Der Kleinbürger
Organisierung und Lebenswelt des Stephan Ernst
Auch wenn die Tatversionen, die Stephan Ernst bisher erzählte, voneinander abweichen, so besteht kein Zweifel, dass er an der Ermordung des nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 beteiligt war. Im Mittelpunkt der Betrachtung seiner Person steht jedoch zumeist seine Einbindung in die Neonazi-Szene. Es wird Zeit, damit aufzuhören. Denn Zugehörigkeit und Bestätigung erfuhr Ernst in der AfD, im Kreis von Arbeitskollegen und im Schützenverein — und dort von Personen, die sich allesamt nicht als radikal verstehen.
Am 22. September 2020, dem 20. Verhandlungstag im Prozess gegen Markus Hartmann und Stephan Ernst wegen des Mordes an Walter Lübcke am Landgericht in Frankfurt am Main, saß Jens L. am Zeugentisch, ein ehemaliger Arbeitskollege von Ernst. Der Richter wollte wissen, ob der Tod von Walter Lübcke in der Firma Thema gewesen sei, und L. antworte: „Ja, alle in der Schicht hätten darüber gesprochen.“ Der Richter bohrte nach: „Was ist denn da so geredet worden?“ L. schwieg und senkte den Blick. Auf Nachfrage stammelte er, man habe sich eben wie so oft über Lübckes Politik gegenüber Flüchtlingen unterhalten. Die Prozessbeteiligten wussten diese Aussage einzuordnen. Trauer oder Bestürzung hatte der Tod des Regierungspräsidenten in der Schicht sicher nicht ausgelöst. Wohl eher das Gegenteil. Da wussten die Kollegen noch nicht, dass es einer von ihnen gewesen war, der Lübcke ermordet hatte.
Die Firma
Stephan Ernst arbeitete als Fräser bei einem Anlagenhersteller in Kassel. Dort teilten etliche Kollegen seine politischen Ansichten, vor allem die über Angela Merkel und deren Flüchtlingspolitik. Ernst empfahl ihnen, die Alternative für Deutschland (AfD) zu wählen und rechte Zeitschriften wie Compact Magazin und Junge Freiheit zu lesen. Habil A. war ein Arbeitskollege und Freund. Er erzählte, dass er, Ernst und weitere Kollegen 2016 an einer Kundgebung des Kasseler PEGIDA-Ablegers KAGIDA (Kassel gegen die Islamisierung des Abendlandes) teilgenommen hatten.
Ein anderer Kollege berichtete, Ernst habe in Arbeitspausen getönt, dass man „Volksverräter an die Wand“ stellen müsse und dass man Geflüchtete in ein Flugzeug setzen und über dem Mittelmeer abwerfen solle. Ein Streit zwischen den Anwesenden ob dieser Mordgedanken ist nicht überliefert. Die einen hörten weg und spielten an ihren Handys, die anderen pflichteten ihm bei und bestärkten sich gegenseitig im Glauben an einen bevorstehenden Umsturz und die Machtübernahme der AfD. Und Einzelne verstiegen sich in Fantasien von einem Bürgerkrieg, für den man sich rüsten müsse.
Ernst beschaffte Schusswaffen und vergrub diese an einer verwilderten Ecke des Firmengeländes. Wer alles davon wusste, ist bis heute nicht geklärt. Im Juni 2019 fand die Polizei dort mehrere Revolver und Pistolen, eine Pumpgun, eine Uzi-Maschinenpistole sowie Munition. Darunter war die Waffe, mit der Walter Lübcke erschossen worden war. Ernst gab an, dass er diese nach dem Mord dort versteckt und Jens L. dabei Schmiere gestanden habe. L. bestreitet das. Habil A. sagt, er sei von Ernst gebeten worden, ihm für die Nacht der Mordtat ein falsches Alibi zu geben.
In einer Vernehmung gestand Ernst, für seine Kollegen Jens L. und Timo A. Schusswaffen besorgt zu haben. Bei den folgenden Durchsuchungen fand die Po- lizei bei A. einen Smith & Wesson-Revolver. 1.200 Schuss Munition brachte A. später selbst zur Polizei. Bei L. lagen 12 Schusswaffen, die er nicht nur von Ernst erhalten hatte. In seiner Wohnung stapelten sich Nazi-Devotionalien bis unters Bett und hinter dem Sofa: Bilder von Adolf Hitler und salutierenden SS- Soldaten, Nazi-Orden, eine Hakenkreuz-fahne, eine Sammlung von Messern aus der NS-Zeit und mehr. In seiner polizeilichen Vernehmung bekannte sich L. dazu, Anhänger der AfD zu sein, doch es gibt keinen Hinweis darauf, dass er ne- ben der AfD und dem Kreis um Ernst Kontakt zu einer anderen rechten Gruppe hatte.
Die Kollegen vor Gericht
Am 22. September sagten nun Timo A. und Jens L. vor Gericht aus. Auf die Frage, warum er sich scharfe Waffen besorgt hätte, antwortete L., Stephan Ernst sei der Meinung gewesen, man müsse sich „wegen der Flüchtlinge“ bewaffnen. Er selbst habe nie mit dem Gedanken ge- spielt, die Waffen einzusetzen, sondern diese beschafft, um sich besser zu fühlen. Der heute 49-jährige L. war und ist eine vereinsamte Person, in deren Leben es offenkundig nur seine Begeisterung für Waffen und den Nationalsozialismus, seine Arbeit und ein paar Kollegen gab. Er war politisch vollkommen unerfahren und hatte keine Vorstellung davon, dass er Repression erfahren und im Blickfeld der Öffentlichkeit stehen würde. Gegen ihn wurde von der Staatsanwaltschaft Kassel Anklage wegen unerlaubten Erwerbs und Besitzes von Schusswaffen und Munition erhoben.
Gegen Timo A. ist das Verfahren bereits mit einem Strafbefehl eingestellt worden, gegen den er Widerspruch einlegte. A. erzählte, er habe den Revolver nur besorgt, da er psychische und private Probleme gehabt habe und sich habe „suizidieren“ wollen. Wofür aber dann 1.200 Schuss Munition? Diese Frage stellte das Gericht nicht. Ernst hatte in einer Vernehmung Timo A. und Jens L. als Kollegen benannt, die seine politische Gesinnung geteilt hätten. Das wiesen beide vor Gericht von sich. A. will mit Ernst niemals über Politik geredet haben. Und L. beteuerte, er sei kein Rechter und habe die Nazi-Devotionalien nur als „Wertanlage“ gesammelt.
Der Schützenverein
Im Schützenclub 1952 Sandershausen, in dem Stephan Ernst und Markus Hartmann einen Teil ihrer Freizeit verbrach ten, waren mehrere rechte Kollegen aus Ernsts Firma Mitglied. Auch hier fielen die bekennenden Feinde von Merkel und Geflüchteten nicht negativ auf. Ein Vorstandsmitglied berichtete, dass sich alle im Verein über die Flüchtlingspolitik aufgeregt hätten. Auch soll im Schützenclub von einem Mitglied offen für die AfD geworben worden sein.
In den Verein war Ernst durch Hartmann gekommen. Hartmann besaß einen Waffenschein und war berechtigt, mit scharfen Waffen zu schießen und diese zu erwerben. Der Versuch der Waffenbehörde, dem polizeibekannten Neonazi den Waffenbesitz zu untersagen, war 2015 gescheitert, da das Verwaltungsgericht in Kassel seine neonazistischen Aktivitäten nicht ausreichend belegt sah. Der hessische Verfassungsschutz hatte damals jüngere Erkenntnisse über ihn nicht an das Gericht weitergegeben.
Auf der Vereinsanlage und in der Wäldern der Umgebung brachte Hartmann Ernst das Schießen bei. An mindestens einer Feier auf dem Vereinsgelände nahmen neben Hartmann und Ernst auch Hartmanns damalige Lebensgefährtin Lisa D. und Hartmanns bester Freund, der Neonazi Alexander S. aus dem mittelhessischen Alsfeld, teil. Auch Lisa D. gehörte der Neonazi-Szene an und war im Besitz ei- nes Waffenscheins. Viele im Verein wussten, dass Ernst, Hartmann und andere Vereinsmitglieder weit rechts standen, doch niemand versuchte zu verhindern, dass diese sich an Waffen ausbildeten.
Die „Alternative für Deutschland“
Das politisch-soziale Umfeld von Ernst bestand größtenteils aus Personen, die sich zur AfD bekannten oder ihr nahe standen: sowohl die rechten Kollegen in der Firma und im Schützenverein, als auch seine FreundInnen aus der Neonazi-Szene. Die AfD war Konsens und Sammelbecken für die genannten Personenkreise aus unterschiedlichen rechten Spektren.
Am 1. Mai 2017 nahm Stephan Ernst mit seinem damals 15-jährigen Sohn, Markus Hartmann, Lisa D. und Alexander S. an einer AfD-Kundgebung in Erfurt teil, 2018 besuchte er AfD-Demonstrationen in Eisenach und Erfurt, und am 1. September 2018 reiste er mit Hartmann zu einem rechten Aufmarsch in Chemnitz, zu dem auch die AfD aufgerufen hatte. Er spendete mindestens zweimal an die AfD, besuchte mehrmals AfD-Stammtische und half im Wahl- kampf 2018, in Kassel Wahlplakate der Partei an Laternenmasten zu befestigen. Der Neonazi, der gestanden hat, den nordhessischen Regierungspräsidenten erschossen zu haben, stand der AfD nicht nur nahe, sondern war für sie aktiv. Dies war bislang im Prozess kein Thema und der Öffentlichkeit keinen Aufreger wert.
Der Waffenverkäufer
Seine Waffen erhielt Ernst von Hartmann und von Elmar J. aus der kleinen Stadt Borgentreich im Landkreis Höxter (NRW), 40 Kilometer von Kassel entfernt. Von J. erwarb Ernst 2016 auch den Revolver der Marke Rossi, mit dem Lübcke ermordet wurde. Den Kontakt zu J. hatte Hartmann hergestellt. Hartmann und J. hatten sich auf Flohmärkten ken- nengelernt, wo beide mit NS-Militaria handelten. Daraus wuchs ein Vertrauensverhältnis. Und als Ernst Hartmann nach Schusswaffen fragte, habe ihn die- ser — so Ernst — an J. vermittelt. Der heute 65-jährige J. lebt in einem Haus mit einer Gaststätte im Erdgeschoss, die er nicht mehr gewerblich betreibt und die noch im Jahr 2019 wie ein Nazi-Museum eingerichtet war: An den Wänden gerahmte Bilder von Nazi-Führungspersonen, Nazi-Panzern und Nazi-Soldaten, an der Theke eine Holzfigur mit einem zum Hitlergruß ausgestreckten Arm.
In der Kneipe fanden gelegentlich Feiern im privaten Kreis statt, 2017 oder 2018 zählten auch Ernst und Hartmann zu den Gästen. Bekannte von J., die nicht erkennbar der rechten Szene zugehören und daran teilnahmen, berichteten, dass dabei ausschließlich normale Schlagermusik gespielt worden sei und dass sie vom Gastgeber und seinen Gästen keine radikalen Sprüche vernommen hätten. Doch sie hatten offensichtlich kein Problem damit, ganz unpolitisch unter Hitler-Bildern und neben einem den Hitlergruß entbietenden Holzmännchen zu feiern.
J. hat eine sichtbare Affinität zur Rocker-Szene. Nachbarn raunen über seine Verbindungen zu einem bekannten Motorradclub, doch Mitglied ist er dort sicherlich nicht. Auf dem Nachbargrundstück von ihm gab es vor einigen Jahren eine Razzia, bei der die Polizei nach illegalen Schusswaffen suchte, die sich ein in Borgentreich wohnhaftes Mitglied der „Reichsbürger“-Gruppe Freistaat Preußen beschafft haben soll. In welchem Verhältnis Elmar J. zu diesem steht, ist unklar. Die Ermittler*innen gaben sich bislang wenig Mühe, das politische Umfeld von Elmar J. aufzuklären.
Eine Angelegenheit von Männern
Die Kreise um Hartmann und Ernst auf Flohmärkten, im Schützenclub und in der Firma sind Männerwelten. Im politischen Milieu der beiden spielte allenfalls Hartmanns Ex-Partnerin Lisa D. zeitweise eine Rolle. Anna Ernst, die Ehefrau von Stephan Ernst, ist Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas und gab in ihrer Aussage vor Gericht an, nichts über die politischen Freunde und Aktivitäten ihres Mannes zu wissen. Es scheint, als hätten die Eheleute Ernst außerhalb des Familienalltags unterschiedliche Leben gelebt und keine Hobbys, keine Freund*innen und keine Themen miteinander geteilt. Die gemeinsame Tochter ging mit der Mutter zu den Zeugen Jehovas, der gemeinsame Sohn übte mit dem Vater Kampfsport und Bogenschießen und begeisterte sich für das Militär.
Stephan Ernst ist noch eines weiteren Verbrechens angeklagt. Am 6. Januar 2016 soll er in Lohfelden bei Kassel Ahmed I. niedergestochen haben. Die Tat geschah in unmittelbarer Nähe der Geflüchteten-Unterkunft, in der Ahmed I. damals lebte. Für die Einrichtung dieser Unterkunft hatte sich Walter Lübcke eingesetzt, weswegen er von Rechten angefeindet worden war. Die mutmaßliche Tatwaffe wurde im Haus von Stephan Ernst gefunden, gestanden hat er die Tat bisher nicht.
In seiner Vernehmung am 25. Juni 2019 erzählte Ernst, die Silvesternacht in Köln wenige Tage vor dem Mordanschlag auf Ahmed I. sei für ihn ein „Schlüsselereignis” gewesen: „Was das in mir ausgelöst hat, können Sie sich wahrscheinlich nicht reinversetzen. […] Ich war außer mir, dass das passieren konnte.“ Ernst und sein Kreis sahen sich nunmehr als deutsche, weiße Männer aufgerufen, „ihr“ Land und „ihre“ Frau en vor „den Fremden“ zu schützen. Auf einer AfD-Demonstration am 28. Januar 2018 in Erfurt, an der auch Ernst teilnahm, schlug Björn Höcke von der AfD in exakt diese Kerbe, als er sagte: „Wir sind vor allem in Sorge um unsere Töchter und unsere Frauen. Wir sind in Sorge um unsere Kultur und unsere Identität.“ Zugleich machte Höcke die „Politikerkaste“ für die Einwanderungspolitik und die daraus angeblich erwachsende Ge- fahr für Frauen und Mädchen verantwortlich. Mit Ahmed I. und Walter Lübcke traf es also zwei Personen aus genau denjenigen Gruppen, die im Mittelpunkt der extrem rechten Hetze in diesen Jah- ren standen: einen jungen Geflüchteten und einen Politiker, der dessen Unterbringung organisiert hatte.
Übliche Abwehrreflexe
Ernsts Kollegen im Verein und in der Firma zeigen sich heute teils betroffen, lehnen aber jede Verantwortung ab. Alle sagen, sie hätten nicht ahnen können und keine Anzeichen dafür gesehen, dass Ernst einen Mord begehen würde. Niemand von ihnen will jemals radikal gewesen sein. Lisa D., die sich ihr Hakenkreuz-Tattoo entfernen ließ, jedoch noch immer ein Tattoo mit dem SS-Leit- spruch „Meine Ehre heißt Treue“ trägt, nennt sich zwar „eher rechts“ einge- stellt, will jedoch immer gegen Gewalt gewesen sein. Elmar J. nennt sich „rechts-konservativ“ und distanziert sich von „Radikalen“. Jens L. und Timo A. wollen heute nicht einmal rechts gewesen sein. Dass sich Neonazis mit der Aussicht auf ein mildes Urteil bei der Polizei und vor Gericht von ihrer Szene distanzieren, ist häufig zu beobachten. Doch hier ist die Sachlage anders: Viele der rechten FreundInnen von Stephan Ernst sahen und sehen sich tatsächlich nicht als radikal. Die Erkenntnis, dass Ernst einer von ihnen war, lassen sie nicht an sich heran.
In der Berichterstattung über Stephan Ernst steht meist seine neonazistische Vergangenheit und Gegenwart im Mittelpunkt: dass er früher in der NPD war, dass er 2009 bei einem Neonazi-Aufmarsch einen Stein nach einem Polizisten warf, dass er Kontakte zu Personen des Combat 18-Netzwerkes hatte — was sich in der Kasseler Szene, wo alle AktivistInnen einander kennen, gar nicht vermeiden lässt. Mit der Fokussierung auf die militante Neonazi-Szene wird der Mord an Walter Lübcke für viele Menschen begreifbarer, weil dadurch Stephan Ernst als jemand erscheint, der ganz weit rechts im gesellschaftlichen Abseits steht. Es ist der bekannte Reflex der Schuldabwehr, der die deutsche Ge- sellschaft seit 1945 prägt: Die Nazis, die Verbrecher, das sind stets die Anderen, Verrückten und Personen von außerhalb. Dieser gesellschaftliche Konsens wurde im „Aufstand der Anständigen“ vor 20 Jahren aufs Neue bestätigt. Sinngemäß „Wir, die Guten, sind die Gesellschaft. Die Anderen, die Bösen, gehören nicht dazu.“
Doch Stephan Ernst war kein „Anderer“ und keiner von außerhalb. Er war kein Schläfer, der von einer Organisation losgeschickt wurde. Er war kein „einsamer Wolf“, der sich mit einer bürgerlichen Fassade tarnte. Die Familie, das Einfamilienhaus, der Schützenverein, die Arbeitsstelle und die Kollegen bildeten seine authentische Lebenswelt. Dort war er aufgehoben. Er brauchte keine Combat 18-Kontakte und keine Terror-Konzepte, um handlungsfähig zu werden. Er erhielt seinen Antrieb im Kollegenkreis, im Verein und auf KAGIDA- und AfD-Veranstaltungen. Dort erfuhr er Bestätigung für seine rassistischen und gesellschaftsfeindlichen Tiraden. Alle seine Claqueure, die bislang in den Zeitungen, den Fernsehsendungen und im Prozess zu Wort kamen, empfinden sich als das ganz „normale“ und „anständige Deutschland“. Letztendlich war Stephan Ernst derjenige, der umsetzte — und der aufgrund seiner Gewalterfahrung und seiner neonazistischen Vernichtungsideologie dazu auch in der Lage war –, was sie nur fantasierten: einen „Volksverräter“ hinzurichten.