Erniedrigt und erschossen
Rassistische Polizeigewalt in Essen
Rotes Klebeband deckte das Loch an der Haustür ab, durch das ein Polizist am 18. Juni 2019 den Deutsch-Algerier Adel B. erschossen hat. Im Essener Stadtteil Altendorf erinnert nichts an das, was hier passiert ist. Einige Nachbar*innen wollen von Adel B. nichts mehr hören. „Er ist tot, und damit ist auch gut“, sagt ein älterer Mann, der direkt gegenüber dem Tatort wohnt. Rund um den ersten Todestag des psychisch erkrankten Mannes, der damals damit drohte, sich zu suizidieren, entzündete sich im Zuge der „Black Lives Matter“-Proteste eine Debatte, ob es sich um rassistische Polizeigewalt gehandelt hat. Als Signal verabschiedete der Essener Stadtrat schließlich eine Erklärung — in Solidarität mit der Polizei.
Wochenlang dominierte der Fall die Essener Lokalmedien. Die WAZ befragte den Essener Polizeipräsidenten, den Polizeichef, die Staatsanwältin, die die Ermittlungen leitete, einen Beamten, der daneben stand, als sein Kollege Adel B. in die Brust schoss, und den Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU). Alle waren sich einig: Adel B. wurde zu Recht erschossen. Durch den Briefkastenschlitz der Haustür soll er eine Polizistin mit einem Messer bedroht haben. Die Ermittlungen gegen die Polizei stellten die Behörden mit der Begründung „Notwehr“ ein. Wochen zuvor hatte die Polizei die Öffentlichkeit über die Hintergründe belogen, bis ein Video eines Nachbarn auftauchte. Es zeigte, dass Adel B. nicht mit einem Messer auf die Polizei zu stürmte, wie die Polizei zunächst behauptet hat. Die Polizist*innen stürmten auf die Haustür zu, die Adel B. zuhielt und durch die er dann erschossen wurde.
Der Polizei aus dem Weg gehen
Die einzige Person, die in der Berichterstattung keine Rolle spielte und seit dem Tod von Adel A. weder von Politiker*innen noch von der Polizei kontaktiert wurde, ist Adels Mutter. „Das war für mich glatter Mord“, erklärte sie der LOTTA in einem Interview zwei Tage vor dem ersten Todestag. „Hätten sie am Anfang alles richtig gemacht, würde mein Sohn noch leben. Sie hätten nicht nur die Polizei schicken müssen, sondern auch Psychologen“, sagt sie. Den kompletten Einsatz über, der sich von einem Waschsalon in der Altendorfer Straße bis zum Tatort zog, zielte die Polizei mit Pistolen auf ihren Sohn. „Ich sehe es auch so, dass es was damit zu tun hat, dass er halb deutsch, halb algerisch war“, sagt Adels Mutter. Wäre er als weißer Deutscher gelesen worden: „Er wäre noch am Leben.“ Im Stadtteil Altendorf hat der Fall Ängste getriggert: Menschen, die Adel flüchtig oder besser kannten, selbst als nicht-deutsch gelesen werden, fürchten, dass sie auch von der Polizei erschossen werden könnten. „Ich gehe der Polizei immer aus dem Weg, wenn ich sie sehe“, sagt ein Bekannter von Adel B., der anonym bleiben möchte und vor 35 Jahren aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet ist.
„Ich hatte Angst zu sterben“
In den verschiedenen Communitys lösen die Fälle rassistischer Polizeigewalt Verunsicherung aus. 2017 demonstrierte die eritreische Essener Community in Gedenken an Mikael Haile. Er wurde im April 2017 von der Polizei in seiner Wohnung erschossen, nachdem ein Nachbar diese wegen Ruhestörung gerufen hatte. Dabei werden Muster erkennbar. Genau wie im Fall Adel B. soll Haile, ein Mann, der von seinen Freund*innen als ruhiger, christlicher, nüchterner Mann beschrieben wird, die Polizei mit einem Messer angegriffen haben. Diese zielte mit Pistolen auf seine Brust und nahm ihm sein Leben. Die einzigen Zeugen sind die beiden Beamten.
Fälle von rassistischer Polizeigewalt registriert auch Anabel Jujol vom Antirassismus-Telefon Essen in den vergangenen Jahren und Monaten zunehmend. Seit 25 Jahren betreut die Initiative Betroffene von Rassismus. Jujol beschäftigen seit Beginn des Jahres drei Fälle rassistischer Polizeigewalt. Eine 50-jährige schwarze Deutsche, ihre beiden Töchter und Söhne sind besonders traumatisiert. „Plakativ“ nennt Jujol den Fall. Die Mutter geht mit ihren Töchtern in eine Polizeiwache und will eine Anzeige erstatten, weil ihr das Portemonnaie gestohlen wurde. Heraus kommen sie am Ende mit unzähligen Verletzungen. „Ich hatte Angst, dass ich sterbe“, sagte die Mutter nach dem Einsatz.
Wenn das Fastenbrechen zum Alptraum wird
Die Mutter wollte, dass die Polizei die Videokameras des Kaufhauses auswertet, in dem sie beklaut wurde. „Wurden Sie beklaut oder haben Sie geklaut?“, ist die erste Frage der Polizei. „Sie wird ausgelacht, nicht ernst genommen. Als die ältere Tochter dazu kommt, fragt sie die Polizei, warum sie ihnen nicht helfen“, berichtet Jujol. Als die drei Frauen zurück in den Wartebereich gehen, um auf die Aufnahme der Anzeige zu warten, kommt die Polizei von hinten und fordert die ältere Tochter auf, ihren Ausweis zu zeigen. Als die das nicht umgehend tut, liegt sie schon am Boden. Bis zu 15 Polizist*innen sollen sich auf die drei Frauen gestürzt haben. „Seid froh, dass wir nicht in den USA sind“, sollen die Beamten mehrfach gesagt haben. Sie knien auf dem Rücken der Mutter: „Ich kann nicht atmen“, ruft sie. Das war noch bevor das Video vom rassistischen Mord an George Floyd und seine letzten Worte „I can’t breathe“ um die Welt gingen.
Ähnlich ist es im Fall von Omar Ayoub. Während der Corona-Krise und damit mitten in der Fastenzeit wollen er und seine Familie am Abend ihr Fasten brechen. Wegen angeblicher Ruhestörung rückt die Polizei an und will ohne Durchsuchungsbefehl in das Haus eindringen. Als Ayoub die Tür schließen will, wendet die Polizei Gewalt an. Am Ende wird die gesamte Familie Opfer von rassistischer Polizeigewalt. Seine Schwestern, seine Mutter, sein Vater, er selbst.
Ayoubs Familie wird von der Polizei als „Clan“ bezeichnet. Die Beamten rufen ihnen zu: „Dreckslibanesen“, „ehrenloser Kanacke“ und „Geht dahin zurück, wo ihr herkommt, ihr Tiere“. Über 1,5 Millionen Mal wird Ayoubs Video bei Instagram aufgerufen. Er dokumentiert im Video unzählige Verletzungen. Sein Arm ist gegipst. Später wird die Polizei sagen, die Familie habe Widerstand geleistet. Und begründet damit die Polizeigewalt. Deshalb werden Ayoub und sein Vater dann auch von der Polizei, die alle Vorwürfe zurückweist, angezeigt.
Angst vor Repressionen
Jujol vom Antirassismus-Telefon beobachtet Muster in der Praxis der Essener Polizei. „Es geht um banale Dinge wie Ruhestörung. Dann gibt es in Null-Komma-Nichts eine Gewalteskalation mit mehreren Beamten, die sich auf eine Person stürzen“, sagt sie. Oftmals werde das Ganze von rassistischen Beleidigungen begleitet. Betroffene würden von der Polizei gedemütigt und erniedrigt. Polizist*innen drohten mit Schusswaffengebrauch. „Das traumatisiert die Betroffenen und die Communitys, weil sich das natürlich herumspricht“, sagt Jujol. Sie ist sich sicher, dass es diese Gewalt schon immer gab, sie aber jetzt erst sichtbarer wird, weil Betroffene sich an die Öffentlichkeit wenden. Vom anfänglichen Rückenwind, der durch die „Black Lives Matter“-Proteste auch in der BRD kurzzeitig entstand, ist nichts mehr übrig: „Das hat sich umgedreht. Manche Betroffene wollen auf keinen Fall öffentlich sprechen, weil sie Angst vor Repressionen haben.“ Ernst genommen wird das Problem der Essener Polizei in der Stadtgesellschaft nicht. „Ich habe noch keinen einzigen Fall hier gesehen, der aufgeklärt wurde.“ So systematisch wie rassistische Polizeigewalt in Essen ist, so systematisch ist auch die Abwehr einer juristischen Aufklärung der angeblichen „Einzelfälle“.