Politikwissenschaftlerin Dorothee Dienstbühl steht NRW-Innenminister Reul (l.) medienwirksam zur Seite. Hier am 25. November 2019 bei „Hart aber fair".
Superbass (CC-BY-SA-4.0)

Ein Manifest des institutionellen Rassismus

Die Broschüre der Essener Polizei zur „Clankriminalität“

Ein interner Leitfaden der Polizei Essen/Mülheim zur Bekämpfung der sogenannten Clankriminalität wurde aufgrund der darin verwendeten rassistischen Stereotypen über nicht-weiße Menschen und den daraus abgeleiteten drastischen Maximen polizeilichen Handelns massiv kritisiert. Die Autorin ist keine Unbekannte: Die Politikwissenschaftlerin Dorothee Dienstbühl ist eine der gefragtesten „Expert:innen“ zum Thema. Ein Blick in ein besorgniserregendes Ergebnis von institutionellem Rassismus und rechter Sicherheitspolitik.

Die Broschüre ist Teilergebnis einer langfristig angelegten Kampagne des NRW-Innenministeriums und muss in diesem Kontext betrachtet werden: Das Thema „Clankriminalität“ ist seit mehr als zwei Jahren ein Schwerpunkt der Polizei in NRW. Mit dem 2018 erstmals vorgestellten „Lagebild Clankriminalität“ setzte CDU-Innenminister Herbert Reul das Thema mit drastischen Worten auf seine persönliche Agenda: Das Problem wäre jahrelang aus „falsch verstandener politischer Korrektheit“ nicht angefasst worden. Damit sei „nun endlich Schluss“, es gelte „nicht das Gesetz des Clans, sondern das Gesetz des Staates“, verkündete Reul damals.

Derart eingeschworen, handelt die Polizei seitdem landesweit mit drastischen Maßnahmen: Razzien in Shisha-Bars, Schwerpunktkontrollen im öffentlichen Raum, die Deklaration gefährlicher Orte sowie eine umfangreiche Datensammlung über mutmaßliche Clanmitglieder. Unabhängig von den meist eher mageren Funden und noch dünneren Ermittlungsergebnissen werden diese Maßnahmen oft öffentlichkeitswirksam inszeniert. Teils waren Innenminister Reul oder andere CDU-Politiker:innen persönlich vor Ort, die ausgewählte Presse wurde vorab informiert. Das mediale Framing im Nachgang ist stets das Gleiche: Im Umfeld mehrheitlich nicht-weißer, migrantisch geprägter Communities wären mafiöse Strukturen und mit ihnen „Parallelgesellschaften“ und „rechtsfreie Räume“ entstanden und der Staat reagiere nun in Form von Polizei und Justiz mit der notwendigen — sprich vollen — Härte, um sein Rechtssystem wiederherzustellen und durchzusetzen.

Zu diesem Zweck entstanden in vielen Polizeibehörden „Sonderkommissionen“ oder „Besondere Aufbauorganisationen“ (BAO). In Essen besteht seit dem 1. Dezember 2018 die „BAO Aktionsplan CLAN“, die auch als Herausgeberin der Broschüre „Arabische Familienclans — Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung“ auftritt, deren Autorin die Politikwissenschaftlerin Dorothee Dienstbühl ist.

Dienstbühls wissenschaftliche Karriere liest sich wie eine Chronik der aktuellen Schlagworte konservativer Sicherheitspolitik: Basierend auf der Extremismustheorie orientierte sie sich vom Forschungsfeld des Islamismus nach ihrer Promotion erst hin zur Jugendgewalt, bevor sie ab 2015 schließlich das Thema „Clankriminalität“ zu ihrem Hauptarbeitsfeld machte. Dass Dienstbühl keine Scheu vor medienkompatiblen Verkürzungen komplexer Materie hat, sicherte ihr regelmäßig mediale Aufmerksamkeit und öffnete Türen: Seit 2016 ist sie Dozentin an der Hochschule der Polizei NRW und seit August 2020 dort auch Extremismusbeauftragte. Mit ihrer politischen Linie, u.a. lieferte sie für das Magazin der Gewerkschaft der Polizei den Leitartikel zum Thema „Linksextremismus“ und beschwor darin die Gefahr einer „neuen RAF“ (vgl. LOTTA #80, S.19), sicherte sie sich den vollen Rückhalt von NRW-Innenminister Reul, der Dienstbühl und die Polizei Essen in einer Stellungnahme im Landtag gegen jegliche Kritik verteidigte. Zusammen mit ihm trat sie auch in TV-Debatten auf und sekundierte ihm dort mit ihrer „wissenschaftlichen“ Expertise.

Renaissance der „Sippenhaft“

Bereits in dem gemeinsam mit Polizeipräsident Frank Richter verfassten Vorwort wird Framing, Ziel und Ergebnis der gesamten folgenden „Analyse“ deutlich. Richter und Dienstbühl bauen das abstrakte Feindbild des „Clans“ auf, ohne es ausreichend definieren zu können: „Arabische“ und „kriminelle“ — gerne auch im Synonym gebraucht — „Familienclans“ sind demnach alle, aber insbesondere „arabisch-stämmige“ Familien, deren Mitglieder „überproportional häufig in strafrechtlich relevante Erscheinung treten“. Was ein solches Familiengefüge auszeichnet, wann man „strafrechtlich relevant in Erscheinung tritt“ (Beschuldigte:r? Geschädigte:r? Zeug:in? Verurteilte:r?) und ab welchem Maß dies „überproportional“ geschieht (durchschnittliche Kriminalitätsrate nach Altersgruppe/Geschlecht/Region… ?), kurz gesagt: was Menschen also zu „Mitgliedern“ eines „Clans“ macht — diese Antwort bleiben Dienstbühl und Richter schuldig. Stattdessen erfolgt eine, wie sie es nennen, „notwendige Kollektivbetrachtung“, die schlichtweg alle Mitglieder von Familien, die aus Sicht der Polizei Essen einen „Clan“ darstellen, als potenziell kriminell markiert.

Auf eine „stetige Abgrenzung zwischen Clanmitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten und solchen, die es nicht sind“, verzichten die Autor:innen, wie sie selbst schreiben, ganz bewusst. Sie begründen dies damit, dass auch nicht-kriminelle Familienmitglieder zum einen die gleichen Denkmuster teilten und zum anderen oftmals von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen würden. Das ist die Renaissance der im Mittelalter entwickelten und in der NS-Justiz weit verbreiteten „Sippenhaft“ im Gewand des polizeilichen Ermittlungsverfahrens.

Polizei im „Krieg“

Konsequent werden auch die drei Leitfragen der Broschüre nach einem Wir-gegen-Die-Schema formuliert: „Wie und nach welchen Regeln leben sie? Was ist ihnen wichtig? Wovor haben sie Angst?“ Insbesondere die letzte Frage macht unmissverständlich deutlich, dass es Dienstbühl nicht um eine kriminologische Betrachtung geht, sondern darum, Polizeibeamt:innen auf einen Kampf einzuschwören. Die Exekutive definiert hier einen Feind und setzt sich die Rahmenbedingungen zu dessen Bekämpfung selbst.

Es folgen einige Seiten Abhandlung über „Historie & Familiengefüge“ von „Clans“, die sich vor allem durch ihre Oberflächlichkeit, die Reproduktion von Stereotypen und inhaltliche Fehler auszeichnen. Insbesondere der Versuch, auf einer knappen Seite eine Abhandlung über den Islam zu verfassen, scheitert und strotzt nur so vor widerlegbaren Pauschalisierungen sowie fehlerhaften Interpretationen einer komplexen Materie. Im Anschluss werden dann unter den Schlagworten „Paralleljustiz, Ehrgefühl, Anspruchsdenken“ bekannte Narrative der konservativen bis extremen Rechten reproduziert. „Clans“ werden dabei als Aggressoren gelabelt, die ein den „westlichen Demokratien“ diametral entgegengestelltes Verhältnis zur „Ehre“ „kultiviert“ hätten und daraus gegenüber Außenstehenden ein „Anspruchsdenken“ sowie eine Legitimation von Gewalt gegen diese ableiten würden. Hier wird ein „Kampf der Kulturen“ impliziert, den man so auch von der Identitären Bewegung, der NPD und anderen extrem rechten Organisationen kennt.

Dienstbühl beendet diese Abhandlung mit der Feststellung, die „Clans“ hätten dem Staat und seinen Behörden implizit den Krieg erklärt und diese Kriegserklärung müsse „als solche vom Gegenüber aufgegriffen werden“. Im Klartext: Die Polizei befindet sich in einem Krieg mit den Clans. Damit legt sie endgültig die Basis für die folgende Feindanalyse und Strategiediskussion.

Jenseits des Rechtsstaats

Anhand der Fragen „Was wollen/brauchen sie?“, „Wovor haben sie Angst?“, „Wo sind sie zu treffen?“ eruiert Dienstbühl, wo mögliche Schwachpunkte der „Clans“ sind. Die in Tabellenform gehaltenen Gegenüberstellungen führen nochmals zu einer Verkürzung der Thesen und abstrahieren vom Einzelnen hin zum Kollektiv. Ein gewolltes Mittel: An dieser Stelle ist das Feindbild bereits definiert, es gilt nun, dieses zu verfestigen. So wird „Clans“ etwa unterstellt, sie würden externe Feindbilder benötigen, um sich nicht gegenseitig zu bekämpfen, sie hegten „Rachegefühle“ gegen Deutschland und würden gegenüber dem Staat einen „Opferkult“ betreiben, um ihre kriminellen Machenschaften zu legitimieren. Angst hätten „Clanmitglieder“ primär vor dem Verlust von „Ehre“ und „Macht“ und genau dort sieht Dienstbühl dann auch Chancen für Behörden, aktiv zu werden. Spätestens an dieser Stelle verlässt sie endgültig den rechtsstaatlichen Rahmen, wenn sie zum Beispiel eine „sichtbare Beugung des Einzelnen bei Kriminalität“ als Option formuliert und sogar einen „gezielten Angriff“ auf für „Clans tätige Anwälte“ durch die Behörden empfiehlt.

Da Gerichtsverfahren nur teilweise Erfolg versprächen, schlägt Dienstbühl eine gesamtbehördliche Strategie vor, um „Clankriminalität“ nachhaltig zu bekämpfen. Hier sollen Behörden unter Koordination der Polizei Verhalten ahnden, das strafrechtlich nicht zu beanstanden ist. Mit anderen Worten: Strafe ohne Verurteilung. Und das für ganze Gruppen. Eine klare Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien.

Wie weit nach Ansicht von Dienstbühl eine Polizei, die sich im Krieg befindet, gehen darf, ja sogar gehen soll, fasst sie im Kapitel „Reizfaktoren“ zusammen: Hunde sollen eingesetzt werden, um Menschen muslimischen Glaubens einzuschüchtern, Polizistinnen wird gezielt aggressives und dominantes Verhalten zur Ehrverletzung und Demütigung männlicher „Clanmitglieder“ empfohlen, Hochzeitsfeiern gelten als Gelegenheit zur anlasslosen Überwachung und Stigmatisierung aller Gäste.

Ohne funktionierende Repression sieht Dienstbühl auch für präventive Maßnahmen nur „geringe Aussichten“ auf Erfolg. Ergo sollen „Clanmitglieder“, darunter auch Jugendliche und Kinder, mit „wirksamen Repressionsmaßnahmen und Kontrollinstrumenten“ dazu gebracht werden, „Alternativen“ anzunehmen und sich zu integrieren. Dienstbühl, die als Dozentin für Kriminologie und Soziologie derzeit zur Gewaltprävention an Schulen forscht, reduziert sich hier auf die Formel „Prävention durch Repression“ und gibt damit zugleich eine Bankrotterklärung für ihre wissenschaftliche Arbeit ab.

Manifest des institutionellen Rassismus

Dienstbühl beschwört das Szenario einer Polizei, die sich im Krieg mit Teilen der Gesellschaft befindet. Und zwar mit mehrheitlich nicht-weißen und migrantisch geprägten Communities. Die Broschüre ist ein Manifest des angeblich nicht-existenten institutionellen Rassismus bei der deutschen Polizei. Polizeigewalt ist die logische Konsequenz der hier vertretenen Argumentationsmuster. Denn in diesem „Krieg“ dürfen, ja müssen, rechtsstaatliche Prinzipien missachtet werden, um erfolgreich zu sein. Das Ergebnis ist eine entfesselte Polizei mit Rückendeckung aus der eigenen Führung. In diesem Fall schafft sich nicht Deutschland, sondern der Rechtsstaat faktisch selbst ab.

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