„Damals wie heute“
Kirtorf und seine Nazis
n den 90er Jahren bildete sich in Mittelhessen mit der Kameradschaft „Berserker Kirtorf“ eine Nazistruktur, die bis heute nachwirkt. Die Protagonisten wurden als harmlose Jugendliche verklärt, das Bild vor Ort änderte sich trotz Waffenfunden und Rechtsrockkonzerten kaum. Heute werden die Neonazis vornehmlich als NachbarInnen, KollegInnen oder Familienmenschen beschrieben, mit der Szene sind einige weiterhin verwoben.
Einem Millionenpublikum eröffnete sich 2004, was mitten in der kleinen Stadt Kirtorf im hessischen Vogelsberg geduldet wird. Das ARD-Magazin Kontraste zeigte Aufnahmen, die der Journalist Thomas Kuban mit versteckter Kamera gefilmt hatte: Unmittelbar an der Hauptstraße, im umgebauten und schallisolierten Schweinestall des Berserkers Bertram Köhler, spielte die Thüringer Neonaziband Garde18. Band und Publikum sangen: „Blut muss fließen, knüppelhageldick, wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik.“ Später wird es die Anfangsszene des Films Blut muss fließen. Es war die Hochphase der Kameradschaft Berserker Kirtorf.
Damals
Die Gründungszeit der Berserker Kirtorf liegt in den frühen 1990er Jahren. In der bürgerlich rechts-konservativ geprägten ländlichen Region wurden die Neonazis meist als harmlose Cliquen Jugendlicher wahrgenommen, die allenfalls bei Kirmesveranstaltungen über die Stränge schlügen. Doch bereits 1992 trafen sie sich zu Wehrsportübungen mit scharfen Waffen. In den folgenden Jahren sammelten sich Neonazis aus weiten Teilen des Landkreises unter dem Dach der Berserker. Mit wachsender Größe der Kameradschaft stieg ab Ende der 1990er Jahre auch das Veranstaltungsgeschehen. Die Aktivitäten beschränkten sich weitestgehend auf subkulturelle Events, an Aufmärschen nahmen meist nur Einzelne teil.
Etwa 50 Personen besuchten nun regelmäßig Veranstaltungen, darunter Sonnenwendfeiern oder Partys zum Geburtstag Adolf Hitlers am 20. April. Dies ist auch der Geburtstag von Glenn Engelbrecht, Neffe von Köhler und langjähriger Anführer der Kameradschaft. Vereinzelt gab es bei Veranstaltungen Polizeikontrollen, Platzverweise oder Festnahmen wegen verbotener Nazisymbole. Trotz dessen sowie aufkommender Presseberichte wurden die rechten Skinheads weiterhin bagatellisiert oder verschwiegen. Der damalige Bürgermeister Ulrich Künz sprach noch im Jahr 2000 gegenüber der Oberhessischen Presse (OP) von „einem, höchstens zwei Aktivisten“, die zudem „keine führenden Kräfte“ seien, sondern nur das Gelände für Auswärtige zur Verfügung stellten. Er wehrte sich dagegen, dass über „jede Kleinigkeit“ berichtet und das Problem überbewertet werden würde. Einige Anwohner*innen waren derweil mehr um das Image der Stadt besorgt oder äußerten sich gleichgültig. Die Melange aus Ignoranz, Akzeptanz und Sympathie schuf das Klima, in dem sich die Kameradschaft etablierte.
Es waren einzelne, die den Aktivismus oder das Konzertgeschehen vorantrieben und die überregional bedeutenden Kontakte knüpften. Sie konnten jedoch aufgrund des begrenzten (sub-)kulturellen Angebots einen erheblichen Kreis von Personen an sich binden, politisieren und eine rechte Hegemonie im Ort etablieren. Als integrierter Bestandteil der Gesellschaft würden sie vielen jungen Menschen „Halt“ bieten, sowie „feste Strukturen, Grenzen und Richtlinien, die es ihnen abnehmen Entscheidungen zutreffen“ (sic), führte eine Anwohnerin gegenüber der OP aus. Parallel dazu schürten die Neonazis Angst bei jenen, die nicht ihrem Weltbild entsprachen. Mitte der 1990er wurde vermehrt von Angriffen auf Geflüchtete, PoC und nichtrechte Jugendliche in der Region berichtet. Eine Nachbarin gab in dem Bericht der OP gar an, wegziehen zu wollen. Sie habe gesehen, wie Neonazis einen Mann zusammenschlugen, aber darüber würde im Ort nicht geredet.
Zenit
Zur Hochphase der Berserker Anfang der 2000er Jahre fanden mehrere Rechtsrockkonzerte im Schweinestall oder auf einem Wiesengelände von Köhler am Ortsrand statt. Es spielten neben bekannten deutschen Szenebands auch Bands aus den USA. Mit Gegenschlag formierte sich aus den Reihen der Berserker eine eigene Band mit Engelbrecht als Manager, die 2003 ihre erste CD „Die deutsche Jugend schlägt zurück“ veröffentlichte. Laut Polizei fanden die Konzerte meist „ungestört“ statt. Das ist bemerkenswert, denn selbst hunderte Skinheads und regelmäßige Polizeiaufgebote führten nicht zu spürbarem Ärger oder Empörung in der Kerngemeinde Kirtorf, in der weniger als 2.000 Menschen leben.
Die ausgestrahlten Aufnahmen aus dem Schweinestall hatten jedoch unmittelbare Folgen, die bundesweite Aufmerksamkeit zwang die politisch Verantwortlichen zum Handeln. 2004 wurden Köhlers Gelände rund um den Schweinestall sowie die Wohnräume von Engelbrecht durchsucht, gefunden wurden neben NS-Devotionalien und Tonträgern auch Waffen und Munition. Beide wurden zu Geldstrafen verurteilt. Einen Monat später erließ der Landkreis ein Nutzungsverbot des Schweinestalls als Veranstaltungsraum. Gegen Bandmitglieder von Gegenschlag wurden mehrere Verfahren wegen Volksverhetzung eingeleitet, die teilweise zu Geldstrafen führten. Für die Berserker waren diese Rückschläge nicht zu kompensieren.
Überregionale Vernetzung
Einige aus dem Kreis der Berserker sind allerdings weiterhin in überregionalen Strukturen präsent und mit diesen verwoben. Daniel O. aus Lautertal zum Beispiel war bereits in den frühen 2000er Jahren umtriebig in der Naziszene und zählte zum näheren Umfeld der Berserker. Ihm wurde 2019 als einzigem in Hessen und als einem von sechs Personen bundesweit die Verbotsverfügung von Combat 18 (C18) Deutschland zugestellt. Das überraschte, denn er ist keineswegs als exponierter Protagonist von C18 aufgefallen. Eher wirkt es, als hätten ihm vor allem seine Sammelleidenschaft für Rechtsrock-CDs, deren Weiterverkauf und der damit einhergehende Kontakt mit der Struktur die Verbotsverfügung eingehandelt.
Man kannte sich aber: 2014 war er bei einem Aufmarsch in Dortmund in einer Gruppe von C18-Personen zu sehen. Dort waren auch weitere Personen zugegen, die in der Vergangenheit im Umfeld der Berserker aufgefallen sind. Einer von ihnen, Marcel W., beteiligte sich im gleichen Jahr an den Ausschreitungen bei der HoGeSa-Demo in Köln und wurde im Nachgang zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, da er einen Polizisten angegriffen hatte. Eine weitere Verbindung zu C18 ist Karsten H. aus Lautertal. Als Exif Recherche den Lübke-Mörder Stephan Ernst auf einem C18-Treffen im März 2019 im sächsischen Mücka vermutete, habe Karsten H. eine eidesstattliche Erklärung abgelegt, dass nicht Ernst, sondern er auf den Bildern zu sehen sei. Darüber soll Thorsten Heise Pressevertreter*innen am Rande einer Pressekonferenz beim unweit von Mücka stattfindenden Schild und Schwert-Festival informiert haben. Karsten H. war in den 2000er Jahren ebenfalls den Berserkern zuzurechnen, sein Name findet sich außerdem auf der Grußliste der ersten beiden Gegenschlag-CDs aus dieser Zeit. Auch Engelbrecht ist nach wie vor in der überregionalen Szene vernetzt. Er lief im Juli 2017 mit exponierten Neonazis von C18 beim Konzert Rock gegen Überfremdung in Themar auf und nahm im Oktober 2021 am Aufmarsch anlässlich des Todes von Siegfried Borchardt in Dortmund teil. Engelbrecht wird der Arischen Bruderschaft (AB) um Thorsten Heise zugerechnet. Dies unterstreicht auch eine Tätowierung des Logos der AB.
Trügerische Ruhe
In Kirtorf selbst sind die Aktivitäten seit der de facto Schließung des Schweinestalls stark zurückgegangen. Dennoch ist spürbar, wie prägend diese Zeit für viele war und bis heute ist. Statt der organisierten Kameradschaft bildeten sich wieder Cliquen, in denen der rechte Grundkonsens weiter bestehen blieb. Die Szene wurde weniger greifbar. So ist es folgerichtig, wenn auf Gartenpartys in der Nachbarschaft eine Person mit freiem tätowierten Oberkörper sitzt, auf dem ein lieblos überstochenes „White Power“-Zeichen nebst Schriftzug „Kirtorf“ noch durchschimmert.
Auch in subkulturellen Kreisen bemühten sich einige nach der Repression ihre Zugehörigkeit zur Naziszene zu kaschieren. Zwei ehemalige Mitglieder der Band Gegenschlag gründeten 2008 die Oi-Band Extrem Unangenehm. Die Band gab sich — typisch Grauzone — als unpolitisch, verklärte die Naziaktivitäten, mit denen sie nichts mehr zu tun hätte, und trat fortan öffentlich auf (vgl. LOTTA #47, S. 19). Die Konzerte der Band wie auch Onkelz-Parties in der Region wurden zum Ersatz der klandestinen Rechtsrockkonzerte. Hier war es kein Problem, wenn auf volltätowierten Oberkörpern irgendwo noch ein Nazisymbol zu sehen war oder der Schriftzug „Berserker“ in großen Lettern auf dem Rücken prangte. Köhler reichte dies nicht: Er veranstaltete im Dezember 2018 auf seinem Gelände eine Sonnenwendfeier, die allerdings klein ausfiel, auch da die Stadt ein Feuer untersagte. Zudem kündigte er an, politisch wieder aktiver zu werden. Im folgenden Jahr lief er bei rechten Aufmärschen in Kassel und Bielefeld mit. Im Januar 2021 starb er überraschend. Seine Beisetzung spiegelte vor allem seine Bedeutung für die lokale Szene wider: Es reiste keine überregionale „Prominenz“ an, doch einige der ehemaligen Berserker waren auf dem Kirtorfer Friedhof zugegen.
Kürzlich formierte sich dann Gegenschlag wieder und veröffentlichte gemeinsam mit der Rechtsrockband Projekt 8.8 im Sommer 2021 die Split-CD „Damals wie heute“. Darauf beschimpft die Band auch Aktivist*innen aus dem nahe gelegenen Dannenröder Forst, wo sich während des Protests gegen die Teilrodung des Waldes immer wieder Neonazis einfanden, um die Aktivist*innen zu bedrohen.
Heute
Zwischenzeitlich stand Kirtorf erneut im Fokus medialer Berichterstattung, da seit Sommer 2018 zwei Fälle des hessischen Polizeiskandals bekannt sind, in die insgesamt drei Polizisten mit Wohnsitz in Kirtorf involviert sind. Im Grunde ist es kaum verwunderlich, dass einer der Polizisten es offenbar für unproblematisch hielt, Engelbrecht via Facebook persönliche Glückwünsche zum Geburtstag zu übermitteln (vgl. LOTTA #74,S. 33—35), da dieser vornehmlich als Familienvater wahrgenommen wird, obwohl er auf geposteten Bildern im Kreis der Familie Kleidung von Neonazimarken trägt. Im Januar 2019 fragten Journalist*innen der taz Bürgermeister Künz nach Engelbrecht, der sagte, er sei auch gut integriert, er habe ja jetzt Kinder.
Eine Abgrenzung im alltäglichen Leben findet nach wie vor kaum statt, daran hat auch ein 2004 gegründetes Bürgerbündnis nur wenig geändert. In eben diesen gesellschaftlichen Verhältnissen haben sich viele Neonazis, auch einer jüngeren Generation, eine nie gefährdete bürgerliche Existenz aufgebaut. Sie bietet sowohl das Fundament, als auch den notwendigen Rückzugsraum. Man ist noch mit den weniger aktiven „Kameraden“ aus der Hochzeit lose verbunden, trifft sich im Privaten oder in Kneipen. Außer den teils ausgeblichenen Tätowierungen erinnert kaum noch etwas an die martialisch auftretenden Skinheads. Vielmehr werden die meisten als Familienmenschen beschrieben oder als nette NachbarInnen mit geregelter Arbeit, als würde dies Szeneaktivitäten ausschließen.