbliebenen, um die Getöteten sichtbar zu machen, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und — endlich — Konsequenzen aus den unzähligen Todesopfern rechter und rassistischer Gewalt einzufordern.
„Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht“, schrieb Walter Benjamin, dessen Tod sich im September zum 80. Mal jährt. Dass viele Menschen beispielsweise die Namen Oury Jalloh, Ramazan Avcı, Halit Yozgat, Burak Bektaş oder Mercedes Kierpacz mittlerweile kennen, ist auch das Verdienst antirassistischer und antifaschistischer Initativen.
Nach den rechtsterroristischen Anschlägen in Hanau gründeten sich bundesweit neue Migrantifa-Gruppen und riefen anlässlich des 75. Jahrestags der Kapitulation Nazideutschlands zu Protesten und einem migrantischen Generalstreik auf, um auf die Kontinuität völkischen Denkens und strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft aufmerksam zu machen.
Vor diesem Hintergrund geht es in diesem Schwerpunkt darum, eine kritische Auseinandersetzung anzuregen und zu überlegen, wie die hegemonialen Basiserzählungen gestört werden können. Wie kann eine Anerkennung von Verschiedenheit, Vielfalt und Heterogenität in Erinnern, Trauer und Widerstand aussehen? Wie kann ein Umgang damit aussehen, dass Gedächtnispolitiken identitäts- und gemeinschaftsbildend sind und möglicherweise wiederum Ausschlüsse, Mythen und Vereindeutigungen produzieren?
Antifaschistische und antirassistische Gedächtnispolitiken bewegen sich in einem Spannungsfeld, in dem es darum geht, Kontinuitäten aufzuzeigen und Verbindungen der Geschichte mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen der Gegenwart zu verknüpfen, ohne diese gleichzusetzen. Kontroversen über Erinnern und Gedenken eröffnen jedoch „Denkräume“, die die Perspektive letztlich erweitern können.
In „Die Zukunft offen halten“ schreiben Hannah Tietze und Johannes Hartwig über emanzipatorische Perspektiven antifaschistischer und rassismuskritischer Gedächtnispolitiken.
Die Initiative 19. Februar Hanau hat „140 qm gegen das Vergessen“ eröffnet, um einen Ort für Austausch, Solidarität und Sichtbarkeit der „Gesellschaft der Vielen“ zu schaffen. Darüber berichtet Seda Ardal.
Mit dem Historiker Michael Sturm sprachen wir über Entwicklungen und Kontroversen im Spannungsfeld „Erinnern“ und „Vergessen“.
Fanny Schneider erläutert, warum es auch 80 Jahre nach dem Tod Walter Benjamins wichtig ist, „die Toten vor dem Feind zu bewahren“ und sich der Erinnerung zu bemächtigen.