Brauner Osten?
Warum die extreme Rechte in Ostdeutschland eine höhere politische Wirksamkeit als im Westen entfaltet
Hohe Wahlerfolge der AfD in Sachsen und Thüringen, erfolgreiche rassistische Mobilisierungen gegen Geflüchtete, PEGIDA, die schweren Gewalttaten und Pogrome von Neonazis in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, die Omnipräsenz einer rechten Jugendkultur in den 1990ern mit Schwerpunkt in der ehemaligen DDR und die aktuelle Etablierung neonazistischer Strukturen und Leuchtturmprojekte in diesem Bereich. All das sorgte und sorgt dafür, dass die extreme Rechte seit Jahren als ein „Ostproblem“ gesehen wird. Wo und warum konnte und kann die extreme Rechte in Ostdeutschland eine höhere politische Wirksamkeit als im Westen entfalten? Wie valide ist die These vom „Ostproblem“? Oder geht es hier eher um Entlastung für „den Westen“?
Michael Kühnen war begeistert. Anfang Januar 1990, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, war er auf Erkundungstour durch die im Zerfall befindliche DDR. Im thüringischen Mühlhausen und in Dresden traf Kühnen mit Kameraden aus dem Osten zusammen und stellte die soeben in der DDR durchgesetzte Versammlungsfreiheit auf die Probe. Bereitwillig bahnten die Volkspolizisten dem Neonazi aus dem Westen und seinen KameradInnen den Weg durch die Dresdner Innenstadt, während sie „Sieg heil“ und „Deutschland erwache“ riefen. In der Folgezeit traten Neonazis auf den Montagsdemonstrationen auf und warben dort um Anhängerschaft. Doch der Versuch, das auf dem Gebiet der DDR vorhandene Potential (partei)-politisch in den Wirren des Umbruchs im Osten zu organisieren, scheiterte zunächst.
Extrem rechte Jugendkultur und militanter Neonazismus
Nicht Parteien prägten das Bild der extremen Rechten in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wiedervereinigung, sondern rassistische Gewaltexzesse bis dahin nicht gekannten Ausmaßes. Bis Mitte der 1990er Jahre etablierte sich in Ostdeutschland eine rechte Jugendkultur, die über Gewalt und Dominanz auf der Straße eine zeitweilige Hegemonie ausübte. Es waren westdeutsche Strukturen, wie die Label Rock-O-Rama aus Köln oder Funny Sounds aus Düsseldorf, welche die Tonträger mit dem Soundtrack des Neonazismus lieferten. Schnell jedoch bildeten sich lokale Szenen in nahezu allen Orten der ehemaligen DDR. Bands gründeten sich, Konzerte wurden veranstaltet. Es entwickelte sich gerade im Osten eine omnipräsente Lebenswelt, in der zehntausende junge Menschen sozialisiert wurden — Nationalismus, Rassismus und ein positives Bild des Nationalsozialismus inklusive.
Dass heute ein Großteil der Label des RechtsRock in Sachsen, Brandenburg und vor allem in Thüringen ansässig sind, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die meisten der Betreibenden entstammen der Alterskohorte jener, die in den 1990er Jahren in der extremen Rechten politisiert wurden. Dabei kam die Netzwerkstruktur, in die die Akteure sich einbringen konnten, der Organisationsskepsis auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entgegen. Der Übergang zwischen neonazistischer Jugendkultur und militantem Neonazismus war fließend. Und auch die pogromartigen rassistischen Angriffe von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bedurften keiner straffen Organisation durch neonazistische Kader. Sie fußten auf der Dynamik rassistischer Einstellungen und Stimmungslagen der Zeit. Erst in der Folge des Aufstiegs einer extrem rechten Jugendkultur, ihrer Verankerung und der damit einhergehenden Gewalttaten etablierte sich in den 1990er Jahren mit der NPD in Ostdeutschland erstmals eine extrem rechte Partei auch parlamentarisch.
Ende der 1980er Jahre hatte sich in der DDR eine informelle neonazistische Szene gebildet, die erstmals in der Nachkriegszeit offensiv und gewalttätig auftrat. Der Tabubruch bestand darin, dass es in der ihrem Selbstverständnis nach antifaschistischen DDR offiziell keine Erscheinungsformen des Neonazismus geben durfte. Den Mangel an legalen organisierten Strukturen wusste die rechte Szene durch extreme Gewaltbereitschaft und eine Strategie der Raumnahme auf der Straße auszugleichen. Das bis zur Mitte der 90er Jahre reichende Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols gab rechten GewalttäterInnen einen Freiraum, von dessen Existenz sie bis heute profitieren. Diese Gewaltbereitschaft und die Fähigkeit zur Mobilisierung auf der Straße bilden eine Kontinuität der extremen Rechten im Osten. Die politisch wirksame Ausübung kollektiver rechter Gewalt reicht von Hoyerswerda 1991 bis zu den Ereignissen in Chemnitz 2018.
Mentalitätsgeschichtlicher Hintergrund
Die extreme Rechte im Osten agiert seit der Wiedervereinigung erkennbar vor einem anderen zeit- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund als in Westdeutschland. Die Jahre der gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands brachten für das Leben der Menschen im Osten umfassende kollektive und biografisch wirksame Umbrüche in allen Bereichen des Lebens mit sich, von der Berufsausübung bis zum Mietvertrag. Alle nur denkbaren Parameter des Lebens änderten sich grundsätzlich innerhalb weniger Monate. Bisherige Lebensentwürfe und die Werteordnung der Gesellschaft wandelten sich.
In der ideologischen Reflexion ostdeutscher Gesellschaft als politischem Ort spielen zudem Faktoren wie der in Ostdeutschland geringere Anteil von Migrant*innen an der Bevölkerung, die weitgehende Abwesenheit einer Amerikanisierung der Kultur nach dem Krieg und die Fortexistenz eines spezifischen deutschen Nationalismus’ in der DDR eine zentrale Rolle. Die frühere DDR und das heutige Ostdeutschland sind in vielerlei Hinsicht stärker von deutschen Traditionen in der Gesellschaft geprägt als der Westen. Dies fand nicht nur in der offiziellen Kulturpolitik der DDR Ausdruck, sondern auch in der Fortschreibung deutscher/ preußischer Mentalitätsbestände in der Alltagskultur. Disziplin, (Unter)Ordnung und Autoritätshörigkeit standen in der DDR etwa in der Schule mindestens ebenso hoch im Kurs wie die Erziehung zum Sozialismus. Die Mehrheit der ostdeutschen Gesellschaft grenzte sich kulturell und politisch deutlich von der sowjetischen Besatzungsmacht, der offiziell propagierten Freundschaft zur Sowjetunion und ihrer Einflussnahme auf die Alltagskultur des Landes ab. Eine Pluralisierung gesellschaftlicher Konventionen im Sinne einer kulturellen Öffnung, wie im Westen ab Mitte der 1960er Jahre vollzogen, wurde in der DDR nach 1966 bzw. 1968 rabiat von oben abgebrochen.
Autoritäre Unduldsamkeit gegenüber Formen kultureller Abweichung war bis in die 1980er Jahre prägend. Dies spiegelt sich seit langem in den Ergebnissen der Einstellungsforschung wider. Regelmäßig erzielen autoritäre, regressive und rassistische Einstellungsmuster in Ostdeutschland evident höhere Zustimmungswerte als im Westen. In der Praxis schlägt sich dies in einem Klima der Unduldsamkeit und Intoleranz gegenüber Migrant*innen und Menschen mit von den ostdeutschen Normalitätsvorstellungen abweichenden Lebensformen nieder. Als eine Erklärung für die im Osten höheren Zustimmungswerte zu rechten und extrem rechten Items dienten nicht die realen Lebensbedingungen in der DDR, sondern ideologisch aufgeladene Erklärungen, die den Staat der DDR auf allen Ebenen diskreditieren sollten. Christian Pfeiffer, Kriminologe aus Hannover, behauptete, die extrem rechten Orientierungen der ehemaligen DDR-Bürger*innen lägen darin begründet, dass diese in den Kinderkrippen als Kleinkinder nebeneinander auf dem Topf saßen. So seien autoritäre Denkstrukturen entstanden, ein individueller freier Geist wie im Westen habe sich so nicht entwickeln können. Obwohl solche unterkomplexen Erklärungen große Popularität genossen, sind sie sozialwissenschaftlich nicht haltbar.
Politische Handlungsspielräume
Ob Björn Höcke oder Götz Kubitschek — auffällig viele führende Protagonisten der in Ostdeutschland erfolgreich agierenden extremen Rechten kommen aus dem Westen. Im Osten fanden sie, was ihnen im Westen versagt blieb: politische Handlungsspielräume und Gehör in der Gesellschaft.
Ein Grund für den Erfolg der extremen Rechten in Ostdeutschland liegt darin, dass die geringere Bindekraft des als westdeutsch wahrgenommenen politischen Systems gesellschaftspolitisch leere Räume schafft, die die extreme Rechte besetzt. Wo es bedingt durch Abwanderung und Strukturschwäche an soziokultureller Infrastruktur mangelt, Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen kommen, ebendort erlangt einen Bedeutungszuwachs, wer sinnstiftende Angebote unterbreitet und an Mentalitäten und Traditionen anknüpfen kann.
Zudem bieten verhältnismäßig günstige Immobilienpreise extrem rechten ProtagonistInnen in ländlichen Regionen des Ostens umfassende Entfaltungsmöglichkeiten, fernab einer kritischen Öffentlichkeit oder antifaschistischer Intervention. Bürgermeister*innen kleiner ostdeutscher Gemeinden sind froh, wenn der leerstehende Gasthof des Ortes an Menschen geht, die diesen wieder aufbauen und sich zudem willig in die Dorfgemeinschaft im Dreieck zwischen Feuerwehr, Heimatverein und der Mitwirkung am Osterfeuer einfügen. Dass es sich dabei um Neonazis oder andere extrem rechte ProtagonistInnen handelt, spielt so lange keine Rolle wie sich diese adäquat zum dörflichen oder kleinstädtischen Sozialraum verhalten. Umgekehrt achten extrem rechte Strukturen in der Regel sehr genau darauf, in ihrem unmittelbaren Umfeld nicht negativ aufzufallen. So gelang es neonazistischen Organisationen bereits in den frühen 90ern, im Osten Immobilien zu nutzen und um diese herum Szenen zu etablieren. Beispielhaft seien hier nur der Nationale Jugendblock in Zittau oder das „Haus Montag“ in Pirna benannt.
Westdeutsche Importware
Die Präsenz aus dem Westen stammender Kader führte zu dem in der Ostdeutschland-Debatte wiederkehrenden Vorwurf, der ostdeutsche Rechtsextremismus sei im Kern westdeutsche Importware. Diese Argumentation wird gern zur Entlastung der Verantwortung der Ostdeutschen für extrem rechte Erfolge im Osten herangezogen. Das Argument, eigentlich sei die Entwicklung der extremen Rechten von Wessis gesteuert, reicht bis in die Zeit der DDR zurück, deren Propaganda verkündet hatte, die Ursache für das Erstarken einer neonazistischen Skinhead-Szene sei im Westen zu suchen. Es ist zutreffend, dass es zahlreiche extrem rechte Führungspersonen in Ostdeutschland gibt, die im Westen sozialisiert wurden. Doch den gesellschaftlichen Resonanzraum und eine Anhängerschaft für ihre rechten Inhalte finden sie unter Ostdeutschen. Zudem ignoriert diese Argumentation die zahlreichen Akteure der extremen Rechten, die in der DDR aufwuchsen, dann nach der „Wende“ auf dem Gebiet der ehemaligen DDR blieben und heute wichtige Bereiche der extremen Rechten, wie beispielsweise den Markt extrem rechter Musik, prägen.
Die Bereitschaft der Ostdeutschen, sich selbstkritisch mit der Kontinuität der extremen Rechten zwischen Erzgebirge und Ostsee zu beschäftigen, ist nicht gerade ausgeprägt. Dies musste im Frühjahr 2021 der Ostbeauftragte der damaligen Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), erfahren, als er im politischen Raum aussprach, was gesicherte sozialwissenschaftliche Erkenntnis ist: extrem rechte Einstellungen und Verhaltensweisen stoßen in Ostdeutschland nicht auf gesellschaftliche Ächtung, sondern unter dem Schutzschirm der Meinungsfreiheit auf Akzeptanz und Normalisierung. Dass die extreme Rechte und ihre politische Praxis in Ostdeutschland über drei Jahrzehnte verharmlost, kleingeredet und geduldet wurde, stattete sie mit jenem Selbstbewusstsein aus, mit welchem sie heute in Gestalt etwa der Freien Sachsen im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen auftritt. Die sächsische Landespolitik hat es über Jahrzehnte versäumt, dem rechten Block in der Gesellschaft Grenzen zu setzen. Das dominante Auftreten der extremen Rechten gerade in Sachsen hat seine Quelle im Zusammenspiel einer systematischen Verharmlosung der extremen Rechten durch die seit 30 Jahren dort regierende CDU und die von ihren Gefolgsleuten besetzte Verwaltung und Polizei.
Ost ist nicht gleich Ost
Der Osten ist kein monolithischer Block. Es gibt mit Leipzig, Jena, Potsdam und Rostock Städte, deren Sozialstruktur bedingt durch Universitätsstandorte der westdeutscher Großstädte nicht unähnlich ist. Andererseits gibt es in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt Regionen, in denen ein rechter gesellschaftlicher Block eine Hegemonie ausübt, deren Wirkungsmacht weit über nominelle parlamentarische Mehrheiten für die in Sachsen rechtskonservative CDU und die völkisch-nationalistische AfD hinaus in den vorpolitischen Raum der regionalen politischen Kultur reicht und etwa jugend- und soziokulturellen Zentren in Kleinstädten das Leben schwer macht. Dies hat im Alltag zur Folge, dass die gesellschaftliche Linke unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck steht, der von einem medialen Linksextremismusverdacht bis hin zu offener Repression reicht.
Öffentlich wahrnehmbar wird dieser rechte Block in den in Sachsen bereits 2013 einsetzenden rassistischen Mobilisierungen gegen Geflüchtete, den besonders starken Protesten gegen die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung und der weitgehenden Normalisierung der AfD im politischen Betrieb. Das Milieu derer, die den autoritär-regressiven Protest in Ostdeutschland tragen, ist weitgehend stabil und in sich geschlossen. Das seit 2013 zu beobachtende offensive Zugehen der CDU-Regierungen Ostdeutschlands auf diesen rechten Block in Gestalt einer Rhetorik des Dialogs mit „besorgten Bürgern“ stärkt diesen, bindet ihn aber nicht, wie von der CDU erhofft, an sie. Vielmehr verschafft dies der AfD und ihrem politischen Vorfeld Reichweite und Legitimität, indem eindeutig extrem rechte Positionen als „konservativ“ geführt werden.
Ausblick
Von den zeitgeschichtlich bedingten Unterschieden abgesehen profitiert die extreme Rechte in Ostdeutschland von den Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung wie der anhaltenden Abwanderung, einer schwach aufgestellten demokratischen Kultur und den vielfältigen politisch erzwungenen Abbrüchen emanzipatorischer Traditionen. Es besteht die reale Gefahr, dass Ostdeutschland zum Testfeld für extrem rechte Realpolitik wird oder schon geworden ist. Hingewiesen sei hier nur auf die neonazistischen Großkonzerte, welche im thüringischen Themar oder im sächsischen Ostritz mit teils mehreren tausend Zuschauer*innen stattgefunden haben. Die Gefahr besteht jedoch nicht in erster Linie in einer Re-Inszenierung des Nationalsozialismus. Die extreme Rechte findet in Ostdeutschland ein Terrain vor, auf dem sie auszuprobieren trachtet, was sie dem Ziel näher bringt, politische Verhältnisse einer autoritären Formierung wie in Ungarn oder Polen zu etablieren. Besonders hinzuweisen ist hier auf die Nähe einzelner Akteure der CDU und der AfD, welche zumindest eine punktuelle Zusammenarbeit propagieren. So erwogen CDU-Politiker in Sachsen-Anhalt mehrfach offen eine Kooperation mit der AfD. Ein rechts-autoritärer gesellschaftlicher Rollback, so ist in den programmatischen Aussagen der AfD und ihres „neurechten“ Umfeldes zu lesen, soll in Ostdeutschland seine Basis finden.
Gegen eine monolithische Sicht auf den Osten sprechen die Erfahrungen im Umgang mit der extremen Rechten in den vergangenen zehn Jahren. Scheiterte mit dem Trauermarsch in Dresden doch der bedeutendste Aufmarsch der extremen Rechten ab 2010 am massiven Widerstand. Das neofaschistische „Fest der Völker“, welches zwischen 2005 und 2007 in Jena stattfand, wurde auf Grund starker antifaschistischer Proteste in den Jahren 2008 und 2009 verlegt, bis es gänzlich eingestellt wurde. Die antifaschistische Initiative Polylux macht Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen im Osten sichtbar, die sich gegen den rechten Block stemmen. (vgl. S. 18 ff.) Diese zu unterstützen, hilft jenen, die in den ländlichen und kleinstädtischen Kontexten Ostdeutschlands antifaschistisch aktiv sind.