Anhaltende Unschärfe im Gesamtbild
Die rechtsterroristische „Gruppe S“ vor Gericht — Teil III
Relativ wenig beachtet findet in Stuttgart vor dem Oberlandesgericht seit neun Monaten der Prozess gegen die „Gruppe S“ statt. Zwölf Personen wird vorgeworfen, eine rechtsterroristische Vereinigung gegründet oder unterstützt zu haben. Es bleibt jedoch nebulös, was am 8. Februar 2020 im ostwestfälischen Minden geschah und was die einzelnen Angeklagten im Sinn hatten.
Laut von der Anklageschrift abweichender Einschätzung des Strafsenats wurde an diesem Tag in Minden von acht Personen eine terroristische Vereinigung gegründet, vier weitere Anwesenden und ein Nichtanwesender werden als „Unterstützer“ gewertet. Alle gehören zur extremen Rechten und fanden letztendlich über Telegram-Chat-Gruppen zusammen. Das Treffen in Minden war für die meisten das zweite realweltliche Treffen, vom Demobesuch am 3. Oktober 2019 in Berlin abgesehen. Einige trafen sogar zum ersten Mal auf die anderen. Im Verfahren kristallisieren sich zwei denkbare Versionen heraus.
Version 1: Einvernehmliche Terrorplanung
Eine Möglichkeit wäre natürlich, dass in Minden tatsächlich nahezu einvernehmlich eine rechtsterroristische Gruppe gegründet wurde — mitsamt Geldzusagen für Waffen, Waffenbeschaffungs- und — noch abstrakt gehaltenen — Anschlagsplänen auf Gläubige beim Moscheebesuch. Sechs Tage rückte das LKA BaWü an und nahm alle bis auf einen fest. Daher schaffte es die Gruppe nicht, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Sie hatte zwar noch keine konkreten Ziele vereinbart und auch noch nicht das zugesagte Geld für den Waffenerwerb eingesammelt, die erforderliche Summe war aber bereits durch verbindliche Zusagen der Beteiligten zusammengekommen. Und die nächsten Schritte waren bereits abgesprochen.
Gewährsmann für diese Version ist der Angeklagte Paul-Ludwig U. Er informierte die Polizei seit Sommer 2019 freiwillig über die sich herausbildende Struktur, offenbar ohne offiziellen Status als V-Mann oder Informant. Seine Angaben sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, zumal er in seinen Berichten an das LKA häufig zu Übertreibungen und fantasievollen Interpretationen zu neigen schien. So behauptete er etwa, dass 2.000 gewaltbereite Kämpfer in Gruppen organisiert und abrufbereit seien. In vielen seinen Erzählungen scheint es einen wahren Kern zu geben, um den herum er kräftig ausschmückte.
Version 2: Nur wenig Begeisterung für Terrorpläne
Es trafen am 8. Februar 2020 extrem rechte, großteils gewalterfahrene Personen zusammen. Einige hatten Ideen für Aktionen, die effektiver sein sollten als Demonstrationen oder Plakataktionen oder waren sich zumindest einig, dass eine härtere Gangart vonnöten sei. Werner Somogyi hatte das Treffen arrangiert, um herauszufinden, wer bei seinen Plänen — durch bewaffnete Angriffe den „Tag X“ auszulösen und damit einen Systemumsturz einzuleiten — mitziehen würde. Die laut Aussagen mehrerer Angeklagter von U. eingebrachte Idee, Moscheen als Anschlagsziele ins Visier zu nehmen, verhallte aber folgenlos. Somogyi selbst ging vorsichtiger vor. Er fragte die Anwesenden, wer von ihnen persönlich eine „offensive“ und wer eine „defensive“ Vorgehensweise bevorzugen würde. Aber was verstanden die Befragten darunter? Die Mehrheit der Gruppe zog bei Terroranschlägen nicht mit. Nicht durch aktiven Widerspruch oder aus Menschenliebe, sondern aus Angst vor den Konsequenzen und weil Mordaktionen trotz ihrer rassistischen Einstellung nicht zu ihrem Handlungsrepertoire gehört. Einige sagten mehr oder weniger engagiert Unterstützung beim Kauf von Waffen zu, wollten sie aber nicht selbst offensiv einsetzen. Mehrere Teilnehmer waren zudem mit ganz anderen Erwartungen zum Treffen gekommen, ihnen wurde das Ganze unheimlich. Beispielsweise der zwischenzeitlich verstorbene Ulf R., der verspätet dazu gestoßen war und sich laut Aussagen anderer Beschuldigter sichtbar unwohl gefühlt hätte.
In einzelnen Telefongesprächen, die vor Gericht als Beweismittel eingeführt wurden, fantasierten zwar einige Beschuldigte immer wieder vom „Endkampf“ am „Tag X“ und von Gewalt, aber beim konkreten Appell zuckten sie dann möglicherweise doch zurück. Eventuell waren sie noch nicht so weit, und es fehlte die Gruppen-Dynamik. Einige kannten einander vor dem Mindener Treffen nicht einmal. Somogyi zeigte sich Tage nach dem Mindener Treffen in einem Telefonat mit seinem Vertrauten Tony Ebel sehr enttäuscht: „Wochen- und monatelange Arbeit im Arsch. […] Monate- und jahrelang checkt man die Leute, und dann kommt immer noch nicht das rum, was man sich vorstellt.“
Die Mission des Paul-Ludwig U.
Fragen stellen sich zum Verhältnis von U. zu den Behörden. Diese griffen gerne zu, als sich die Möglichkeit auftat, kostenlos Informationen abzugreifen. U. blieb hierbei aber stets unkontrollierbar. So spazierte er mehrfach mit einer Schusswaffe durch die Gegend, so auch anlässlich des ersten Treffens Ende September 2019 in Alfdorf bei Stuttgart. Man kann mutmaßen, dass LKA und GBA ihm Versprechungen machten oder ihn zumindest in dem Glauben ließen, dass eine weitere Zusammenarbeit und ein Dranbleiben Vorteile für ihn mit sich bringen würde. U. blieb dran, zu welchem Preis auch immer, zumal seine Hauptmotivation die Aufmerksamkeit gewesen sein dürfte, die ihm als „wichtigem Informanten“ zuteil wurde, was sich deutlich in den polizeilichen Vernehmungen und auch in seinen Telefonaten mit unbeteiligten Personen, denen er stolz von seiner Mission berichtete, zeigte.
Die Verteidiger*innen der anderen Angeklagten versuchen U. als Agent Provocateur, Manipulator, Spinner und Gewaltverliebten darzustellen; ihren Mandanten selbst sei es nie um Terror gegangen. Doch obwohl es manipulative Anteile in den Aussagen von U. geben mag, erscheint das sehr unrealistisch. Dennoch peitschte U. die Gruppe an, beispielsweise mit seinem Vorschlag in Minden, man könnte ja die große Moschee in Köln angreifen. Vor dem OLG schweigt U., aber in seinen Aussagen bei den Behörden gab er selbst zu, den Hardliner gespielt zu haben — angeblich, um nicht aufzufallen und zwecks Informationsweitergabe weiterhin in die konkreten Vorbereitungen eingebunden zu werden.
Werner Somogyi und der „Tag X“
Nachdem während des Prozesses immer offensichtlicher geworden war, dass ein Bestreiten von Somogyis rechtsterroristischen Plänen wenig Erfolgsaussichten hat, rückte für die meisten Verteidiger*innen neben Paul-Ludwig U. auch Werner Somogyi in den Fokus, für das Geschehen verantwortlich zu sein. Selbst Tony Ebel rückte vorsichtig von ihm ab. Dabei hatte er gemeinsam mit Somogyi gezielt kampfbereites Personal für die Gruppe rekrutiert und mit ihm Kontakte, körperliche Fitness, Entschlossenheit und Verschwiegenheit von potenziellen Mitstreitern bewertet.
Klar ist: Die „Gruppe S“ orientierte auf einen „Tag X“. Doch ging es den einzelnen Beschuldigten darum, am „Tag X“ vorbereitet zu sein, um sich dem halluzinierten „Feind“ entgegenzustellen, oder — wie ihnen die Anklage vorwirft — darum, durch Terrorakte selbst diesen „Tag X“ auszulösen? Auf Somogyi und wahrscheinlich auch Ebel dürfte die zweite Möglichkeit zutreffen. Aber auf wen noch?