Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD)
Olaf Kosinsky

Aufstand der Anständigen 2.0?

Der Koalitionsvertrag der Ampel

Die geplanten Reformen der neuen Koalition dürften das Leben in Deutschland in mancherlei Hinsicht etwas angenehmer machen. Schön wird es dadurch noch lange nicht.

Die geplanten Reformen der neuen Koalition dürften das Leben in Deutschland in mancherlei Hinsicht etwas angenehmer machen. Schön wird es dadurch noch lange nicht.

Mit dem Ende der Großen Koalition und der Kanzlerinnenschaft Angela Merkels schließt eine Regierungsperiode ab, der man kaum hinterhertrauern kann. Exemplarisch für diese Ära steht etwa die Abschottung Europas vor Asylsuchenden, eine Konzept- und Tatenlosigkeit angesichts steigender rechter Gewalt oder das systematische Negieren struktureller Demokratiedefizite bei Polizei- und Verfassungsschutzbehörden — um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die neugewählte Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP versucht sich nun als progressive „Reformregierung“ zu positionieren.

Eine neue Innenpolitik?

Die Vorstellungsrede der neuen Bundesinnenministerin, der hessischen SPD-Politikerin Nancy Faeser, ließ viele aufhorchen. Nicht nur weil sie als erste Frau dieses Amt ausführt, sondern weil sie im Gegensatz zu ihrem rechtspopulistischen Vorgänger Horst Seehofer, der sich gerne Autokraten wie Viktor Orbán anbiederte und sich vor allem durch das Schüren rassistischer Ressentiments in Szene setzte, den „Kampf gegen Rechtsextremismus“ als ihr Kernanliegen benannt hat. Auch im Koalitionsvertrag wird die extreme Rechte als „größte Bedrohung“ der Demokratie ausgemacht. In den letzten 20 Jahren wurde diese vor allem bei islamistischen Bewegungen verortet. Welche Maßnahmen aber konkret ergriffen werden sollen, bleibt offen. Diese Verlautbarungen erinnern an den vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) beschworenen „Aufstand der Anständigen“ gegen rechte Gewalt im Jahr 2000, auf den allerdings keine nachhaltige Politik folgte. Stattdessen ignorierten Sicherheitsbehörden rechte Terrornetzwerke wie den NSU und drangsalierten die Familien der Opfer als vermeintliche Kriminelle. Damals sprachen viele Medien von einer „Türken-Mafia“, die für die Morde des NSU verantwortlich wäre. Heute würde man den rassistischen Begriff „Clankriminalität“ bevorzugen.

Die Polizei bleibt Teil des Problems

Ein nennenswertes Versprechen der Koalitionär_innen ist die Erfassung von „Hasskriminalität“ gegen Frauen und queere Menschen in Kriminalitätsstatistiken, was eine bessere Datengrundlage zur weiteren Problematisierung patriarchaler Gewaltverhältnisse böte. Versprochen wird auch die verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern und eine Strategie gegen Gewalt an Frauen, die Betroffenenrechte in den Mittelpunkt stellt. Inwiefern aber Polizeibeamt_innen über die nötige Ausbildung verfügen werden, um Betroffene adäquat zu betreuen und gegen sie begangene Straftaten zu verfolgen, bleibt fraglich. Denn fünf Jahre nach der Verschärfung des Sexualstrafrechts fühlen sich Polizei und Justizbehörden weiterhin häufig nicht dazu bemüßigt, Anzeigen wegen Sexualstraftaten aufzunehmen, geschweige denn Ermittlungen.

Eine größere Reform zu Abtreibungsrechten wird es mit der neuen Koalition nicht geben. Allerdings soll das Werbe- beziehungsweise Informationsverbot zu Schwangerschaftsabbrüchen aufgehoben und deren Durchführung Teil der medizinischen Ausbildung werden.

Im Koalitionsvertrag wird zudem eine Kennzeichnungspflicht für (Bundes-)Polizeibeamt*innen und die stärkere Unterrichtung in demokratischen Werten während der Ausbildung versprochen. Eine ausreichende Antwort auf verstärkte Kritik an rechten Strukturen in allen Sicherheitsbehörden und (rassistischer) Polizeigewalt ist das mitnichten. Die Koalitionär_innen machen sich stattdessen weiterhin für Sicherheitspolitik unter dem Codewort „Clankriminalität“ stark und benennen es als Schwerpunkt ihrer Kriminalitätspolitik. Dieses Kalkül dürfte aufgehen, denn kaum eine andere rassistische Erzählung findet so breite Akzeptanz innerhalb der Bundesrepublik.

Dass Polizeibehörden mit stark aufgebauschten und irreführenden Zahlen arbeiten, interessiert dabei nicht. Die damit einhergehende Kriminalisierung von Shishabars bereitete mit das Fundament für den rassistischen Massenmord in Hanau im Februar 2020. Das Versprechen einer „diversitätsorientierten Stellenbesetzungsoffensive“ wird bei dieser Schwerpunktsetzung nichts an bestehenden rassistischen Einstellungen und Strukturen bei der Polizei verändern. Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU hat sich an deren Arbeitsweise nichts verändert. Die neue Innenministerin Faeser hat sich als Politikerin bisher stets unkritisch gegenüber strukturellen Problemen bei der Polizei gegeben und ist selbst Mitglied im Arbeitskreis Sozialdemokraten in der Polizei.

Eine Prise (Staats-)Bürgerrechte

Ein wichtiges Bekenntnis der neuen Regierung ist die Förderung der Bürgerrechte von queeren Menschen und trans Personen. So wird nicht nur ein „Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ etwa durch die Förderung von Bildungsprogrammen an Schulen versprochen, sondern auch ein Ende der staatlichen Gängelung von trans Personen. Das aktuelle „Transsexuellengesetz“ soll durch ein „Selbstbestimmungsgesetz“ ersetzt und die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen durch die gesetzlichen Krankenkassen getragen werden. Zudem soll es einen Entschädigungsfonds für trans und inter Personen, die Opfer von bisher gesetzlich erlaubten Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen sind, geben. Das Blutspendeverbot für Homosexuelle und trans Personen soll endlich abgeschafft werden.

Im Kontrast zum abstammungsbasierten Staatsbürgerverständnis der CDU trägt die neue Regierung der demographischen Realität in der Bundesrepublik endlich Rechnung und verspricht eine Reform des Einwanderungs- und Staatsbürgerrechts. Neben der Akzeptanz von Mehrfachstaatsangehörigkeiten wird auch ein schnellerer Zugang zu Niederlassungserlaubnissen und Einbürgerung nach drei bis fünf Jahren angestrebt. Auch die Vergabe von Aufenthaltsvisa soll ausgeweitet werden. Diese längst überfälligen Reformen könnten vielen helfen, die in diesem Land seit vielen Jahren ohne klare Aufenthaltsperspektive leben müssen.

Flucht und Asyl

Positiv hervorzuheben ist die vorgesehene Aufhebung des Arbeitsverbots für Menschen mit laufenden Asylverfahren, denen hierdurch endlich durch legale Anstellungsverhältnisse eine Lebensperspektive eröffnet wird. Aufhorchen lässt aber auch die Ankündigung „irreguläre Migration wirksam reduzieren“ und „Schleuserkriminalität“ bekämpfen zu wollen, während man sich gleichzeitig nicht durch die Aufnahme von schutzsuchenden Menschen „erpressbar“ machen wolle. Trotz des unkonkreten Versprechens, die Aufnahme von Geflüchteten auf europäischer Ebene regeln zu wollen, scheint die neue Regierung die bisherige Abschottungspolitik der Großen Koalition gegen Schutzsuchende fortzusetzen. Das Bekenntnis zum Prinzip der Seenotrettung ist erfreulich, allerdings wird hier nur zu einem der ältesten Grundsätze der Seefahrt zurückgekehrt: andere nicht ertrinken zu lassen. Eine humanitäre Asylpolitik sähe anders aus.

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