Femi(ni)zide in Deutschland
Extreme Gewaltformen gegen Frauen*
Femi(ni)zide sind ein komplexes, globales Phänomen, das sich in verschiedenen Formen zeigt. Auch in Deutschland werden Frauen* aufgrund ihres Geschlechts getötet. Welche Arten von Femi(ni)ziden kann man in diesem Teil der Welt finden? Und wie werden diese Taten zur Zeit in Deutschland dokumentiert?
In den 1990er Jahren wurde der Begriff ,Femizid‘ (femicide) von Diana Russell, Jane Caputi und Jill Radford als die Tötung von Frauen durch Männer definiert, bei denen Motive wie Hass, Verachtung, Lust und das Gefühl von Besitztum eine Rolle spielen. Während der Begriff im englischsprachigen Kontext für viele Jahre kaum an Einfluss gewann, war die Einführung des Konzepts ,Feminizid’ (feminicidio) durch Marcela Lagarde 1994 ein wichtiger Meilenstein in der Bekämpfung des Phänomens in Nord- und Südamerika. Vor dem Hintergrund der Tötungsdelikte an Frauen in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez argumentierte sie, dass das Konzept in der Sprache der Menschenrechte formuliert werden müsse. Die aktualisierte Definition betonte daher die Toleranz der Gesellschaft gegenüber diesen Verbrechen sowie die Rolle und Verantwortung des Staates.
Trotz der Meinungsverschiedenheiten über die Definition von Femi(ni)ziden, sind sich Theoretiker*innen in folgenden Punkten einig: 1.) Die Ursachen gehen aus einem Geschlechtersystem hervor, das Geschlechterrollen auferlegt und eine ungerechte Machtverteilung entsprechend dieser etabliert. 2.) In den Institutionen, die diese Verbrechen untersuchen und verfolgen, herrscht Androzentrismus. Es fehlt auf allen Ebenen, von den Kriminolog*innen bis zu den Richter*innen, an feministischen Perspektiven, um gegen diese Verbrechen vorzugehen. 3.) Es mangelt an effektiven Gesetzen und politischen Maßnahmen. Und 4.) Seitens verschiedener Regierungsbehörden gibt es Widerstände, in dieser Frage voranzukommen.
Wir verwenden den Begriff Femi(ni)zid mit Klammer als eine Abkürzung für Femizid und Feminizid, um in der laufenden Begriffsdebatte nicht Partei zu ergreifen, und schreiben Frauen* mit Stern, um hervorzuheben, dass es sich um eine soziale Konstruktion handelt und um die Diversität von weiblichen (und als weiblich gelesenen) Menschen sichtbar zu machen.
Sind alle Femi(ni)zide gleich? Seit Beginn der politischen Verwendung des Begriffs war klar, dass dieser eine Vielzahl von Femi(ni)zidarten umfasst, die jedoch nicht unbedingt voneinander getrennt auftreten. Das Projekt Feminicidio.net hat eine Liste verschiedener Femi(ni)zidarten veröffentlicht, in der theoretische Vorschläge von Wissenschaftler*innen aus aller Welt zusammengefasst sind. Die Unterscheidungen können auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden, wie die Beziehung zwischen den Involvierten, die Motive oder der Kontext der Verbrechen. Hier einige Beispiele:
Intimer Femi(ni)zid: Die beteiligten Personen hatten eine intime Beziehung, diese kann sowohl eine bestehende als auch eine ehemalige Partner*innenschaft sein. Hierzu gehören auch Fälle, in denen ein Bekannter des Opfers sie* tötet, weil sie* sich weigerte, eine Beziehung mit dem Täter einzugehen.
Nicht-intimer Femi(ni)zid: Opfer und Täter hatten keine enge Beziehung, sie können einander völlig fremd sein, aber auch Nachbar*innen ohne vorherige enge Bindung zueinander.
Femi(ni)zid eines Kindes: Opfer sind Mädchen* bis zum Alter von 14 Jahren. Die Tat findet in einem Kontext von Macht des Erwachsenen über das Kind statt, deren Beziehung zum Beispiel, aber nicht ausschließlich, auf Verantwortung oder Vertrauen basiert.
Familiärer Femi(ni)zid: Die Straftat findet in einem familiären Umfeld statt, wozu alle Formen verwandtschaftlicher Beziehungen gehören, zum Beispiel, aber nicht ausschließlich, genetisch, angeheiratet und adoptiert.
Femi(ni)zid als Beistehende: Eine Frau* wird „in der Schusslinie“ eines Mannes getötet, der versucht, eine andere Frau* zu töten. Dabei kann es sich um eine ihr bekannte Frau*, zum Beispiel eine Freundin oder Verwandte, oder um eine unbekannte Frau* handeln, die sich zufällig am selben Ort befindet.
Prostitutionsbedingte Femi(ni)zide: die Tötung einer Frau*, die in der Sexindustrie — beispielsweise Pornofilme, Tantramassagen und sexuelle Dienstleistungen — tätig ist. Dazu gehören Fälle, in denen Stigmatisierung, Hass und Frauenfeindlichkeit gegenüber dem Beruf des Opfers zur Tötung führen.
Femi(ni)zid im Zusammenhang mit Menschenhandel: Die Tötung des Opfers erfolgt in einer Situation des Menschenhandels mit (illegalisierten) Migrant*innen.
Transphober Femi(ni)zid: Das Opfer ist eine Trans*frau*, und der Täter tötet sie* aufgrund ihrer* Trans*identität und/oder aus Hass.
Lesbophober Femi(ni)zid: Das Opfer ist eine lesbische Frau*, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Identität und/oder aus Hass von einem Mann getötet wird.
Rassistischer Femi(ni)zid: Das Verbrechen wird gegen eine Frau* aufgrund rassistischer Zuschreibungen und/oder aus Hass begangen.
Durch eine solche Klassifizierung von Femi(ni)ziden können bestimmte Merkmale und Mechanismen ermittelt werden, um effektive Strategien zu deren Bekämpfung zu entwickeln. So kann die Strategie von einstweiligen Verfügungen bei intimen Femi(ni)ziden für Fälle von prostitutionsbedingten Femi(ni)ziden nicht hilfreich sein. Wichtig ist, dass die Klassifizierungen dynamisch sind und sich nicht negativ auf die Dokumentationsarbeit auswirken.
Wir verwenden hier den Begriff Prostitution, folgen jedoch aufmerksam den Debatten um den Begriff Sexarbeit. Die Entwicklungen der Begrifflichkeiten sind wie die Femi(ni)zidklassifizierungen dynamisch und müssen mit der Zeit angepasst werden. Dazu gehört auch die Endung -phobie, wenn von trans* und lesbischen Frauen* die Rede ist. Phobien sind (individuelle) Angststörungen, die sozialen und patriarchalen Wurzeln der Taten können so begrifflich verschleiert werden. Während sich global der Begriff ,transphobia’ etabliert hat, erfasst ,Transfeindlichkeit’ im Deutschen die Strukturen dahinter genauer.
Femi(ni)zide in Europa
In den letzten Jahren hat das Interesse an Femi(ni)ziden im europäischen Kontext zugenommen, was wir im Folgenden an einigen Beispielen illustrieren. Graciela Atencio startete 2010 in Spanien das Projekt Feminicidio.net, aus dem Geofeminicidio entstand, die erste quantitative und qualitative Datenbank in Europa, angelehnt an die Datenbank zu Femi(ni)ziden der mexikanischen Forscherin Julia Monárrez. Italien war das erste europäische Land, bei dem die UN den Begriff ,Femizid‘ angewendet hat und wo 2013 vom damaligen Premierminister Enrico Letta ein „Krieg gegen Feminizide“ (femminicidio) ausgerufen wurde. Dieser ging einher mit dem Gesetz 119 zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, das sich jedoch nur auf intime Feminizide bezieht. Shalva Weil baute das Projekt Femicide Across Europe auf, aus dem 2018 die Europäische Beobachtungsstelle für Femizide ins Leben gerufen wurde. Diese ist an der Universität Malta angesiedelt und stellt den ersten Versuch dar, eine europäische Beobachtungsstelle für dieses Phänomen einzurichten. In Großbritannien haben Karen Ingala Smith und Clarissa O’Callaghan 2015 The Femicide Census gegründet. Sie dokumentieren Fälle von Frauen, die seit 2009 in Großbritannien getötet wurden. Im November 2014 startete die feministische Gruppe Osez le féminisme eine Kampagne für die rechtliche Anerkennung von Feminiziden (féminicide) in Frankreich. Angesichts des Aktionstags 25N (25. November) kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron 2019 dreimonatige Beratungen an, um zu erörtern, wie Feminizide in dieser Region verhindert werden können. Aus den Diskussionen ließ sich erkennen, dass der Fokus hauptsächlich auf intimen Feminiziden lag.
Auch in Deutschland bewegt sich einiges. 2015 startete die Plattform #KeineMehr, die gesellschaftliches Bewusstsein für dieses Phänomen fördern möchte und auf die strukturellen Hintergründe von Feminiziden aufmerksam macht. Im Jahr 2018 richteten Politiker*innen der Die Linke eine „Kleine Anfrage“ an die Bundesregierung zu Femiziden in Deutschland, und im November 2019 richtete Kristina Wolff eine Petition an die Bundesregierung, um rechtliche Schritte gegen Femizide in Deutschland in Hinblick auf die Istanbul-Konvention einzuleiten. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren mehrere Projekte zur Dokumentierung von Femi(ni)ziden in Deutschland entstanden: One Billion Rising Deutschland, das Wiki #KeineMehr, European Observatory of Femicide — Deutschland und Feminizidmap. Zudem dokumentierten Geograf*innen aus Frankfurt Femi(ni)zide im Jahr 2019 in Hessen. Die gewonnenen Erkenntnisse ergänzen die offiziellen BKA-Berichte zu partnerschaftlicher Gewalt seit 2015, in denen nur intime Tötungsdelikte gezählt werden und der Begriff Femi(ni)zid nicht als Analyseparadigma benutzt wird.
Das Projekt „Feminizidmap“
Im Jahr 2018 wurde das Projekt Feminizidmap gegründet. Unsere Gruppe orientiert sich an der Arbeit von Feminicidio. net und daher an Monárrez. Obwohl wir unterschiedliche Auffassungen von Femi(ni)ziden haben, lautet unsere gemeinsame Ausgangsdefinition: Femi(ni)zide sind die Tötung von Frauen*, weil sie Frauen* sind, durch Männer. Das gemeinsame Ziel ist die Sichtbarmachung dieses Phänomens in Deutschland, denn ohne Daten kann dieses nicht erklärt werden.
Feminizidmap ist eine Datenbank aller Tötungen von Frauen* und Femi(ni)ziden auf deutschem Staatsgebiet ab 2019. Wir arbeiten mit einer feministischen Herangehensweise und verwenden eine weitgefasste Definition von Femi(ni)ziden, das heißt, es werden nicht nur intime Femi(ni)zide dokumentiert. Darüber hinaus arbeiten wir mit einem intersektionalen Ansatz, nehmen die Wissensproduktion des Globalen Südens ernst und lehnen die Instrumentalisierung von Femi(ni)ziden für rassistische Propaganda ab. Die Informationen erhalten wir über Google Alerts aus digitalen Medienberichten sowie über Webseiten und Netzwerke anderer (feministischer) Initiativen und Organisationen, mit denen wir in Kontakt stehen. Die Datenbank enthält rund 50 Informationsfelder, aufgeteilt in Angaben zum Opfer, zur Tat und zum Täter. Durch die Unterscheidung zwischen Femi(ni)zid und Mord beziehungsweise Totschlag werden auch Fälle mit einbezogen, die nicht eindeutig als Femi(ni)zid identifizierbar sind, sei es aufgrund fehlender Informationen oder der Umstände der Straftat. Ziel ist es, Informationen zu sammeln und die Daten zu systematisieren, um spezifische Analysen durchführen und Berichte erstellen zu können. Die Datenbank soll für politische Entscheidungsträger*innen, NGOs und die Zivilgesellschaft von Nutzen sein. Eigentlich ist es die Pflicht des Staates, diese Arbeit zu leisten und Initiativen zu finanzieren. Da es jedoch so dringend ist, dieses Problem anzugehen, haben wir beschlossen, das Projekt auf der Grundlage von Freiwilligenarbeit auf den Weg zu bringen, bis es gelingt, das Projekt wirtschaftlich nachhaltig zu gestalten.
Barrieren
Eines der Hauptprobleme im Dokumentierungsprozess ist der Zugang zu relevanten Daten, was auf die deutschen Datenschutzregelungen und die teilweise fehlende oder mangelhafte Berichterstattung zurückzuführen ist. Die Berichte des BKA zu partnerschaftlicher Gewalt seit 2015 sind ein erster Schritt, aber sie bieten nicht die Möglichkeit, Daten für spezifische Fragen zu entnehmen, insbesondere wenn es um intersektionale Analysen geht. Abgesehen von der zu kritisierenden geschlechterbinären Datenerfassung ist es beispielsweise nicht möglich, eine Gesamtzahl weiblicher Opfer oder männlicher Täter getrennt nach Nationalität zu erhalten, geschweige denn die Zusammenhänge beider (beispielsweise wie viele Männer mit deutscher Staatsangehörigkeit Frauen anderer Nationalitäten getötet haben). Diese Informationen sind wichtig, um gefährliche Narrative, wie rassistische Annahmen gegen migrantische Männer, zu entlarven und um effektive politische Maßnahmen zu entwickeln, die Femi(ni)zide verhindern können. Eine große Hilfe wäre die Analyse von Daten aus Gerichtsverhandlungen, diese zu erhalten ist jedoch — bei unterschiedlicher Praxis in den einzelnen Bundesländern — kaum möglich.
Momentan arbeiten wir hauptsächlich mit Medienberichten, wodurch der Zugang auf Fälle beschränkt ist, die Journalist*innen und Redakteur*innen für beachtenswert halten, weshalb die aktuelle Liste der Fälle unvollständig ist. Die für 2019 gesammelten Fälle zeigen eine klare Tendenz, die bereits vom BKA festgestellt wurde: Frauen* werden in Deutschland vor allem von ihren (Ex-)
Partnern getötet. Andere Femi(ni)zidfälle, die identifiziert wurden, waren familiär, nicht-intim, von Kindern, als Beistehende und prostitutionsbedingt. In rund 13 Prozent der Fälle konnte die Art des Femi(ni)zids aufgrund fehlender Verdächtiger, fehlender Informationen oder zweideutiger Medienberichte nicht ermittelt werden.
Es gibt viele mögliche Erklärungen dafür, warum andere Arten von Femi(ni)ziden in der Datenbank nicht erscheinen. Einige Fälle tauchen möglicherweise nie in den Nachrichten oder auf dem Radar staatlicher Institutionen und NGOs auf, insbesondere wenn sie im Zusammenhang mit Menschenhandel und Prostitution geschehen. Bei Berichterstattungen über Verbrechen beziehen sich Journalist*innen oft auf offizielle Quellen wie die Polizei und Strafverfolgungsbehörden, die in der Regel „nur die Fakten” einer Tat beschreiben. Diese „Fakten” können jedoch von Biases, also sozial bedingten Voreingenommenheiten, verzerrt sein und wichtige Details übersehen, die notwendig sind, um den Kontext eines Tötungsdelikts zu verstehen. Weite Teile der Medienlandschaft schreiben über Geschlechtsidentitäten nach wie vor auf binäre Weise (die rechtliche „dritte Option“ ist lediglich ein Anfang). Daher können transfeindliche Femi(ni)zide, falls sie überhaupt gemeldet werden, durch eine falsch gegenderte Berichterstattung oder fehlende Kontextinformationen verschleiert werden. Lesbofeindliche und rassistische Femi(ni)zide können ebenfalls von Letzterem betroffen sein. Für diese Fälle ist es wichtig, die Aussagen von nahestehenden Personen und/oder Menschen der Community des Opfers in die Medienberichte aufzunehmen und die Zusammenarbeit mit aktivistischen Gruppen zu verstärken.
Wo geht’s hin?
Für die Zukunft hoffen wir, die Online-Datenbank zu systematisieren, Jahresberichte vorzulegen, das Projekt nachhaltig zu gestalten und eine App zu entwickeln, mit der die Zivilgesellschaft kollaborieren kann, seien es Menschen aus dem persönlichen Umfeld der Opfer, Anwält*innen oder aktivistische Gruppen. Wir sind begeistert, immer weitere Initiativen kennenzulernen, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Ansätzen mit diesem Thema beschäftigen, und hoffen, starke Netzwerke zu bilden, die in der Lage sind, Druck auszuüben, um notwendige Veränderungen auf politischer, rechtlicher, medialer und gesellschaftlicher Ebene zu bewirken.