„Nicht zufriedenstellend“
Zum Abschneiden der AfD bei den Kommunalwahlen in NRW
Auf gerade einmal 5,1 Prozent kam die AfD bei den Kommunalwahlen am 13. September 2020 in NRW. Gehofft hatte sie mindestens auf das Doppelte. Die Fortsetzung der internen Auseinandersetzungen ist garan- tiert. Der Landesverband bleibt tief gespalten.
Von AfD-Ossis, zumal solchen mit „Flügel“-Affinität, will man sich als AfD-Politikerin West mit dem Anspruch, zu den Seriöseren zu zählen, nichts sagen lassen. Was Bundessprecher Tino Chrupalla denn eigentlich über NRW wisse, fragt also die Bochumer Landtagsabgeordnete Gabriele Walger-Demolsky. Wer sich im Osten verschanze, werde NRW nicht begreifen, wirft sie ihrem Parteifreund aus dem fernen Görlitz vor. „Herr Chrupalla“ gebe halt seine Tipps nur vom Schreibtisch aus. Walger-Demolskys Kreischef Markus Scheer verbittet sich Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der AfD im Westen: „Wer als Bundessprecher meint sich zum ‚schlechten‘ Wahlergebnis in NRW äußern zu müssen, sollte mal vor der eigenen Haustüre kehren.“ Chrupalla möge der AfD in NRW lieber den Rücken stärken, „anstatt uns zu demotivieren“, schimpft Scheer und endet mit den Worten: „Danke für nichts, lieber Herr Chrupalla.“
Was hat Chrupalla verbrochen? Ein 75-Sekunden-Video und ein einziger Satz auf Facebook haben Walger-Demolsky und Scheer in Wallung gebracht. „Nicht zufriedenstellend“ nennt Chrupalla im Video das Kommunalwahlergebnis und empfiehlt seiner Partei, für die „vergessenen Arbeiter und Angestellten“ da zu sein. „Zwar erzielen wir starke Ergebnisse im Ruhrgebiet, doch können wir das Wahlergebnis von 5 % nicht in Altparteienmanier schönreden.“ Derlei Belehrungen — noch dazu aus seinem Mund — will man nicht hinnehmen bei denen, die im Lager der angeblich „Gemäßigten“ stehen. Dabei hatte AfD-Landeschef Rüdiger Lucassen eigentlich ganz ähnlich formuliert wie Chrupalla. Noch während am 13. September die Stimmen ausgezählt wurden, räumte er ein, die AfD habe ihr Ziel, zweistellig abzuschneiden, nicht erreicht. „Natürlich sind wir mit dem Ergebnis nicht zufrieden“, sagte er zwei Tage später.
Doch was er sonst mitzuteilen hatte, fällt eher in die Kategorie des Schönredens: etwa, dass die AfD, die er allen Ernstes eine „kleine Volkspartei“ nannte, nun flächendeckend in NRW präsent sei. Und in einer Diskussionsrunde am Wahlabend beharrte er darauf, immerhin gehöre die AfD doch zu den zwei oder drei Parteien, die an diesem Tag zugelegt hätten. Die Zahlen schienen ihm Recht zu geben. Verglichen mit der Kommunalwahl 2014 legte seine Partei tatsächlich um 2,6 auf nun 5,1 Prozent zu. 371.618 Bürger*innen stimmten für die AfD; 2014 waren es erst 179.485 Menschen. Allerdings: Gehofft hatten Lucassen und sein sich „bürgerlich“ gebender Landesvorstand mindestens auf das Doppelte. Deutlich blieb die NRW-AfD auch entfernt von ih- ren Ergebnissen bei anderen Wahlen. 7,4 Prozent holte der Landesverband bei der Landtagswahl 2017, 9,4 Prozent bei der Bundestagswahl im selben Jahr, 8,5 Prozent bei der Europawahl im Mai 2019.
Nur in einer Stadt über zehn Prozent
Lucassen verwies auf das Ergebnis in Gelsenkirchen. Auf 12,9 Prozent kam die AfD dort. Doch das sollte an diesem Tag die einzige kreisfreie Stadt mit einem zweistelligen Wert bleiben. Mit deutlichem Abstand folgten Hagen und Duisburg mit jeweils 9,3 Prozent, Herne (8,5), Oberhausen (7,6) und Essen (7,5). Noch schwächer schnitt die AfD in den Landkreisen ab. Im AfD-internen Ranking führten Recklinghausen (7,1) und Siegen-Wittgenstein (6,7) vor Euskirchen (6,5) und Düren (6,4). Ganz am Ende der Rangliste standen Remscheid (1,0) und der Kreis Coesfeld (0,6). Dort hatte die AfD nur so wenige Wahlbezirke besetzen können, dass sie nicht annähernd flächendeckend wählbar war. Über 185 Mandate verfügt die AfD künftig in den Räten der kreisfreien Städte und in den Kreistagen: 167 Männer und 18 Frauen wurden auf dem Ticket der Partei gewählt.2014 waren es 89 Mandate für 83 Männer und sechs Frauen. Hinzu kommen weitere Sitze in kreisangehörigen Kommunen sowie sieben Ver- treter*innen im Ruhrparlament: sechs Männer und eine Frau.
Die AfD als Männerpartei — bei der Besetzung der Mandate wie bei den Wählenden: Sieben Prozent der Männer, aber nur drei Prozent der Frauen stimmten für die AfD. Die neun höchsten Ergebnisse steuerten Kreisverbände aus dem Ruhrgebiet bei. Allerdings fällt auf, dass die AfD im östli- chen Ruhrgebiet vergleichsweise schwach abschnitt. So kam sie in Bo- chum lediglich auf 5,6, in Dortmund auf 5,5, im Ennepe-Ruhr-Kreis auf 5,3, im Kreis Unna auf 5,0 und in Hamm gar auf nur 4,7 Prozent.
Zu den regionalen Schwachstellen der AfD zählen neben einigen ländlichen Regionen insbesondere im Münsterland, im Sauerland und im südwestlichen NRW auch Städte, die deutlich universitär geprägt sind und/oder einen großen Dienstleistungs- bzw. Verwaltungssektor aufweisen. So wählten in Köln nur 4,4, in der Stadt Aachen 3,7, in Düsseldorf 3,6, in Bonn 3,2 und in Münster gar nur 2,2 Prozent die AfD. Als Faustregel gilt: Je „jünger“ eine Stadt, umso dürftiger das AfD-Ergebnis. Nur drei Prozent der Wähler*innen unter 25 Jahren machten ihr Kreuz bei der Partei.
Kandidat*innen händeringend gesucht
Größtes Problem der AfD war die Rekrutierung von Kandidat*innen. Noch bis kurz vor Abgabeschluss der Wahlvorschläge Ende Juli war die AfD händerin- gend auf der Suche nach Personal, um möglichst viele Wahlbezirke abdecken zu können. Ihr Kreisverband Minden-Lübbecke etwa appellierte noch drei Tage vor dem Stichtag, man könne „mit zwei Unterschriften helfen, damit die AfD in voller Stärke antreten kann“. Es klang so, als ginge es um Unterstützungsunterschriften. Zu unterzeichnen war freilich keine Unterstützungserklä- rung, sondern die Erklärung, selbst zu kandidieren. Manche*r bemerkte das zu spät und sah sich anschließend getäuscht.
Einmal mehr erwies sich die Partei als Sammelbecken für Rechtsaußen-Politiker, deren vorherige Organisationen gescheitert sind. Ein früherer pro NRW-Vize kandidierte für die AfD in Aachen, ein früherer pro Deutschland-Landesvize im Oberbergischen Kreis, ein ehemaliges Republikaner-Vorstandsmitglied in Porta Westfalica. Das Bild einer seriös-demokratischen Partei ließ sich auch sonst nur schwerlich vermitteln. Etwa wenn — wie in Leverkusen — ein AfD-Kreisvorsitzender mit auffälliger Nähe zur Identitären Bewegung für den Rat kandidierte oder wenn — wie in Emmerich — eine Kandidatin antrat, die zuvor im Umfeld der extrem rechten Bruderschaft Deutschland aktiv war und zumindest zeitweise der ebenfalls extrem rechten Schwestern- schaft Deutschland angehörte.
Neben einem zweistelligen Ergebnis verfolgte die AfD im Vorfeld der Wahl zwei parteiinterne Ziele. Zum einen ging es ihr um den Ausbau der Parteistrukturen durch den Aufbau neuer Stadtverbände. Hier und da gelang das auch, allerdings — wohl auch wegen der Corona-bedingten Beschränkungen — längst nicht in dem Ausmaß, wie in anderen Bundesländern. Zum anderen hoffte man in der AfD auf eine disziplinierende Wirkung des Wahlkampfs und damit auf eine Befriedung der innerparteilichen Ausei- nandersetzungen. Dieses Ziel erwies sich als nicht umsetzbar. Der Landesverband bleibt tief gespalten. Als Folge der internen Streitigkeiten blieb die AfD bei den Kreistagswahlen in Unna und Coesfeld ohne Reservelisten. Im Kreis Unna zog der „gemäßigte“ Bezirksvorstand Arnsberg die Liste zurück, die ihm zu „Flügel“-lastig erschien. Im Kreis Coesfeld cancelte im Gegenzug der „Flügel“-orientierte Bezirksverband Münster die ohnehin nur aus zwei Kandidat*innen bestehende „gemäßigte“ Liste. Ein Ausschlussverfahren gegen den Bezirksvorsitzenden Steffen Christ, der auch eine Kandidatur in der Stadt Münster selbst kippen wollte, folgte.
In der NRW-AfD greift man gerne zum Instrument des Parteiordnungsverfahrens. In anderen Städten und Kreisen wurden Aufstellungsversammlungen wieder holt, damit am Ende Reservelisten zustande kamen, die auch bei den örtlichen Kreisvorständen auf Gefallen stießen. Wiederum andernorts wurden einzelne Kandidaten von den Listen gestrichen.
Missgunst, Rachsucht, gegenseitige Abneigung
Über dem Konglomerat an Missgunst, Rachsucht und gegenseitiger Abneigung thront Landeschef Lucassen. An die Mitglieder in NRW schrieb er vor der Wahl, er habe es „sehr bedauert, dass zu einem kleinen Teil auch Widerstand aus den ei- genen Reihen kam und Funktionsträger aus unterschiedlichen Motiven einge- reichte Listen torpediert haben oder nicht zustande kommen lassen wollten“. Er wolle, versicherte Lucassen, „wo immer es geht, für einen gemeinsamen Erfolg — auch bei unterschiedlichen par- teiinternen Strömungen — werben“. Die Drohung folgte umgehend: „Allerdings werde ich auch den ganz Wenigen, die meinen, sich auf Kosten der weitaus überwiegenden Zahl von gutwilligen und engagierten Parteikollegen austo- ben zu müssen, die Grenzen aufzeigen.“ Wen genau er meinte, verriet er nicht —Christ durfte sich aber sicher angesprochen fühlen.
Das Ergebnis der Wahl hat Lucassens Position geschwächt. Auch seine drei Stellvertreter sind beschädigt. In Münster schaffte es Martin Schiller, Landesvize und quasi der „Obergemäßigte“ in NRW, ein schon vor sechs Jahren eher dürftiges Ergebnis in ein vollends desaströses zu verwandeln: Von 2,6 Prozent schrumpfte die AfD auf nur noch 2,2 Prozent. In Dortmund, wo mit Matthias Helferich ein weiterer Lucassen-Stellvertreter aktiv ist, landete die AfD bei 5,5 Prozent — nichts war es dort mit dem erhofften großen Ruhrgebietsbonus. Lucassens dritter Stellvertreter Michael Schild hatte gar mit dafür gesorgt, dass seine Partei im Kreis Unna ganz ohne Kandidatenliste blieb — und damit trotz ihrer 5,0 Prozent auch ohne jede Chance auf den Einzug in den Kreistag.
Zwar lieferten auch die führenden Kräfte mit „Flügel“-Orientierung nur mäßige Wahlergebnisse ab. Der Landtagsabgeordnete Christian Blex, Ex-„Flügel“-Organisator in NRW, konnte das Ergebnis im Kreis Warendorf gerade einmal um 0,4 auf 3,4 Prozent steigern. In Minden, wo sein „Flügel“-naher Abgeordnetenkollege Thomas Röckemann als Landratskandidat antrat, legte die AfD ebenfalls nur unterdurchschnittlich um 1,7 auf 5,9 Prozent zu. In Hamm, wo ein weiterer Parteirechtsaußen Regie führt, standen am Ende lediglich 4,7 Prozent zu Buche. Dennoch: Die Gelegenheit, Lucassen und seine Stellvertreter als die Schuldigen am Wahldebakel der AfD in NRW zu präsentieren, werden sie sich nicht entgehen lassen.
Fortsetzung folgt
Damit ist eine Fortsetzung der internen Auseinandersetzungen vorgezeichnet. Gelegenheiten gibt es in den nächsten Monaten reichlich. Zunächst geht es bis Februar um die Landesliste für die Bundestagswahl. Setzt sich der „moderatere“ Landesvorstand durch, stehen mindestens drei, vielleicht auch vier Bundestagsabgeordnete auf der Abschussliste — wahlweise wegen zu großer „Flügel“-Nähe oder wegen zu viel Meuthen- Abneigung. Wenn das Gerangel um die vorderen Plätze auf der Bundestagsliste ausgestanden ist, steht die Vorbereitung auf die Landtagswahl 2022 auf dem Pro- gramm.
Dabei dürften Lucassen und sein „Flügel“-loser Vorstand alles daransetzen, eine erneute Kandidatur von Blex und Röckemann zu verhindern. Das dürfte schwierig werden, weil beide in ihren Bezirksverbänden Ostwestfalen und Münster Unterstützung genießen. Weiterer Zoff ist also garantiert.