„Gerechtigkeit hat das Urteil nicht gebracht“

Das schriftliche Urteil im Münchener NSU-Prozess

93 Wochen Zeit hatte der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichtes München unter Vorsitz von Manfred Götzl nach der mündlichen Urteilsverkündung am 11. Juli 2018, um sein schriftliches Urteil im NSU-Prozess vorzulegen. Und tatsächlich ging das Urteil erst zwei Tage vor Ablauf der Frist, am 21. April 2020, in der Geschäftsstelle des Gerichts ein, von wo es an die Prozessbeteiligten verschickt wurde.

Im Hinblick auf diese ungewöhnlich lange Dauer blieb sich der Senat, der schon die Hauptverhandlung über weite Strecken nicht unbedingt vorangetrieben hatte, also treu. Rechtskräftig ist das Urteil damit aber noch nicht, sowohl die Bundesanwaltschaft, als auch die Angeklagten hatten bereits nach dem mündlichen Urteil Revision eingelegt, über die der Bundesgerichtshof entscheiden muss. Nach dem schriftlichen Urteil hatten Bundesanwaltschaft und die Verteidigungen — mit Ausnahme der von Carsten Schultze, der seine Revision zurückgezogen hatte — einen Monat Zeit, um die Revision zu begründen. Schultze trat bereits Anfang 2019 seine Haftstrafe an und dürfte das Gefängnis entweder in Kürze verlassen oder bereits verlassen haben. Er war zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden, hatte 2012 aber bereits vier Monate in U-Haft gesessen.

Leerstellen und Absicherung gegen Revision

Auch inhaltlich enthält das schriftliche Urteil keine Überraschungen. Es ist eine künstlich auf mehr als 3.000 Seiten aufgeblasene Version des mündlichen Urteils. Zu diesem hat Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens bereits 2019 festgestellt: „In der Rückschau muss es letztendlich wohl begrüßt werden, dass das Gericht keinen Kompromiss gewählt hat und die Nebenkläger*innen und ihre Aufklärungsinteressen nicht mit gefühligen Floskeln abgespeist und auch die Öffentlichkeit nicht mit ein paar zitierfähigen, die Bedeutung des Verfahrens anerkennenden Sätzen zufriedengestellt hat. In ihrer Rohheit hat die mündliche Urteilsbegründung an Klarheit nichts zu wünschen übriggelassen.“ Wer gehofft hatte, dass das Gericht im schriftlichen Urteil über die mündlichen Urteilsgründe hinausgeht, wurde enttäuscht. Als hätte es noch eines Beweises bedurft, spricht auch aus dem im April fertiggestellten Konvolut wie schon aus dem mündlichen Urteil der Wunsch, einen Schlussstrich unter den NSU-Komplex zu ziehen.

Dass dieses Ansinnen bisher nicht gelungen ist und wohl auch in Zukunft nicht gelingen wird, liegt ganz wesentlich an der Arbeit der Nebenklage im NSU-Prozess. 19 Anwält*innen aus der Nebenklage erklärten in einer Pressemitteilung zum schriftlichen Urteil, dieses sei „eine Fortschreibung [der] Missachtung des Gerichts gegenüber den Opfern des NSU“. Wie schon im mündlichen Urteil gehen die Richter*innen auch im schriftlichen Urteil überhaupt nicht auf die Opfer und ihre Lebensumstände ein, die Folgen der Taten für die Angehörigen spielen keine Rolle. Dies kritisieren die Anwält*innen in ihrer Pressemitteilung: „Das Urteil hätte den Mordopfern des NSU ein Gesicht geben, die Lücke beschreiben können, die ihre Ermordung gerissen hat. […] Aber kein einziges der Worte, die die Hinterbliebenen unter großer persönlicher Anstrengung in der Hauptverhandlung im Angesicht der Angeklagten geäußert haben, darüber, wer die Getöteten waren und welche Folgen ihre Ermordung für die Familien hatte, ist vom Oberlandesgericht München auf den 3.025 Seiten aufgenommen worden.“

Nicht nur in Bezug auf die Angehörigen liest sich das Urteil so, als hätten die Richter*innen über weite Teile in einem anderen Prozess gesessen. 13 Mitarbeiter*innen von Verfassungsschutzämtern hatten im Prozess ausgesagt, acht bekannte V-Leute. Dies findet im Urteil überhaupt keinen Widerhall. Kein einziges Verfassungsschutzamt wird erwähnt. Die Rolle des NSU-Netzwerks wird weitgehend ausgespart, gar negiert. Lediglich einige wenige bekannte NSU-Unterstützer*innen werden genannt. Das Urteil ist hier der Versuch, die von Ermittler*innen und Bundesanwaltschaft in die Welt gesetzte These vom isolierten Trio zu zementieren. Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hätten sich, so das schriftliche Urteil, „ohne die Unterstützung ihres Umfelds oder Gruppierungen […] entschlossen […], die sogenannten ‚Aktionen‘, also Kampfhandlungen, alleine durchzuführen“. Unterstützung etwa bei der Tatortauswahl — eine Frage, die für die Hinterbliebenen von großer Bedeutung ist — hatten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt für das Gericht nicht, einzig die drei hätten die Tatorte ausgekundschaftet. Die starken Indizien, die gegen diese Annahme sprechen, ignoriert das Urteil.

Obwohl die ideologischen Hintergründe der Angeklagten und ihrer Taten von der Nebenklage ausführlich in den Prozess eingebracht wurden, werden auch diese im Urteil weitgehend ignoriert. „Basis ihrer Handlungsweise […] war dabei ihre gemeinsame rechtsextremistische Einstellung, ihre Bewunderung des Nationalsozialismus und die Ablehnung von Ausländern, Juden sowie des Staates und seiner Institutionen in der bestehenden Organisationsform“, schreiben die Richter*innen. Bezüge zu Blaupausen, Vorbildern oder gar rechten Organisationen gibt es keine. Blood & Honour, Combat 18 und die Nagelbombenanschläge in London tauchen überhaupt nicht auf. Dagegen wird die Formel einer „rassistischen, antisemitischen und staatsfeindlichen Ideologie“ mantraartig wiederholt.

Das Urteil sei vollständig von dem Gedanken durchzogen, wie es gegen eine Revision abgesichert werden könne, bewertete der Kölner Nebenklage-Anwalt Eberhard Reinecke das Urteil, „eine Annäherung an die historische Wahrheit außerhalb des unmittelbaren Tatgeschehens“ sei „vom Gericht nicht einmal beabsichtigt“.

„Um die Wahrheit kämpfen“

Elif Kubaşık, die Frau des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, erklärte nach dem schriftlichen Urteil: „Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte. Wir wollten nichts Unmögliches. Wir wollten, dass Sie uns ernsthaft zuhören, uns, die schon vor allen anderen ahnten, dass hinter den Morden Nazis stecken. Wir wollten, dass Sie Ihre Pflicht tun. Dass Sie untersuchen, was geschehen ist, dass Sie aufschreiben, was gesagt worden ist. Die Hoffnung, Antworten zu erhalten, habe ich trotz allem und trotz Ihnen nicht ganz aufgegeben. Es gibt zu viele Menschen, die bis heute nicht loslassen, die für uns und für die ganze Gesellschaft um die Wahrheit kämpfen, die dafür sorgen, dass Mehmet und all die anderen Opfer nicht vergessen werden. Ihnen gilt meine Dankbarkeit.“

NSU-Watch hat das Urteil gemeinsam mit der Initiative Frag den Staat in einer anonymisierten Version der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (https://fragdenstaat.de/dokumente/4766-nsu-urteil/). Neues über den NSU lässt sich daraus nicht lernen, dafür aber jede Menge darüber, wie die Justiz mit dem NSU-Komplex abschließen will.

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