„Bis alle in Sicherheit sind!“

Interview mit einer polnischen No-Border-Aktivistin

Seit dem Sommer 2021 ist die EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus zu einer Falle für Geflüchtete geworden. Auf der polnischen Seite hat die Regierung das Grenzgebiet zur Sperrzone erklärt, die von Auswärtigen nicht betreten werden darf, auch nicht von Journalist\*innen und Hilfsorganisationen. Wir sprachen mit Angie, die in der No-Border-Bewegung und der Unterstützung von geflüchteten Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze aktiv ist.

Magst du dich und deine Gruppe kurz vorstellen? Was ist euer Anliegen und wie sieht eure Arbeit aus?

Wir sind Aktivisten und Aktivistinnen, die an der polnisch-belarussischen Grenze arbeiten. Wir sind eine der No-Border-Gruppen, aber eigentlich arbeiten hier alle zusammen. Formelle Gruppen mit informellen Gruppen und Einzelpersonen. Unsere Arbeit besteht hauptsächlich darin, humanitäre Hilfe und Unterstützung bei der Beschaffung von Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten zu leisten. Da diese Situation für uns neu ist und wir noch nicht viel Erfahrung mit der No-Border-Bewegung in Polen haben, sind wir noch dabei, Strukturen aufzubauen und Aktionsformen zu entwickeln. Dabei übernehmen wir viele Aufgaben gleichzeitig. Einige von uns erledigen eher häusliche Dinge wie die Zubereitung von Lebensmitteln, die Bestellung und das Packen von Notfallsets. Andere organisieren Sammlungen, übersetzen oder kümmern sich um Logistik und Kommunikation.

Wie ist die aktuelle Situation der Geflüchteten im Grenzgebiet?

Wir haben derzeit etwas weniger Andrang an der Grenze. Aber die Situation ist immer noch schwierig. Die Temperaturen sind niedrig, und es schneit oder regnet häufig. Auch das Gelände ist nicht einfach: Podlasie besteht größtenteils aus Wald, sumpfigem Gelände und ist schwer zugänglich. Die Ausgabe von warmer Suppe und Kleidung hält die Menschen am Leben. Die Menschen sind oft erschöpft vom wochenlangen Herumirren im Wald, bei sehr kalten Temperaturen und ohne ausreichende Nahrung und Getränke. Die meisten von ihnen haben mehrfach Pushbacks erfahren. Sowohl auf der belarussischen Seite der Grenze als auch auf der polnischen Seite erleben die Menschen Gewalt durch Armee und Polizei. Ihre Telefone werden absichtlich zerstört. Wir wissen, dass auf der belarussischen Seite Soldaten den Migrantinnen und Migranten Wasser, Lebensmittel, Zigaretten oder die Möglichkeit, ihre Handys aufzuladen, zu absurd hohen Preisen anbieten und so an den Geflüchteten verdienen. Zum Beispiel wird Wasser in Flaschen für 100 Dollar verkauft. Es gibt auch Hinweise auf Menschen- und Organhandel. Ein zusätzliches Problem sind die von der belarussischen Regierung verbreiteten Fehlinformationen, die die Öffnung der Grenze oder die Rückkehr aller, die dies wünschen, versprechen. In der Praxis wissen wir, dass die Menschen an der Grenze festsitzen und oft nicht einmal die Möglichkeit haben, nach Minsk zurückzukehren. Wir haben auch von Wechselstuben gehört, die Falschgeld verkauften, wodurch die Menschen alles verloren haben, was sie bei sich hatten.

Welche Möglichkeiten habt ihr überhaupt, den Menschen zu helfen, und mit welchen Gefahren ist das verbunden? Wart ihr bereits staatlicher Repression oder gar Angriffen ausgesetzt?

Da es an der polnischen Grenze eine Sperrzone gibt, was bedeutet, dass Hilfsorganisationen bei Strafe nicht hineingelassen werden, wird die gesamte Last der Unterstützung in dieser Region auf die Bewohnerinnen und Bewohner abgewälzt. Außerdem wird die Unterstützung der Geflüchteten von den Behörden durch die Einrichtung von Kontrollpunkten auf den Straßen erschwert. Es wird gefragt, wohin man fährt, die Autos werden kontrolliert, wodurch Zeit verloren geht. Das Risiko, strafrechtlich verfolgt zu werden, ist groß. Es gab bereits Verhaftungen wegen Hilfeleistungen, die meisten endeten mit Geldstrafen und unbegründeter Inhaftierung auf der Polizeiwache. In einem der Stützpunkte der Aktivist*innen gab es eine Polizeirazzia, bei der die gesamte Ausrüstung beschlagnahmt und alle Anwesenden verhört wurden.

Wie reagieren die Menschen, die in Grenznähe leben? Gibt es von dort auch Unterstützung?

Das ist schwer zu sagen, denn wie überall sind die Menschen völlig unterschiedlich. Podlasie ist eine recht konservative Region, so dass wir auch mit Nationalisten zu tun hatten. Es gab auch eine Situation, in der Nazis Migrantinnen und Migranten geschlagen und ausgeraubt haben. Andererseits wird ein großer Teil der Hilfe von den Anwohnerinnen und Anwohnern selbst organisiert. Ohne ihre Arbeit wäre das, was jetzt geschieht, nicht möglich. Einige der Älteren in der Region erinnern sich noch an die Zeit, als sie den Juden und Jüdinnen auf ähnliche Weise halfen.

Welche Möglichkeiten gibt es, eure Arbeit von Deutschland aus zu supporten?

Wir bekommen bereits viel Unterstützung aus Deutschland. Was trivial ist, aber sehr notwendig, ist natürlich die Beschaffung von Geld. Darüber hinaus versuchen wir, viele Gruppen und Organisationen in die Verbreitung von Informationen, die Organisation von Übersetzungen und juristischer, aber auch materieller Unterstützung in Form von Kleidung, Telefonen und so weiter einzubeziehen.

Möchtest du abschließend noch etwas sagen, was dir wichtig ist?

Wir werden versuchen, diese Unterstützungsarbeit so lange zu leisten, bis alle in Sicherheit sind!

Vielen Dank für das Interview.

Anmerkung der LOTTA-Redaktion:

Kontaktieren könnt ihr die Unterstützer*innen unter der E-Mail-Adresse grenzehilfe@riseup.net. Wenn ihr etwas spenden möchtet, könnt ihr hier auch erfahren, welches Konto ihr dafür nutzen könnt.

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