Auf der „Querdenken“-Demo am 29. August 2020 in Berlin war die AfD zahlreich vertreten.
Roland Geisheimer | attenzione

„Immer enthemmter“

Die AfD in Corona-Zeiten

Der Parteichef redete sich nicht etwa in Rage. Stattdessen war es eine kühl kalkulierte Entladung, die die rund 500 Delegierten in Kalkar erlebten. „Wir werden nicht mehr Erfolg erzielen, indem wir immer aggressiver, immer derber, immer enthemmter auftreten“, wetterte Jörg Meuthen beim AfD-Parteitag Ende November und schimpfte auf jene in der Partei, die sich wie „pubertierende Schuljungen“ oder „Politkasperle“ aufführten, „die nur allzu gerne rumkrakeelen und rumprollen“ würden.

Der Parteichef redete sich nicht etwa in Rage. Stattdessen war es eine kühl kalkulierte Entladung, die die rund 500 Delegierten in Kalkar erlebten. „Wir werden nicht mehr Erfolg erzielen, indem wir immer aggressiver, immer derber, immer enthemmter auftreten“, wetterte Jörg Meuthen beim AfD-Parteitag Ende November und schimpfte auf jene in der Partei, die sich wie „pubertierende Schuljungen“ oder „Politkasperle“ aufführten, „die nur allzu gerne rumkrakeelen und rumprollen“ würden.

Viele unreife Mitglieder „bis hin zu hohen Mandats- und Amtsträgern“, so Jörg Meuthen, würden sich verhalten „wie trotzige Pubertierende mit Lust an billiger, zuweilen regelrecht flegelhafter Provokation, in der sie sich auch noch geradezu selbstverliebt gefallen“. Die AfD dürfe sich jedoch ihre parlamentarische Arbeit nicht „von denen kaputtmachen lassen, die eher von Systemwechsel und außerparlamentarischer Opposition schwärmen“. Aktuell stört sich Meuthen insbesondere am Bild, das die Partei in der Corona-Krise abliefert. Die Corona-Politik der Regierung könne man ruhig kritisieren, meint er. „Aber“, fragte Meuthen, „ist es wirklich klug, von einer Corona-Diktatur zu sprechen?“ Auch bei der Wahl von Bündnispartnern empfahl er mehr Sorgfalt: Bei den „Querdenkern“ gebe es „nicht ganz wenige Zeitgenossen, deren skurrile, zum Teil auch offen systemfeindlichen Positionen und Ansichten den Verdacht nahelegen, dass bei ihnen tragischerweise noch nicht einmal das Geradeausdenken richtig funktioniert, geschweige denn echtes Querdenken“.

Das saß. Die Hälfte des Saales jubelte, die andere Hälfte pfiff und buhte — oder schwieg betreten. Die Schlagzeilen waren Meuthen jedenfalls sicher. Eine geschickte Parteitagsregie hatte es ausgeschlossen, dass seine Gegner:innen umgehend kontern konnten. Erst tags darauf kamen sie zu Wort. „Die Querdenken-Bewegung muss selbstverständlich unser Partner auf der Straße sein“, sagte Sachsens AfD-Landeschef Jörg Urban. Und Birgit Bessin, stellvertretende Landesvorsitzende in Brandenburg, konstatierte, Meuthen habe es sich mit seiner Rede „mit Hunderttausenden Corona-Maßnahmengegnern verdorben“. Bessin: „Wir sind diejenigen, die diesen Menschen draußen eine Stimme geben.“

„Stil und Ton völlig sekundär“.

Haarscharf schrammte die AfD an diesem Tag an einem Eklat vorbei. Die Partei ist zerrissen in zwei ungefähr gleich große Lager. Auf der einen Seite das von Meuthen: Mitglieder, die jeden Radikalisierungsschritt der Partei seit ihrer Gründung mitgegangen sind — gleichwohl aber vermeiden wollen, dass die AfD in Gänze vom Verfassungsschutz als „rechtsextremer Verdachtsfall“ eingestuft wird. Auf der anderen Seite die, die der Meinung sind, eine Beobachtung durch den VS sei gar nicht mehr zu vermeiden und die — auch um das Image des Alternativen zu wahren — sich keine Grenzen auferlegen wollen. Ihr wichtigster Stichwortgeber ist nach wie vor Björn Höcke. Eine Woche nach dem Parteitag schimpfte er bei einer Veranstaltung im ostwestfälischen Höxter, Meuthen habe sich auf „nicht genehme Teile der eigenen Partei“ gestürzt, statt gegen die „Deutschlandabschaffer“ zu feuern. „Was unsere Partei nicht braucht, das ist der erhobene Zeigefinger eines Bundessprechers“, mahnte der Vormann des offiziell für aufgelöst erklärten „Flügels“. Der AfD riet er einmal mehr, „nicht nur Parlamentspartei“, sondern „immer auch Bewegungspartei“ zu sein. Dank der „Querdenker“ sieht er zusätzliche Chancen: „Eine neue, bunte Bürgeropposition formiert sich gerade.“ Bei „Bürgerbewegungen“ seien „Stil- und Tonfragen in der prekären politischen Gesamtlage völlig sekundär“. Die Straße sei kein Opernball. Unterwerfen dürfe man sich dem Verfassungsschutz nicht: „Zugeständnisse werden uns nichts bringen.“

Dass der Kampf gegen Corona-Beschränkungen nach Euro, Flucht, Islam und Klima zum zentralen Thema der AfD werden soll, ist Konsens in der Partei. Offen ist dabei nur, wie genau sie dabei vorgehen soll. In einem Papier aus der Strategieabteilung der AfD-Bundestagsfraktion heißt es, der Unmut in den betroffenen Gruppen sei groß, weil die beschlossenen Maßnahmen wirtschaftliche und soziale Probleme zur Folge haben würden. „Es wächst möglicherweise auch die Bereitschaft für neue politische Perspektiven.“ Kritik der besonders betroffenen Branchen könne „einer von der AfD geführten Debatte die Tür zu breiteren gesellschaftlichen Schichten öffnen, die für solche Argumente bisher nicht zugänglich waren“. Dabei rät die Strategieabteilung, klar im Ton, aber nicht zu radikal aufzutreten — um ernstgenommen zu werden und um die AfD als „seriös“ erscheinen zu lassen.

Rechtsradikaler Bekenntniszwang

Die Empfehlung, allzu radikale Töne zu vermeiden, resultiert auch aus der Erkenntnis, dass in der eigenen Anhängerschaft die Meinungen in Sachen Corona auseinandergehen. Die Autor:innen des Strategiepapiers schreiben, es konkurriere „die Furcht vor einer Ansteckung mit der Furcht vor existenziellen Risiken“. Nach einer Umfrage hielten lediglich 14 Prozent der Deutschen die Einschränkungen des Teil-Lockdowns im November für übertrieben. Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen fanden 54 Prozent der AfD-Anhänger:innen gut — eine Mehrheit zwar, aber nur eine sehr knappe.

Eine andere Umfrage ergab, dass 24 Prozent der AfD-Anhänger:innen der Meinung sind, bei der Corona-Pandemie handele es sich um „eine Verschwörung zur Unterdrückung der Menschen“. Weitere 41 Prozent halten dies für wahrscheinlich. Dieses Klientel findet Gefallen an der Tonlage von AfD-Fraktionschef Alexander Gauland. „Die Kanzlerin hat eine Art Kriegskabinett gegründet“, wirft er Merkel vor. Gauland spricht von einem „Notstandskabinett“ und einer „Corona-Diktatur“ und besteht darauf, dass die AfD nicht allein Parlamentspartei sein soll: „Wir sind eine Bewegungspartei, die auch Kontakt zu bestimmten Protestgruppen pflegen sollte. Das gilt für ,Querdenken‘, aber auch für Pegida in Dresden oder für den Verein Zukunft Heimat aus Cottbus.“

Vor allem im Anti-Meuthen-Lager findet Gauland reichlich Unterstützer:innen. Als Querdenken Ende August 2020 eine Demonstration in Berlin organisierte, riefen auch Vertreter:innen aus der ersten Reihe der Partei öffentlich zur Teilnahme auf. „Am 29. August in Berlin — couragiert und demokratisch“, twitterte Meuthens Ko-Sprecher Tino Chrupalla. Fraktionschefin Alice Weidel bezeichnete die Demonstration als „mutig und absolut begrüßenswert“. Parteivize Stefan Brandner schrieb: „Je mehr AfDler nächsten Samstag nach Berlin kommen, desto besser und hochwertiger wird die Demo.“ Per Video rührte Höcke die Werbetrommel. Die Demonstrant:innen seien „besorgte Menschen aus allen politischen Lagern, die für ihre Freiheit auf die Straße gehen“, sagte er. Am Ende nahmen rund 40 Bundestagsabgeordnete an der Querdenken-Demo teil — fast die Hälfte der Fraktion und keinesfalls nur Meuthen-Gegner:innen. Die Differenz zwischen Meuthens Seriositätssimulation und einem rechtsradikalen Bekenntniszwang wird der AfD also erhalten bleiben.