„Tag der Legionäre“

Der Gedenkmarsch zur Ehrung der lettischen Waffen-SS in Riga

Jedes Jahr am 16. März findet in der lettischen Hauptstadt Riga ein Gedenkmarsch zur Ehrung der lettischen Waffen-SS statt. In Lettland — wie in vielen anderen von Nazi-Deutschland okkupierten Ländern Osteuropas — beteiligten sich einheimische Antisemiten am Massenmord an den lettischen Jüdinnen und Juden.

Jedes Jahr am 16. März findet in der lettischen Hauptstadt Riga ein Gedenkmarsch zur Ehrung der lettischen Waffen-SS statt. In Lettland — wie in vielen anderen von Nazi-Deutschland okkupierten Ländern Osteuropas — beteiligten sich einheimische Antisemiten am Massenmord an den lettischen Jüdinnen und Juden.

Im Windschatten der — in allen europäischen Ländern — stärker werdenden rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen, haben sich in den vergangenen Jahren weitere, offen neonazistische Bewegungen etabliert. Kristallisationspunkte dieser erstarkten extremen Rechten sind Veranstaltungen zu Ehrungen der Täter:innen von gestern, der Kriegsverbrecher:innen und Massenmörder:innen. In Lettland ist dies alljährlich am 16. März der Fall — am „Tag der Legionäre“ in Riga.

„Antitotalitäre“ Lebenslüge

Seit 1991 versammeln sich alljährlich am 16. März tausende Menschen in der lettischen Hauptstadt Riga. Bei einem Gottesdienst in der St. Johannes-Kirche, einem Ehrenmarsch zum und einer fahnenumsäumten Kundgebung am Brīvības piemineklis, dem Freiheitsdenkmal, gedenken sie der lettischen Verbände der Waffen-SS. Es handelt sich um eine der größten regelmäßigen Demonstrationen in Europa zur offenen Ehrung von NS-Tätern. Von 1991 bis 1998 war der „Tag der Legionäre“ sogar Nationalfeiertag. Nach Anschlägen auf eine Synagoge und auf die russische Botschaft im Jahr 1998 nahm die Regierung zumindest offiziell Abstand von dem nationalistischen Getöse.

Die Demonstrant:innen, unter ihnen nur noch wenige Veteranen, aber viele ihrer Nachfahren, sehen in den ehemaligen Nazi-Kollaborateuren lettische „Freiheitskämpfer:innen“ gegen die Sowjetunion. Sie hätten unglücklicherweise „auf der falschen Seite der Geschichte gestanden“. Ein großer Teil der jungen Männer sei zwangsrekrutiert oder als Wehrpflichtige ausgehoben worden. Die Marschierer:innen halten zwischen lettischen, aber auch litauischen und estnischen Fahnen die „antitotalitäre“ Lebenslüge des jungen lettischen Staates in die Höhe: Schilder mit durchgestrichenen Symbolen — dem deutschen Reichsadler sowie Hammer und Sichel. Diese Bewertung für die lettische Waffen-SS hat sich nach 1990 in Lettland durchgesetzt; man findet sie zum Beispiel auch im offiziösen Rigaer „Okkupationsmuseum“.

Mörderische Antisemiten

Was diese nationalistische und zutiefst antisemitische Erzählung allerdings verschweigt: Es waren lettische Freiwillige und Hilfswillige, lettische Polizei und von den Deutschen direkt nach ihrem Einmarsch aufgestellte Polizeieinheiten, die unter den Augen der deutschen Besatzer die ansässige jüdische Bevölkerung „spontan“ zusammentrieben, in Pogromen ermordeten und später dann den geordneten NS-Massenmord an den aus Deutschland und Europa nach Lettland deportierten Jüdinnen und Juden unterstützten. Als Legitimation diente ihnen die vorherige Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion. Das faschistische Deutschland wurde als Befreier und natürlicher Alliierter angesehen.

Der Selbstschutz, aus dem die lettischen SS-Freiwilligenlegionen gebildet wurden, und das berüchtigte Kommando Arājs, eine Hilfseinheit des deutschen SD, beteiligten sich aktiv am Holocaust. Sie sind für annähernd 30.000 Morde an lettischen Jüdinnen und Juden verantwortlich. Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Riga, im Juli 1941, starben in der größten Synagoge der Stadt ungefähr 300 Menschen: Die „Freiheitskämpfer“ hatten sie dorthin getrieben, die Türen mit Brettern vernagelt und das Gebäude anschließend in Brand gesetzt.

Mit diesem Massenmord begann in Riga und in ganz Lettland eine Welle von Pogromen. Die nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht aufgestellten lettischen Polizeieinheiten begannen mit Mordaktionen an der jüdischen Bevölkerung Lettlands und jenen jüdischen Menschen, die aus dem Deutschen Reich ins Rigaer Ghetto verschleppt worden waren. Ein großer Teil der 500 Mann lettischen Hilfspersonals, das an der Erschießung von über 27.000 Juden am 30. November und 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula teilnahm, kam dann in den lettischen Verbänden der Waffen-SS unter. Insgesamt wurden in Lettland rund 70.000 lettische Jüdinnen und Juden in ermordet. Dazu kamen etwa 200.000 aus Deutschland, die vor allem in das Rigaer Ghetto deportiert worden waren.

„Habichte der Düna“

Am 16. März 1944 schlugen die beiden lettischen SS-Freiwilligen-Divisionen am Ladoga-See bei Leningrad in einem Gefecht Einheiten der Roten Armee. Dieses Ereignis nahm die 1945 von Waffen-SS-Veteranen in Belgien gegründete lettische Exilorganisation Daugavas Vanagi („Habichte der Düna“) seit den 1950er Jahren zum Anlass, den 16. März als Gedenktag zu Ehren der Waffen-SS zu begehen. Heute gehört Daugavas Vanagi zusammen mit der Partei Nacionālā apvienība („Nationale Allianz“) zu den Organisatoren des Aufmarsches, an dem regelmäßig auch Nationalisten und Neonazis aus Litauen, Polen, der Ukraine, Skandinavien und Deutschland teilnehmen.

Militärisch war die Schlacht am Ladoga-See unwichtig, „verdient“ machten sich die lettischen SS-Legionäre jedoch vor allem bei Massenmorden an der Zivilbevölkerung und an sowjetischen Kriegsgefangenen, an sowjetischen Parti­san:innen im Baltikum, in Russland, Weißrussland und der Ukraine. Da passt der 16. März besser in das Selbstverständnis der lettischen „Freiheitskämpfer“, aber auch der heutigen lettischen Politik und Gesellschaft — sieht sich das kleine Lettland doch auch heute von Russland bedroht und kann als „Frontstaat“ auf Unterstützung der EU und der NATO hoffen. Kritik an den antisemitischen Aufmärschen hält sich dementsprechend in sehr engen Grenzen.

Antifaschistische Proteste

Lettische Antifaschist:innen, so etwa das Lettische Antifaschistische Komitee, aber auch Angehörige der russischen Minderheit und der jüdischen Gemeinden protestieren seit Jahren gegen den Aufmarsch. Sie werden international unter anderem durch das Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrum und durch kleine Gruppen von Nachfahren zum Beispiel in Großbritannien unterstützt. Die FIR und die VVN-BdA unterstützten die Proteste 2015, 2016 und 2017 mit kleinen Kundgebungen in Riga selbst, aber auch vor lettischen Botschaften und Konsulaten in Europa.

Die Organisator:innen der Proteste in Lettland werden engmaschig von der lettischen Sicherheitspolizei, einem Teil des lettischen Geheimdiensts, überwacht; der Aufmarsch wird von einem massiven Polizeiaufgebot in Uniform und zivil gesichert. Auch internationale Unterstützer:innen sind im Visier der Behörden. So wurden 2016 fünf Mitglieder der VVN-BdA bei der Einreise direkt am Flughafen abgefangen und sofort abgeschoben. Grundlage war eine Liste, die im Jahr zuvor bei der Einreise eines Busses mit Antifaschist:innen bei einer peniblen Durchsuchung durch die lettischen Sicherheitsbehörden erstellt worden war. Dennoch muss antifaschistischer Protest weiterhin versuchen, die Verdrehung und Fälschung der Geschichte zurückzuweisen.