Das Drama an Polens Grenze
Europas Abschied vom Asylrecht
An den europäischen Außengrenzen werden Schutzsuchende immer öfter brutal abgewiesen, und ihnen wird ein individuelles Asylverfahren verwehrt. Die Eskalation der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze im Oktober und November 2021 markiert eine besonders dramatische Episode dieser systematischen Politik der Entrechtung. Schon im November waren dort laut Zählung der taz insgesamt 13 Menschen gestorben. Statt jedoch die humanitäre Notlage zu beenden, sprechen die EU-Mitgliedstaaten von einem „hybriden Krieg“, den der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko mittels der „Migranten“ führen würde. Zwar verfolgt dieser mit dem Durchwinken der Geflüchteten tatsächlich handfeste politische Interessen, nämlich das Ende der EU-Sanktionen gegen sein Land. Die EU wiederum ist angesichts der Tatsache, dass in der Vergangenheit alle Bemühungen einer innereuropäischen Umverteilung von Asylsuchenden gescheitert sind, in dieser Frage leicht erpressbar. Dennoch dient das Bedrohungsszenario von der hybriden Kriegsführung, das angesichts von einigen Tausend schutzsuchenden Geflüchteten an der Grenze gezeichnet wird, den EU-Regierungen vor allem als Rechtfertigung, um sich ihrer rechtsstaatlichen Verantwortung zu entledigen.
Rechtliche Betrachtung
Rechtlich betrachtet ist die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze eigentlich recht einfach zu bewerten: Pushbacks — also die Zurückweisung von schutzsuchenden Menschen an der Grenze ohne ein individuelles Verfahren — sind nach Europa- und Völkerrecht verboten. An dieser Rechtslage ändert auch das neue polnische Gesetz vom Oktober 2021 nichts, demzufolge die Grenzschutzkommandeure Geflüchtete umgehend des Landes verweisen dürfen. Denn Polen ist als EU-Mitgliedstaat an das höherrangige europäische Recht gebunden und kann diese Verpflichtungen nicht durch nationale Regelungen umgehen. Auch das höchst umstrittene Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Zurückweisungen an der spanisch-marokkanischen Grenze aus dem Februar 2020 bietet der polnischen Regierung keinen Freifahrtschein: Laut dem EGMR dürften Zurückweisungen nur erfolgen, wenn die betroffenen Personen die Grenze gewaltsam und in einer großen Gruppe überwinden wollen und sie zugleich legale Zugangswege meiden. Aber Polen hat gerade keine Möglichkeit für Schutzsuchende geschaffen, legal an der Grenze einen Asylantrag zu stellen.
Für die Geflüchteten an der Grenze
hat diese Rechtslage jedoch in der Praxis kaum einen Wert. Polen hat den Grenzraum militärisch abgesichert, und die polnische Asylpraxis ist von enormer Willkür geprägt, wie die Rechtsanwältin Marta Górczynska berichtet. Auch Journalisten und Menschenrechtsbeobachtern wird kein Zugang in die Grenzregion gestattet. Doch ohne eine Dokumentation der Vorfälle lassen sich Pushbacks vor Gericht nur schwer beweisen. Aufgrund der rigiden Kontrollen wird den Geflüchteten zugleich der Zugang zu Rechtsberatung und -vertretung verwehrt. Damit aber fehlt ihnen eine wichtige Voraussetzung, um ihre Rechte vor Gericht einklagen zu können.
Die Verantwortung der EU
Dass an der Grenze eine „Black Box“ errichtet wird, ist jedoch keine polnische Besonderheit: Die Innenminister der EU versuchen seit langem, die Anwendung des geltenden Rechts zu umgehen, sei es an der griechischen, der italienischen oder der spanischen Grenze. Dahinter steht das Kalkül, die Durchsetzung des Rechts so schwer wie nur möglich zu gestalten. Dass die polnische Regierung für ihre Abriegelung der Grenze — geplant ist unter anderem eine 5,5 Meter hohe und 140 Kilometer lange Stahlbarriere — Beifall und Solidaritätsbekundungen aus vielen EU-Mitgliedstaaten und auch von führenden deutschen Politikern erhalten hat, trägt zur Unterstützung dieser Politik der Entrechtung bei.
Was an der polnischen Grenze passiert, liegt in mehrfacher Hinsicht in der Verantwortung der Europäischen Union. Die EU-Kommission und viele Mitgliedstaaten betrachten die visafreie Einreise von Geflüchteten über den Flughafen von Minsk als den Versuch, die EU zu erpressen. Doch wenn sich die EU in einer Lage befindet, in der sie durch autoritäre Machthaber auf diese Weise unter Druck gesetzt werden kann, so hat sie das selbst zu verantworten. Seit mehr als dreißig Jahren werden schrittweise alle legalen Fluchtwege in die EU, ob zu Land, per Flugzeug, über das Mittelmeer oder per direkter Aufnahme aus dem Ausland, versperrt. Schutzsuchende werden so regelrecht dazu gezwungen, illegale Wege zu beschreiten.
Verantwortungslos handelt die EU auch in ihrem Umgang mit der polnischen Regierung. Die EU-Kommission ist die „Hüterin der Verträge“ und müsste auch das in Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta kodifizierte individuelle Asylrecht verteidigen. Vorrangig sicherte die Kommission der polnischen Regierung jedoch eine solidarische Unterstützung bei der Grenzabwehr zu. Auf einem Treffen Mitte November verständigten sich die EU-Außenminister zudem darauf, mit den Herkunftsländern der Geflüchteten Vereinbarungen zu ihrer Rückkehr zu treffen, ohne vorher ihre Asylgesuche anzuhören. Ein fundamentales Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention, das in Artikel 33 verankerte Prinzip der Nichtzurückweisung in eine Situation der unmenschlichen Behandlung, ist mit dieser Entscheidung faktisch umgangen worden.
Der ehemalige deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) verteidigte diese Linie nach dem Treffen der EU-Außenminister in den „Tagesthemen“: Den polnischen Zaunbau bezeichnete er darin zwar als nicht „schön“, aber man müsse schließlich Bedingungen für eine geordnete Migration schaffen. Den Hinweis der Moderation, dass jeder Mensch ein Recht darauf habe, einen Asylantrag zu stellen, wehrte er mit der angeblich fehlenden „Aufnahmebereitschaft“ in Europa ab und behauptete außerdem, bei den Menschen an der Grenze handele es sich nicht um „politische Flüchtlinge“. Damit stellte der deutsche Außenminister das Prinzip des Rechtsstaates auf den Kopf: Denn ob jemand verfolgt ist, kann erst nach einem individuellen Verfahren festgestellt werden.
Große Teile der EU dulden den Zaunbau und illegale Pushbacks oder unterstützen das gar aktiv, weil sie eine problematische Analyse teilen. Demnach könnten autoritäre Parteien wie die AfD oder der französische Rassemblement National aus der Aufnahme von Geflüchteten politisches Kapital schlagen. Eine harte Migrationspolitik hingegen würde zugleich die politischen Freiheiten, darunter die Binnenfreizügigkeit, innerhalb der EU verteidigen. Doch diese These ist angesichts der tatsächlichen Konsequenzen des brutalen Grenzregimes nicht haltbar.
Gerade die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze demonstriert eindrücklich, dass der Abbau von Rechtsstaatlichkeit an den EU-Außengrenzen mit einem Abbau von Rechtsstaatlichkeit und der Beschneidung von Bürgerrechten im Innern einhergeht. Denn die Verweigerung einer unabhängigen Presseberichterstattung aus der Grenzregion verhindert nicht nur, dass Geflüchtete ihre Rechte wahrnehmen können, sondern berührt auch die Bürger- und Menschenrechte europäischer Journalisten. Ohnehin geht die polnische PiS-Regierung, die aktiv an einer Entmachtung der unabhängigen Justiz und einer Einschüchterung der Zivilgesellschaft arbeitet, gestärkt aus diesem „Grenzspektakel“ hervor. Noch Mitte des Jahres 2021 hatte die EU-Kommission den Mechanismus zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit gegenüber Polen verschärft und der Europäische Gerichtshof Strafsanktionen verhängt. Nun aber sieht sich die rechtskonservative Regierung durch die Unterstützung bei der Grenzabschottung in ihrem repressiven Kurs bestätigt. Ähnliches lässt sich in Ungarn beobachten: Seit 2015 hat die Regierung von Viktor Orbán systematisch die Arbeit von ungarischen Menschenrechts- und Anwaltsorganisationen erschwert und kriminalisiert. Obgleich der Europäische Gerichtshof im November 2021 das sogenannte „Stop Soros“-Gesetzespaket für europarechtswidrig erklärte, mit dem die Regierung Anwälten von Geflüchteten sogar mit Gefängnisstrafen drohte, lenkt Budapest nicht ein. Zugeständnisse in der Flüchtlingsfrage an nationalistische Kräfte tragen daher nicht zur Stabilisierung der europäischen Rechtsgemeinschaft bei, sondern erweitern stattdessen die Handlungsspielräume für autoritäre Politik.
Die Politik der Zäune
Anfang Oktober 2021 schrieben acht osteuropäische Innenminister und ihre Amtskollegen aus Österreich, Dänemark und Griechenland einen Brief an die EU-Kommission. Sie sprachen sich darin für einen stärkeren Grenzschutz aus, der auch die Errichtung „physischer Barrieren“ umfassen soll. Dabei ist diese längst in vollem Gange: Insgesamt 18 Zäune stehen aktuell an den europäischen Außengrenzen, 14 davon haben die EU-Mitgliedstaaten erst seit 2015 errichtet. Laut einer Stellungnahme des juristischen Diensts des Europäischen Rates ist es sogar möglich, „physische Infrastrukturen“ zum Grenzschutz aus EU-Mitteln zu finanzieren. Folgt die europäische Politik fortan dieser Auffassung, gegen die sich die EU-Kommission bislang positionierte, könnte neben die bisherige europäisch koordinierte Politik der Lager nun also eine Politik der Zäune treten. Damit aber stehen das europäische Asylrecht beziehungsweise der Zugang von Schutzsuchenden zum europäischen Rechtsraum grundsätzlich zur Disposition. Auf EU-Ebene treibt die Kommission ihren „New Pact on Migration and Asylum“ voran, der die Auslagerung der Flüchtlingsaufnahme an die Außengrenzen fortsetzen wird. Gewaltsame Pushbacks werden dabei von den Innenministerien teilweise sogar offensiv verteidigt. Die Rede von „hybriden Kriegen“ legitimiert eine solche Politik: Wer sich nicht mit Menschen, sondern mit „menschlichen Waffen“ konfrontiert sieht, greift auch schneller zu gewaltsamen Mitteln.
Die Ampel-Koalition bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag zwar dazu, „die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen“ zu beenden. Auf welche Weise dies geschehen soll, bleibt jedoch unklar. Erwähnt wird nur der unkonkrete Vorschlag, „rechtsstaatliche Migrationsabkommen mit Drittstaaten im Rahmen des Europa- und Völkerrechts“ zu schließen, möglicherweise nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals. Einen solchen Vorschlag hatten bereits einige SPD-Politiker zur Entschärfung der Lage an der polnisch-belarussischen Grenze ins Spiel gebracht. Sie fassten die Ukraine als Aufnahmeland ins Auge, hatten jedoch offenbar vorher nicht mit Kiew gesprochen. Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, konterte den Vorschlag auf Twitter denn auch mit den Worten: „Diesem zynischen Angebot, die Ukraine zum Abstellgleis für Migranten zu machen, hat Kyjiw bereits eine sehr klare Absage erteilt. Das einzige Angebot aus Brüssel und Berlin, das wir annehmen werden, ist die EU-Mitgliedschaft. Dann reden wir über Solidarität. Punkt.“ Die Externalisierungspolitik der EU, also das Auslagern der asylpolitischen Verantwortung auf Drittstaaten, stößt offenbar an ihre Grenzen.
Gegen jede Abschottungslogik
Die politische und rechtsstaatliche Antwort auf die aktuelle Krise an der polnisch-belarussischen Grenze ist eigentlich einfach: Würde man sich an europäisches und internationales Recht halten, dürfte man die Geflüchteten an der Grenze nicht abweisen. Vielmehr müsste man sie in Europa aufnehmen, ihnen Rechtsbeistände zur Verfügung stellen und ihre Asylgesuche rechtsstaatlich prüfen. Die Bundesregierung könnte sogar — wie auch im Sommer 2015 — auf dem Wege des humanitären Selbsteintrittsrechts nach der Dublin-III-Verordnung die Asylverfahren der Betroffenen übernehmen. Damit würde nicht zuletzt auch Lukaschenko sein wichtigstes Druckmittel genommen. Doch diese rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten zählen nicht mehr. Deswegen bietet die reine Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit keine hinreichende Lösung der aktuellen humanitären Krise an den europäischen Außengrenzen. Es bedarf vielmehr einer politischen Gegenbewegung, die sich der Abschottungslogik in Europa offensiv entgegenstellt.
Hinweis der LOTTA-Redaktion: Bei dem Artikel handelt es sich um eine Zweitveröffentlichung eines von Maximilian Pichl in der Ausgabe Januar 2022 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ veröffentlichten Beitrags — mit freundlicher Genehmigung des Autors und der „Blätter“. Die Quellenhinweise in Form von Fußnoten sind nicht enthalten, können aber online auf der Homepage der „Blätter“ (https://www.blaetter.de) nachgelesen werden.