Risse in der Wagenburg?
Die Polizei zwischen Rassismus und Reformen - eine vorläufige Bestandaufnahme
Im „Einsatztrainingszentrum“ der Polizeischule in Eutin herrschte am 15. Januar 2020 rege Betriebsamkeit. Rund 300 Angehörige der Landespolizei von Schleswig-Holstein hatten sich dort ebenso eingefunden wie Landtagsvizepräsidentin Aminata Touré („Bündnis 90/Die Grünen“) und Ministerpräsident Daniel Günther (CDU). Anlass war die Verleihung des Titels „Schule ohne Rassismus — Schule mit Courage“ an die Polizeischule, die als bislang einzige polizeiliche Aus- und Fortbildungseinrichtung dem bundesweiten Netzwerk beigetreten ist.
Mit ihrer Unterschrift bekennen sich die Schulen dazu, gegen diskriminierende Äußerungen und Handlungen Position zu beziehen und regelmäßig Projekte mit dem Ziel zu initiieren, „Diskriminierungen, insbesondere Rassismus zu überwinden“. Aus rassismuskritischer Perspektive wird vielfach Kritik an dem Netzwerk geübt: Das Konzept sei wenig verbindlich, und die Einhaltung der Selbstverpflichtung lasse sich kaum überprüfen. Gleichwohl: Die Initiative der Eutiner Polizeischule war durchaus bemerkenswert angesichts der in den Polizeibehörden, ihren einflussreichen Lobbyorganisationen und der Politik notorisch verbreiteten Reflexe, Rassismus als Problem in den Sicherheitsbehörden selbst zu bestreiten. Indes: In den feierlichen Ansprachen am 15. Januar tauchten rassismuskritische Perspektiven dann doch nicht auf. Viel war hier von „Rechtsextremismus“ — nicht fehlen durfte auch der Hinweis auf „Linksextremismus“ — ganz allgemein die Rede, dem sich die Polizei konsequent entgegenstellen müsse. Eine Reihe rassistischer und extrem rechter Vorfälle, mit der die Polizeischule Eutin selbst in den vergangenen Jahren in die Schlagzeilen geraten war, blieb allerdings unerwähnt.
„Einzelfälle“?
Die Narrative, die im Zusammenhang mit der Verleihung des Titels „Schule ohne Rassismus — Schule mit Courage“ an die Polizeischule Eutin verbreitet wurden, entsprachen wie unter einem Brennglas den Argumentationsmustern und Topoi, die Polizei, Polizeigewerkschaften und Teile der Politik in den vergangenen Monaten bemühten, um auf die keineswegs neue, aber im Zuge der „Black lives matter“-Proteste und aufgrund einer schier endlosen Kette extrem rechter Polizeiskandale immer vernehmbarere Kritik an rassistischen polizeilichen Praktiken zu reagieren. Einerseits sind hier Tendenzen unverkennbar, sich zwar von „Rechtsextremismus“ und Rassismus entschieden zu distanzieren, diese Haltungen aber weitgehend zu externalisieren, sie also ganz überwiegend außerhalb der Polizeibehörden zu verorten.
So lautete etwa die kuriose Auffassung von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), die bekannt gewordenen extrem rechten Vorfälle innerhalb der Polizei seien nur „Einzelfälle“; rassistisches Polizeiverhalten — etwa in Form von „Racial Profiling“ — könne es ohnehin nicht geben, da derartige Praktiken schließlich verboten seien. Ein Bedarf an wissenschaftlicher Expertise im Hinblick auf diese Frage bestehe daher nicht, hieß es unisono aus dem Bundes- und verschiedenen Landesinnenministerien sowie aus den Reihen der Polizeigewerkschaften — der im DGB organisierten Gewerkschaft der Polizei (GdP) und der unter dem Dach des Deutschen Beamtenbundes agierenden weiter rechts stehenden Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG).
Allerdings scheint es angesichts der Dimensionen der Skandale um die von Polizeicomputern verschickten Drohmails eines NSU 2.0, um die nicht unerhebliche Zahl von Polizeiangehörigen in extrem rechten Prepperszenen oder um die massenhaften rassistischen und neonazistischen Postings in teils bereits seit 2012 bestehenden Chatgruppen nordrhein-westfälischer Polizist*innen kaum mehr möglich zu sein, die Probleme innerhalb der Strafverfolgungsbehörden zu leugnen. So musste etwa NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) im September 2020 nach dem Auffliegen extrem rechter Chats vorwiegend von Beamt*innen aus Mülheim/Ruhr und Essen, aber auch aus anderen Polizeibehörden einräumen, er könne „nicht mehr von Einzelfällen sprechen“. Mitte Dezember 2020 ging das NRW-Innenministerium von über 200 Verdachtsfällen aus. 25 Polizist*innen waren zu diesem Zeitpunkt noch vom Dienst suspendiert. Im Landtag und gegenüber den Medien versprach Reul eine „radikale Aufklärung“ der Vorfälle und kündigte „einschneidende Konsequenzen“ sowie eine „‚Null-Toleranz‘-Strategie“ nach „innen“ an.
„Pragmatischer Anspruch“
In den folgenden Wochen entwickelten das Innenministerium sowie verschiedene Polizeibehörden hektische Aktivitäten. Im Oktober 2020 nahm etwa die im Innenministerium angesiedelte Stabsstelle „Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei NRW“ ihre Arbeit auf; bis Februar 2021 soll sie ein „erweitertes Lagebild Rechtsextremismus“ in der Polizei erstellen. Allein das knappe Zeitfenster, das dafür zur Verfügung steht, verweist darauf, dass es nicht um eine tiefergehende Analyse polizeilicher Affinität zu Rassismus und „Rechtsextremismus“ geht; tatsächlich heißt es, man verfolge einen „pragmatischen Anspruch“. Darüber hinaus erscheint die Entscheidung, die Leitung der Stabsstelle ausgerechnet einem ehemaligen hochrangigen Verfassungsschutzmitarbeiter zu übertragen, mehr als zweifelhaft angesichts der Tatsache, dass die Verfassungsschutzbehörden eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung gelten können.
Prävention durch Gedenkstättenbesuche?
Das von der Stabsstelle zu erstellende „Handlungskonzept“ ist zwar noch nicht geschrieben; schon jetzt kursieren aber Vorschläge und Absichtserklärungen, die regelmäßig als angeblich vielversprechende Präventionsansätze ins Feld geführt werden. So regte Reul schon kurz nach dem Bekanntwerden der extrem rechten Chatgruppen in seinen Polizeibehörden an, Polizist*innen sollten im Rahmen von Fortbildungen verstärkt NS-Gedenkstätten besuchen. Dies werde „viel mehr bringen als 100 Unterrichtsstunden Staatsbürgerkunde“. Tatsächlich ist es zu begrüßen, wenn sich (angehende) Beamt*innen in ihrer Aus- und Fortbildung kritisch mit dem Nationalsozialismus im Allgemeinen und mit der Rolle der Polizei im Zusammenhang mit dessen präzedenzlosen Verbrechen im Besonderen beschäftigen. In der Gedenkstättenpädagogik herrscht indes weitgehend Konsens darüber, dass derartige Veranstaltungen keineswegs die von Reul behaupteten Effekte erzielen und kaum einen nachhaltigen Beitrag zur „Rechtsextremismus“-Prävention leisten.
Erst recht sind Gedenkstättenbesuche wenig geeignet, gegenwartsbezogene rassismuskritische Sichtweisen auf die eigenen Praktiken, Selbstbilder und Strukturen zu entwickeln. Vielmehr drängt sich häufig der Verdacht auf, dass gerade die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit faktisch eine Feigenblattfunktion erfüllt, die an die Stelle der notwendigen Auseinandersetzung mit aktuellem Rassismus tritt.
„Russen verstehen — Russen vernehmen“
Diese Feststellung gilt auch für einen weiteren Aspekt der polizeilichen Aus- und Fortbildung: die viel zitierte „interkulturelle Kompetenz“, der sich die Polizei zumal im durch Einwanderung geprägten NRW in besonderem Maße verpflichtet sehe. „Interkulturelle Kompetenz“ sollte jedoch grundsätzlich nicht mit Rassismuskritik verwechselt werden. Im Gegenteil: Häufig gründen unter diesem Label kursierende Ansätze auf einem statischen und ethnisierenden Kulturverständnis, das eher dazu beiträgt, klischee- und vorurteilsbehaftete, nicht selten auch rassifizierende Zuschreibungen zu konstruieren, als eigene diskriminierende Haltungen und Praktiken zu hinterfragen. So vertreibt etwa der für polizeispezifische Fachliteratur einschlägige Verlag für Polizeiwissenschaft ein Handbuch mit dem Titel „Türken und Araber verstehen und vernehmen. Empfehlungen zur interkulturellen Vernehmung arabisch-türkischer Personen“. Im Klappentext des Bandes ist zu erfahren, dass bei der Vernehmung von Menschen „aus dem türkisch-arabischen Kulturkreis“ meist „zwei (Kommunikations-) kulturen“ aufeinandertreffen: „Dem an einer schnellen und protokollfähigen Klärung des Sachverhaltes orientierten, klar und präzise fragenden deutschen Polizeibeamten sitzt eine Person gegenüber, die lebhaft gestikulierend, weit ausholend und ausweichend reagiert.“
Ein weiteres Handbuch mit dem Titel: „Russen verstehen — Russen vernehmen“ weiß wiederum über Menschen aus dem „russifizierten Kulturkreis“ zu berichten, dass diese als „Beschuldigte unbeugsam und undurchschaubar, als Opfer immens leidensfähig“ seien; es verspricht den Leser*innen Einblicke in die „russische Kultur und Lebensweise“.
In der NRW-Polizei scheint dieses statische und ethnisierende, nicht zuletzt repressiv ausgerichtete Verständnis von „kultureller Kompetenz“ handlungsleitend zu sein, wie etwa die von Dorothee Dienstbühl, Professorin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (HSPV) für die Essener Polizei verfasste Handreichung „Arabische Familienclans — Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung“ zeigt; sie enthält ein Sammelsurium an stereotypisierenden, durchweg negativ aufgeladenen Zuschreibungen und Projektionen. Kuriosum am Rande: Dienstbühl firmiert als „Extremismusbeauftragte“ der HSPV. (Siehe hierzu den Artikel auf S. 59 ff.)
„Fakten“ statt „Wissenschaft“?
Insgesamt ergibt sich — nicht nur in NRW — der Eindruck, dass es bei der Auseinandersetzung mit Rassismus und „Rechtsextremismus“ in der Polizei in erster Linie um „Schadensbegrenzung“, um Symptombekämpfung geht, die der Intention untergeordnet ist, grundsätzliche Kritik an Strukturen, Selbstbildern und Praktiken der Sicherheitsbehörden abzuwenden oder sogar zu delegitimieren. Im Vorwort der aktuellen Ausgabe der NRW-Polizeizeitschrift Streife bekannte etwa NRW-Innenminister Reul, ihm sei in jüngster Zeit „ein paar Mal die Hutschnur geplatzt“, wenn er „auf angeblich strukturellen Rechtsextremismus bei der Polizei“ angesprochen worden sei. Er habe dafür keinerlei Verständnis, „wenn damit die Arbeit und die Haltung von Menschen in Zweifel gezogen werden, die sich tagein, tagaus mit aller Kraft für die Gesellschaft einsetzen und bisweilen im Dienst sogar ihr Leben riskieren.“
Ähnlich argumentiert Seehofer, der notorisch ein strukturelles Rassismusproblem in den Polizeibehörden bestreitet und 99 Prozent der in den Sicherheitsbehörden Beschäftigten fest auf dem Boden des Grundgesetzes wähnt. Die vielfach erhobenen Forderungen nach umfassenden wissenschaftlichen Studien zu rassistischen Haltungen und Praktiken in der Polizei erscheinen ihm „unnötig“ und „überflüssig“. Auch Reul betonte in einem Interview mit dem heute journal im September 2020: „Ich bin mir auch nicht sicher, ob das was bringt, wenn Wissenschaftler jetzt einfach mal eine Untersuchung machen, sondern ich sage, wir brauchen Fakten.“
In den Verlautbarungen von Seehofer und Reul spiegelt sich dreierlei: zum einen eine gleichsam mythische Überhöhung des Staates und der „Staatsgewalt“, die über jegliche tiefergehende Kritik erhaben zu sein scheint; zum zweiten ein eigentümlich gebrochenes Verständnis von Wissenschaft, deren kritische Funktion als störend wahrgenommen und die allenfalls im Sinne einer staatstragenden „Legitimationswissenschaft“ konzipiert wird; und drittens offenbart sich eine weitgehende Ignoranz gegenüber den alltäglichen Erfahrungen und Perspektiven einer großen Zahl von Menschen in Deutschland, die von rassistischen und diskriminierenden polizeilichen Praktiken berichten.
„Schlimme Kampagne“
Mit dieser Haltung stehen Seehofer und Reul freilich nicht allein; ihre Position wird nicht nur von CDU/CSU ganz überwiegend geteilt, sondern besonders vehement von den Polizeigewerkschaften GdP und DPolG vertreten, die unter Polizist*innen sowie in Politik und Medien über erhebliche Resonanzräume verfügen. Regelmäßig weisen deren Vertreter*innen Forderungen, die Verbreitung rassistischer Einstellungen und Praktiken in der Polizei zu untersuchen, als „überflüssig“ zurück oder unterstellen, wie etwa der stellvertretende DPolG-Bundesvorsitzende Ralf Kusterer im Juli 2020, eine „Verunglimpfung einer ganzen Bevölkerungsgruppe“. Auch die GdP distanziert sich zwar in einem Ende September 2020 veröffentlichten Positionspapier von den bekannt gewordenen extrem rechten Vorfällen, warnt aber vor einer „Stigmatisierung der gesamten Polizei“ und zeigt sich „zutiefst davon überzeugt, dass es keinen latenten, strukturellen oder institutionellen Rassismus in der Polizei“ gebe.
Wissenschaftliche Studien, die Hinweise auf übergriffige, womöglich auch rassistisch bedingte polizeiliche Praktiken liefern, wie etwa das am Lehrstuhl für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum angesiedelte und von Tobias Singelnstein geleitete „Forschungsprojekt zu rechtswidriger Polizeigewalt“, werden als „äußerst fragwürdig“ (GdP Bayern) oder, so der DPolG-Bundesvorsitzende Rainer Wendt, als „schlimme Kampagne“ gegen die Polizei etikettiert. Mit ähnlich polemischen Verdikten werden auch andere Forderungen zurückgewiesen, etwa die Einrichtung unabhängiger Polizeibeschwerdestellen beziehungsweise die Etablierung von Polizeibeauftragten oder legislative Maßnahmen wie das im Juni 2020 in Kraft getretene Berliner Antidiskriminierungsgesetz. Wendt lamentierte in der DPolG-Zeitschrift Polizeispiegel, Berliner Polizist*innen würden künftig mit „Bespitzelung, Denunziation, Suspendierung sämtlicher Schutzrechte und öffentliche Diskriminierung“ konfrontiert.
„Keine Rassismus-Studie“
Die Erklärungsansätze der Polizeigewerkschaften für nicht zu leugnendes, aber auf angebliche „Einzelfälle“ reduziertes polizeiliches Fehlverhalten wiederum kreisen fast ausschließlich um vermeintlich schlechte Arbeitsbedingungen und Frustration, die unter den Beamt*innen angesichts angeblich wachsender „Respektlosigkeit“ gegenüber der Polizei entstünde. Dieses Narrativ griff Seehofer auf, als er im Juli 2020 eine wissenschaftliche Untersuchung zum Rassismus in der Polizei ablehnte, gleichzeitig aber eine Studie zu Gewalt gegen Polizeibeamt*innen anregte. GdP und DPolG applaudierten. Die letztendlich Anfang Dezember 2020 vom Bundesinnenministerium bei der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster in Auftrag gegebene Studie mit dem Titel „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeibeamten“, die schon zuvor in einer Pressemitteilung als „Keine Rassismus-Studie in der Polizei“ bezeichnet worden war, soll demnach besonders die Auswirkungen von „Gewalterfahrungen“ auf den Arbeitsalltag und die Psyche von Polizist*innen in den Blick nehmen. Die Existenz von strukturellem oder zumindest breiter verankertem Rassismus in den Polizeibehörden taucht in der Projektbeschreibung nicht einmal als Hypothese auf. Allerdings lehren und forschen an der DHPol wie auch an anderen Polizeihochschulen und -akademien durchaus Wissenschaftler*innen, die sich kritisch mit Polizeigewalt, „Racial Profiling“, Cop Culture oder einer nur unzureichend ausgeprägten Fehler- und Kritikkultur innerhalb der Polizeibehörden beschäftigen — was darauf verweist, dass die Polizei und ihre Einrichtungen keineswegs einen homogenen Apparat bilden. Daniela Hunold, Kriminologin an der DHPol, konstatiert etwa, dass „Rassismus in der Polizei existiert“. Problematisch sei vor allem „die weitgehende Abschottung seitens der Polizei gegenüber diesem Thema und die kategorische Weigerung der Anerkennung durch Politiker*innen, dass strukturelle Gegebenheiten diskriminierende Wirkung entfalten können“. Auch diese Einschätzung zeigt: Die kritischen Stimmen, die Polizeigewalt und diskriminierende Praktiken anklagen, sind in den vergangenen Monaten nicht verstummt, sondern immer vernehmbarer geworden. Es zeigen sich Risse in der polizeilichen Wagenburg.