„Ich möchte, dass man meinen Vater niemals vergisst“
Interview mit Gamze Kubaşık
Wie möchtest du, dass an deinen Vater erinnert wird?
Mein Vater war ein aufgeschlossener, ehrlicher Mensch. Man mochte ihn einfach. Meine Freundinnen sagten: „Man sieht, dass ihr so eine freundschaftliche Bindung habt“ und das war tatsächlich so. Er hat viele Späße gemacht. Es war immer eine schöne Atmosphäre mit ihm zusammen. Ich möchte auf jeden Fall, dass man weiß, dass mein Vater eine weiße Weste hatte. Was uns damals sehr gestört hat, waren Behauptungen, dass er was mit der Drogenmafia zu tun hätte.
An welche Momente erinnerst du dich gerne?
Es gibt ganz viele Momente. Er liebte es, Auto zu fahren und seinen BMW zu pflegen. Ich habe es gemocht, mit meinem Vater unterwegs zu sein, im Auto Musik zu hören. Das sind so Tage, die ich am meisten vermisse. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater viel mit uns gespielt hat, er hat sich echt gut um uns gekümmert. Natürlich gab es auch in meiner Familie Streitigkeiten, aber mein Vater ist immer zu mir gekommen und hat mit mir gesprochen. Ich bin dankbar, dass ich eine so tolle Zeit mit meinem Vater hatte.
Gibt es einen Ort in Dortmund, der für dich besonders wichtig ist?
Ich liebe, wie ich hier wohne, ich mag die Umgebung. Es gibt nur Orte, die ich natürlich mit Trauer verbinde, so wie die Mallinckrodtstraße, wo unser Kiosk war. Ich meide diese Straße heute noch. Es fällt mir sehr schwer dort entlang zu gehen. Mein Mann hat irgendwann, weil mein fünfjähriger Sohn Fragen gestellt hat, vorgeschlagen, dass wir ihm diesen Ort zeigen. Er hat ihm erklärt, was passiert ist, ich konnte das einfach nicht. Mein Sohn hat verstanden, dass sein Opa diesen Kiosk hatte, dass er dort „melek“, also ein Engel, geworden ist und es deswegen für seinen Opa dort einen Stein gibt. Einmal habe ich mitbekommen, wie mein Sohn zu seinem Freund gesagt hat: „Weißt du ich habe ein Opa, der ist „melek“ geworden, aber er hat einen Stein und jeder, der da vorbei geht, denkt an ihn!“
Du hast mal gesagt, du bist überzeugte Dortmunderin. Ist das heute auch noch so?
Dortmund ist meine Heimat! Ich bin hier aufgewachsen, meine Geschwister sind hier geboren, meine Eltern haben sich hier immer wohl gefühlt, die waren hier glücklich. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, irgendwo anders hinzuziehen. Ich liebe diese Stadt. Das hat vielleicht auch mit meinem Vater zu tun, weil er sich hier eine Familie aufgebaut hat. In Dortmund waren seine Freunde, seine Bekannten. Nach einem Schlaganfall hat mein Vater mit meinem Onkel in der Schweiz telefoniert. Mein Onkel hat gesagt: „Abi, komm hier hin.“ Er hat sich dort was aufgebaut und meinte zu meinem Vater: „Wir machen das zusammen“. Da hat mein Vater gesagt, „Nein, möchte ich nicht, ich könnte niemals da leben.“ Und dann haben wir diesen Kiosk gekauft.
Am 4. April 2006 wurde dein Vater in seinem Kiosk ermordet. Wie ging es euch danach?
Das war eine schwierige Zeit für meine Familie. Nachdem wir meinen Vater in der Türkei beerdigt hatten und wieder zurück in Dortmund waren, fing es an, dass Leute über uns gesprochen haben. Wir haben von Nachbarinnen erfahren, dass die Polizei mit dem Foto von meinem Vater umhergegangen ist, es Jugendlichen gezeigt und gefragt hat: „Kennt ihr den? Der hat Drogen an Leute in eurem Alter verkauft.“ Einmal war ich mit meiner Freundin in der Stadt, da hat eine Frau gesagt: „Ist das nicht die Tochter von dem Mann, der Drogen an Kinder verkauft hat? Soll sie doch genauso verrecken!“ An dem Tag dachte ich: Gamze, dein Leben ist zerstört. Du hast nicht nur deinen Vater verloren, du hast auch deine Ehre verloren. Du hattest einen super tollen Vater, den du über alles geliebt hast, und der ist von heute auf morgen weg und dann wird so schlecht über ihn geredet. Ich konnte das einfach nicht verstehen und ich konnte es auch nicht verarbeiten. Ich konnte nicht mehr rausgehen und mir das anhören. Ich habe ein Jahr lang nicht die Wohnung verlassen.
Nach dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 organisierten die Hinterbliebenen eine Demonstration unter dem Motto: „Kein 10. Opfer!“ in Kassel. Wie kam der Kontakt untereinander zustande?
Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als meine Mutter einen Anruf von Herrn Yozgat bekam. Es war erstmal so ein ganz leeres Gefühl. Ich wusste, da sind noch Familien, denen geht es ähnlich. Die hatten dasselbe Schicksal. Obwohl ich sie nicht kannte, fühlte ich mich ihnen sehr nah. Meine Mutter erzählte mir, die wollen da was machen, die laden uns ein und wollen uns kennenlernen. Die Familie Yozgat hatte gleichzeitig auch Kontakt zu den anderen Familien aufgenommen. Die meisten hatten Angst, nur die Familie Şimşek hat zugestimmt. Ich habe sie in Kassel kennengelernt. Vor allem Semiya. Es hört sich vielleicht blöd an, aber es war so ein schönes Gefühl, dass sie dasselbe Schicksal hatte wie ich. Dass sie so alt ist wie ich und mich versteht. Sie weiß, wie es mir geht, was mit uns passiert ist und in welcher Situation wir stecken. Ich brauchte sie nur angucken und sie wusste was gemeint ist, sozusagen.
Am 4. November 2011 ist der NSU aufgeflogen. Kannst du dich an den Tag erinnern?
Meine Mutter war gerade in der Türkei und ich mit meinem Mann und meinem kleinen Bruder in Dortmund. Wir waren unterwegs, da klingelt mein Handy. Meine beste Freundin war dran und sagte: „Wie geht es dir?“ und: „Was machst du?“ So ganz komische Fragen hat sie gestellt. Sie sagte dann: „Gamze, du musst nach Hause gehen, es wird über euch berichtet, da ist was passiert. Die Mörder sind gefunden!“ Dann bin ich natürlich nach Hause gefahren und hab den Fernseher eingeschaltet und tatsächlich, überall, egal welches Programm ich angemacht habe, wurde berichtet, dass es diese Leute waren, die meinen Vater ermordet haben. Ich kann dir sagen: An diesem Tag habe ich gemerkt, was für eine Last ich jahrelang mit mir getragen habe. Das ist so, als wenn du jahrelang gebeugt sitzt und dich an diesem Tag aufrecht machen kannst!
Du sagst, dass du möchtest, dass die Leute niemals vergessen, dass dieser Staat und seine Behörden euch erst ernst genommen haben, als die Nazis sich 2011 selbst enttarnten…
Nichts von dem, was jahrelang über meinen Vater berichtet wurde, stimmte. Wir sind keine Täter, es war mein Vater, der unschuldig umgebracht wurde! Alle wollten uns auf einmal zuhören, das war ein gutes Gefühl. Ich dachte, es gibt keinen Schmerz mehr und wir können erstmal tief durchatmen. Ich kann jetzt auch meine Trauer erleben. Man konnte das ja gar nicht. Seine Ehre wurde wiederhergestellt, das war für uns sehr wichtig. Das stand für ihn an erster Stelle: Ehre. Ehrlichkeit, das hat er uns auch beigebracht. Auf einmal wurden wir also eingeladen von den Regierenden dieses Landes. Und dann wurde uns versprochen — das war noch vor dem Prozess — dass es Aufklärung geben wird.
Ihr habt ja auch ein Versprechen von der Bundeskanzlerin bekommen?!
Frau Merkel hat mich gedrückt und gesagt: „Sie werden tief durchatmen. Es wird Ihnen gut gehen, und es wird eine Aufklärung da sein.“ Das war persönlich. Ich hatte keine Zweifel, weil sie es auch so rüberbrachte. Sie hatte guten Kontakt zu uns Familien und ist zu jedem einzeln hingegangen. Sie hat zugehört und mich beeindruckt. Ich bin ja sonst jemand, der erst mal skeptisch und distanziert ist. Sie hat über meinen Vater geredet. Ich hatte das Gefühl, sie kannte ihn sogar, so gut hatte sie sich vorbereitet. Ich wollte nur Aufklärung, ich wollte nur Gerechtigkeit für meinen Vater. Ich habe echt gedacht, jetzt passiert was. Ich habe daran geglaubt, ich hatte so eine unbeschreibliche Hoffnung.
Wie hast du den NSU-Prozess wahrgenommen?
Am Anfang: Hoffnung. Glaube. Und kurze Zeit später diese Verzweiflung. Nochmal ein Schlag ins Gesicht. Es war schnell klar, dass es in diesem Prozess keine 100%ige Aufklärung geben wird. Das hat damit angefangen, dass unsere Anwälte keine Akteneinsicht bekommen haben. Es wurden so viele Dinge verschwiegen. In den über fünf Jahren Prozess ist nichts passiert. Die Helferstrukturen wurden nicht ermittelt. Wollten sie ja auch nicht. Das hat man gemerkt. Es sollte eine Aussage von einem wichtigen Zeugen kommen. Der stirbt?! Einen Tag vor dem Prozess! Der eine hatte einen Autounfall. Ein anderer stirbt plötzlich durch einen Herzinfarkt. Sowas ist in dem Prozess vorgekommen. Da ist doch was nicht normal! Da kann mir doch keiner sagen, es ist alles gut gelaufen.
Hast du noch Vertrauen in den Staat?
Das ist so eine Sache. Ich habe nie aufgegeben. Ich habe immer gesagt, ich habe das Vertrauen in den Staat. Aber ich glaube nicht mehr an die Gerechtigkeit dieses Staates.
Wie wichtig ist für dich und deine Familie das Gedenken am 4. April in Dortmund?
Sehr wichtig! Dafür bin ich auch meiner Stadt sehr dankbar. Es kommen hunderte von Leuten, die an meinen Vater denken wollen, an seinem Todestag. Die uns nicht alleine lassen. Es ist ein sehr schwieriger Tag, vor allem für mich. Bei mir geht das auch schon ein paar Tage vorher los, ich habe schlaflose Nächte, ich bin dann sehr aufgebracht. Ich weiß dann auch nicht, wie ich mit mir selber umgehen soll. Der Tag ist immer sehr schmerzhaft, aber es macht mich irgendwo auch sehr stolz, dass ich in Dortmund lebe und viele mit uns zusammen sind, keiner uns alleine lässt.
Hilft euch die Solidarität?
Ja, mir, aber vor allem meiner Mutter. Ich bin nach außen sehr stark, das hilft mir sehr. Meine Mutter ist da anders, sie zeigt ihre Gefühle. Sie weiß, am 4. April, da werden Leute sein, die sie kennt oder nicht kennt, die mit ihr zusammen sind. Das gibt ihr Kraft. Das gibt ihr wirklich Kraft.
Woher nimmst du die Kraft weiterhin für Aufklärung einzustehen?
Das ist eine gute Frage, ich weiß es nicht. Ich hätte von mir nicht gedacht, dass ich so oft zum Prozess in München gehe oder dass ich Interviews gebe und über meinen Vater berichte. Das hätte ich niemals gedacht. Wahrscheinlich möchte das mein Vater so und er gibt mir die Kraft und ich mach es! Normalerweise bin ich eher zurückhaltend und wenn ich trauere, möchte ich für mich trauern. Ich wollte auch nie so viele Kontakte haben. Nach der Selbstenttarnung 2011 hat sich das so ergeben und teilweise bin ich auch glücklich darüber.
Welche Forderungen habt ihr als Familie Kubaşık und was sind deine Wünsche für die Zukunft?
Ich möchte, dass man meinen Vater niemals vergisst. Dass man einfach weiß, wer Mehmet Kubaşık war, weil das was ihm passiert ist, hätte jedem anderen passieren können. Wir wollen 100%ige Aufklärung, nichts anderes. Warum mein Vater? Was ist passiert? War er ein Zufallsopfer? Das ist für mich sehr wichtig. Da sind noch Fragen in meinem Kopf, nach all den Jahren, das hätte nach dem Prozess nicht sein müssen. Ich möchte einfach nur Aufklärung und Gerechtigkeit für meinen Vater und wenn unser Weg noch 20 Jahre dauert, 30 Jahre dauert. Ich vielleicht nicht mehr kämpfen kann. Aber er hat Enkelkinder, die weiter für ihn kämpfen werden. Ich habe eigentlich gar nicht so viele Wünsche. Ich habe jetzt drei Kinder und möchte mit denen gesund und glücklich leben. Meine Brüder sollen erfolgreich sein, ein gutes Leben haben. Meine Mutter soll glücklich sein. Ich weiß, das kann sie nicht, aber es soll Situationen geben, in denen sie glücklich wird. Ansonsten habe ich gar nicht so große Wünsche.
Danke für das Gespräch!
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Ali Şirin ist im Bündnis Tag der Solidarität / Kein Schlussstrich Dortmund aktiv