Täter-Opfer-Umkehr als gesellschaftlicher Kitt
Interview mit Magdalena Marsovszky
Das faschistische Horthy-Regime wird nicht nur von der extremen Rechten in Ungarn verehrt. Die Glorifizierung der Horthy-Zeit und die Relativierung der ungarischen Beteiligung an der Shoa ist in Ungarn weit verbreitet. Die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky arbeitet seit vielen Jahren zu den Themen Antisemitismus, Antiziganismus und völkisches Denken in Ungarn. Mit ihr sprachen wir über den Geschichtsrevisionismus in der ungarischen Gesellschaft.
Ungarn unter der Regierung Orbán ist nicht gerade als antifaschistisch bekannt. Wie ist das Verhältnis der offiziellen ungarischen Geschichtspolitik zum „Tag der Ehre“ und zu dem von Nazis zelebrierten Mythos um den Ausbruch der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS aus dem von der Roten Armee belagerten Budapest im Februar 1945?
Die ersten Gedenkveranstaltungen zum „Tag der Ehre“ wurden in den 1990er Jahren von Blood & Honour Hungaria organisiert. Mit der Zeit wurden diese Veranstaltungen immer größer, und sie haben Eingang in die staatliche Erinnerungspolitik gefunden. Im Februar 2005 wurde vom damaligen Fidesz-Bürgermeister des 1. Bezirks von Budapest, zu dem das Burgviertel gehört, und vom Militärhistorischen Museum eine Gedenktafel eingeweiht, die den „ehrenhaften Soldaten“ gewidmet ist, die „in der Schlacht um Budapest heldenhaft starben“. Auch inhaltlich waren die Reden, die man bei den Gedenkveranstaltungen in der Burg hören konnte, solange der Bürgermeister des 1. Bezirks vom Fidesz gestellt wurde, von den Reden der früheren Blood & Honour-Veranstaltungen nicht zu unterscheiden. Die Grundlage dieser Übereinstimmung ist eine Täter-Opfer-Umkehr, die sich als struktureller Antisemitismus bezeichnen lässt. Während die Waffen-SS und deren ungarische Verbündete, die sich in der Burg verschanzt hatten, als Verteidiger angesehen werden, wird die Rote Armee als Aggressor dargestellt. Dabei wird auf der einen Seite die Beteiligung der Waffen-SS und der ungarischen Faschisten an der Shoa verschwiegen; auf der anderen Seite wird vollkommen ignoriert, dass die Rote Armee gemeinsam mit den westlichen Alliierten Europa vom Faschismus befreit hat. Von Befreiung wird in Ungarn eigentlich überhaupt nicht gesprochen. Auch die liberale und die linke Opposition sprechen nur sehr selten von Befreiung. Leider unterscheidet sich auch deren Geschichtsbild in dieser Hinsicht kaum von dem der Regierung.
Was meinst du damit?
Seit 2018 wird der 1. Bezirk von Budapest von der Opposition regiert. Seitdem wird jedes Jahr in der Burg eine „alternative“ Ausstellung gezeigt, die von dem Historiker Krisztián Ungváry kuratiert und konzipiert wurde. Die Ausstellung trägt den Titel „Tag des Ausbruchs“; in ihr werden Mitglieder der Waffen-SS vorgestellt und in der Rolle des Opfers wahrgenommen. In einem Interview, das vor einigen Tagen erschien, hat Ungváry explizit erläutert, weshalb die SS-Männer seiner Ansicht nach auch als Opfer betrachtet werden können: Er meint, auch die Mitglieder der Waffen-SS hätten gelitten und wären von ihren Angehörigen vermisst worden. Genau das ist die Täter-Opfer-Umkehr, die ich meine. Obwohl Ungváry auch die Rote Armee erwähnt, verschwindet die Befreiung im Verhältnis dazu, wie er die SS-Männer in der Ausstellung als Märtyrer darstellt und ihren Leidensweg nachzeichnet.
Ein anderes Beispiel ist ein sehr populäres Lied des 2009 verstorbenen Sängers Tamás Cseh, in dem es heißt: „Eines Nachts haben die Deutschen Buda nicht mehr verteidigt. Sie versammelten sich in einer eisigen Nacht zu 40 Tausend […] und warteten auf den Befehl zum Ausbruch, während überall die Stalinkerzen leuchteten. Sie kamen jedoch nicht durch, weil draußen am Széna-Platz die Russen warteten […] und das Feuer eröffneten.“ Dieses Lied, in dem die Waffen-SS und die ungarischen Faschisten zu Verteidigern werden, wird auch von Linken und Antifaschist_innen oft gesungen, die damit dazu beitragen, dass die Täter-Opfer-Umkehr immer weiter um sich greift. Die Opposition in dieser autoritären Gesellschaft ist eben auch konformistisch.
Wie geht das heutige Ungarn denn mit dem Horthy-Regime insgesamt um?
Als Horthy-Regime wird die Zeit zwischen 1920 und 1944 bezeichnet, in der Miklós Horthy als sogenannter Reichsverweser an der Macht war. Diese Zeit inklusive ihrer Staatsideologie gilt der ungarischen Regierung immer mehr als positiver Bezugspunkt, als beispielhaft. Man kann sagen, dass das Horthy-Regime eine ganz ähnliche Ideologie vertrat wie der deutsche Nationalsozialismus — nur eben auf Ungarn bezogen, auf die „Magyaren“. Es war genauso völkisch und baute auf Rassentheorien und auf einer Blut-und-Boden-Ideologie auf. Die Dynamik des Antisemitismus führte dazu, dass Ungarn in den letzten Kriegsmonaten intensiv am Holocaust teilnahm und dass im Sommer 1944 innerhalb von acht Wochen fast eine halbe Million ungarische Jüdinnen und Juden deportiert wurden. Daran besteht historisch kein Zweifel — und dennoch wird die Horthy-Zeit heute weißgewaschen.
Man kann das schon am Straßenbild erkennen. Für Horthy und einige seiner Regierungsfunktionäre sind inzwischen wieder Denkmäler errichtet, nach ihnen sind Straßen und Plätze benannt worden. Und natürlich ist auch die Geschichtspolitik entsprechend angepasst worden. Im Jahr 2011 wurde ein sogenannter Nationaler Lehrplan verabschiedet, in dem völkische, nationalistische und antisemitische Autoren, die während des Horthy-Regimes ihre Hetze verbreiten konnten, empfohlen werden.
Wie ist der Umgang mit der Shoa?
In dieser Hinsicht gibt es einen großen Unterschied zwischen der Regierung Orbán und der linken und liberalen Opposition. Die Shoa wird auch von der Regierung nicht geleugnet, sehr wohl aber die Mitverantwortung der Ungarn, während die Opposition diese anerkennt. Die Regierung verfolgt hingegen eine Strategie der Selbstviktimisierung.
In der neuen Verfassung, die seit dem 1. Januar 2012 in Kraft ist, heißt es wörtlich: „Wir rechnen die Wiederherstellung der am 19. März 1944 verlorenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat ab dem 2. Mai 1990, dem Tag der Konstituierung der ersten frei gewählten Volksvertretung“. Das heißt, dass sowohl die Zeit der deutschen Besatzung 1944/45 als auch die Jahre unter kommunistischer Herrschaft bis 1990 als eine Ära der staatlichen Fremdbestimmung wahrgenommen werden. Verantwortlich für die Shoa sind in diesem Geschichtsbild „die Faschisten“, und das sind immer die anderen. Zudem werden Faschismus und Kommunismus parallelisiert und als außerhalb des ungarischen Volkes stehend definiert. „Das Volk sind wir, und wir sind unschuldig“ — so kann man die offizielle Regierungsideologie auf den Punkt bringen.
In vielen postsozialistischen Ländern werden die autoritären Regime, die mit NS-Deutschland kollaborierten, als Verteidiger gegen den Bolschewismus gesehen. Welche Rolle spielt der Antikommunismus?
Die „antibolschewistische“ Sicht, der Antikommunismus hat sehr viel mit dem Antisemitismus zu tun. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wurden der Bolschewismus und die Kommunisten quasi als „Judäobolschewismus“ mit den Juden gleichgesetzt. Dieser antikommunistische Antisemitismus ist auch im heutigen Ungarn noch sehr aktuell. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn die Opposition von der Regierung wahlweise als „die Linke“ bzw. als „neue bolschewistische Linke“ beschimpft wird.
Diese Form des Antisemitismus, die — wie auch andere Formen des Antisemitismus — in der ungarischen Gesellschaft sehr weit verbreitet ist, bildet einen starken gesellschaftlichen Kitt, der auch zur Verfestigung der Täter-Opfer-Umkehr beiträgt.
Vielen Dank für das Interview!