Fotos aus Sobibor
Es gab dort nur etwa 150 Überlebende, die als Zeitzeug*innen die Erinnerungen an diese Orte ins öffentliche Bewusstsein tragen konnten oder hätten tragen können. Den Tätern war annähernd der „perfekte“ Massenmord gelungen. Sie hatten alle Zeugnisse verbrannt, neben der physischen Vernichtung der Opfer sollte auch die Erinnerung an sie komplett ausgelöscht werden, was letztendlich aber misslang. Dazu beigetragen hat das vorliegende Werk zur Fotosammlung des stellvertretenden Sobibor-Kommandanten Johann Niemann, die seinen Lebensweg als Täter dokumentiert. Fotos, die es nicht hätte geben dürfen, um keine Spuren zu hinterlassen. Es gibt sie dennoch, und sie konnten ab 2015 von den Herausgeber*innen dieses Buches ausgewertet werden. Niemanns Motiv war sicherlich nicht, Belege für seine Verbrechen zu sammeln, sondern bildliche Zeugnisse zur Selbstvergewisserung und für die Erinnerung an seine SS-Karriere zu schaffen. Die über 350 Fotografien, von ihm persönlich ausgewählt und arrangiert, bebildern den beruflichen und familiären Werdegang eines NS-Täters. Sie zeigen fröhlich musizierende und trinkende Massenmörder in ihrer Freizeit, in unmittelbarer Nähe zu den Tötungsanlagen.
Das vorliegende Buch enthält bislang unbekannte Bilder aus zwei Fotoalben und einem Sortiment hunderter Einzelbilder, einer der bedeutendsten Bildquellen zum NS-Massenmord überhaupt. Zeigen die Motive zwar fast nur Täter in privaten Situationen, so lassen sich aus ihnen doch auch Erkenntnisse über die Topographie des Lagers gewinnen oder verifizieren.
Niemanns Nazi-Karriere, die lange vor seiner Zeit im Lager Sobibor begann, spiegelt exemplarisch die Radikalisierung der NS-Vernichtungspolitik wider. Ab 1942 war er als stellvertretender Lagerkommandant in Sobibor und nutzte sein umfassendes Spezialwissen, um den mörderischen Ablauf im Vernichtungslager noch effizienter zu gestalten. Beim Häftlingsaufstand am 14. Oktober 1943 wurde er mit einem Beil erschlagen.
Das Buch gliedert sich in zehn Themenblöcke. Diese beschreiben die Herkunft und Überlieferung der Niemann-Sammlung, erläutern die Mordaktionen, an denen Niemann beteiligt war, und bieten Hintergrundwissen zur „Aktion T4“ (siehe auch LOTTA #77, S. 56 ff.) und zu den genannten Vernichtungslagern. Ein Kapitel beschäftigt sich mit den „Trawniki-Männern“, von den Nazis aus den Kriegsgefangenenlagern rekrutierte in Trawniki ausgebildete Rotarmisten, oft ukrainischer Herkunft, die als „Hilfswillige“ eingesetzt wurden, einerseits also Opfer, aber in vielen Fällen auch brutale Täter waren. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit dem Aufstand der Häftlinge und der Beisetzung der getöteten SS-Leute. Ein Kapitel zur Biografie und politischen Einstellung von Niemanns Ehefrau Henriette wirft einen geschlechterperspektivischen Blick auf die Sammlung. Abschließend durchbricht Semion Rozenfeld aus der Sicht eines Sobibor-Überlebenden die tätergeschichtliche Perspektive und gibt den vielen Ermordeten und wenigen Überlebenden eine Stimme.
Dieses hervorragende Buch ist ein absolutes Muss für alle, die sich mit der Nazi-Barbarei und ihren Opfern beschäftigen, bietet sehr interessante neue Aspekte und ist auch für Interessierte, die sich zuvor noch nicht mit der „Aktion Reinhard(t)“ befasst haben, sehr gut lesbar.
Bildungswerk Stanisław Hantz e.V. / Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart (Hrsg.): Fotos aus Sobibor: Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus Metropol Verlag, Berlin 2020 382 Seiten, 29 Euro