Wunsch und Wirklichkeit einer Bewegungspartei
Entwicklung, Erfolgsbedingungen und Grenzen der AfD im Osten
Die AfD ist kein ausschließliches Ost-Phänomen, aber wegen der viel tieferen Verankerung zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen ist die AfD dennoch ein Phänomen im Osten. Den Anspruch, Avantgarde-Partei der rechten Bewegung zu sein, konnte sie allerdings nicht einlösen. Sie droht zunehmend als „etablierte“ Wahlpartei wahrgenommen zu werden.Die AfD lässt sich nicht auf den Osten reduzieren: Die ostdeutschen Landesverbände spielen in der AfD quantitativ nur eine Nebenrolle, kommt doch nur knapp jedes vierte Parteimitglied aus den neuen Ländern. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick auf den Anteil der Wahlbevölkerung: Eine Analyse der Bundestagswahl 2021 zeigt, dass nur ein Drittel der AfD-Wähler*innen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR lebt. Allerdings findet sie dort größeren Zuspruch. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen holte sie bei der vergangenen Bundestagswahl zwischen 18 und 24,6 Prozent der Zweitstimmen. Thüringen war dabei das einzige Bundesland, wo die AfD sogar etwas zulegen konnte. Ansonsten verlor sie in jedem Bundesland, wobei die Verluste im Westen stärker waren als im Osten. In keinem westdeutschen Bundesland kam die Partei mehr auf ein zweistelliges Ergebnis.
Noch etwas fällt auf beim Ost-West-Vergleich: Während der explizit völkisch-nationalistische Flügel in den meisten westdeutschen Landesverbänden noch um die innerparteiliche Vorherrschaft ringt, dominiert er die Partei in den ostdeutschen Bundesländern seit Jahren klar, vor allem in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen; während die Flügel-Anhänger*innen mit Fortschritten und Rückschlägen in den westlichen Landesverbänden (und Berlin) darum kämpfen, die verbliebenen Reste der ehemaligen „Professoren-Partei“ zurückzudrängen, haben diese „Stützen der Gesellschaft“, die Notablen, die Ehemaligen aus CDU und FDP im Osten nie eine Mehrheit gehabt.
In seinen besten Zeiten war es dem Flügel gelungen, die AfD zumindest im Osten als das aufzustellen, was Björn Höcke Ende 2015 in einem Vortrag beim Institut für Staatspolitik (IfS) in Sachsen-Anhalt „fundamentaloppositionelle Bewegungspartei“ nannte. Die Aufmärsche und Pogrome gegen Refugees ab 2015 wurden zwar in der Regel nicht von der AfD initiiert, aber intensiv von ihr auf der Straße und auch parlamentarisch unterstützt. Das anfänglich distanzierte Verhältnis zu Pegida wandelte sich in eine geradezu symbiotische Beziehung. Die AfD wurde zur „Stimme der Bewegung“ in den Landtagen.
Die Entwicklung der AfD im Osten, die dortigen Erfolgsbedingungen und die Schwierigkeit, sich dauerhaft als Bewegungspartei zu etablieren, sind erklärungsbedürftig. Dabei ist klar, dass der eine Osten nicht existiert. Dresden, Leipzig und Chemnitz unterscheiden sich strukturell vom sächsischen Hinterland, das katholische Eichsfeld vom Süden und Osten Thüringens. Der südliche Teil Sachsen-Anhalts mit seiner weitgehend umstrukturierten Industrieregion steht strammer hinter der AfD als der konservative von der Landwirtschaft geprägte Norden. Und in Brandenburg ist die AfD vor allem im Südosten stark.
Ein Projekt der Gegenaufklärung
Bei ihrer ersten Kandidatur zur Bundestagswahl 2013 hatte die AfD noch keinen Schwerpunkt in den ostdeutschen Bundesländern, lag dort nur minimal über dem Bundesschnitt. Das Hauptthema der AfD in der Anfangszeit, die Kritik an der Eurorettungspolitik der schwarz-gelben Koalition, ging vor allem von den westdeutschen Landesverbänden aus. Doch während sich von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg national gesinnte neoliberale Volkswirt*innen und Lokalpolitiker*innen vor allem aus CDU und FDP bei der neuen Partei einbrachten, waren in Ostdeutschland bereits in der Anfangszeit Rechtsradikale dabei. Andreas Kalbitz und Björn Höcke, die späteren Führungsfiguren des Flügels, traten der AfD wenige Wochen nach der offiziellen Gründung bei.
In den ostdeutschen Bundesländern war von Anfang an der Rassismus ein bedeutender Faktor für den Aufstieg der Partei. Bereits Ende 2013 marschierten im sächsischen Schneeberg mehrmals Hunderte gegen ein lokales Asylbewerberheim auf. Ein Vorläufer für die vielen zum Teil gewalttätigen Proteste gegen Geflüchtete in den folgenden Jahren, die nicht nur, aber vor allem in ostdeutschen Bundesländern stattfanden.
Gemeinsamer ideologischer Kitt der Rechten hüben wie drüben ist jenseits von Rassismus und rechter EU-Kritik die Ablehnung von allem, was mit der Chiffre „68“ verbunden wird. Die Revolte der Jahre um 1968 ist das ideelle Gesamtfeindbild, ob die Folgen von Jörg Meuthen nun als „links-rot-grün versifftes 68-er Deutschland“ denunziert oder als Herrschaft des „Kulturmarxismus“ phantasiert werden. Die Revolte wird als „Kulturbruch“ (Karlheinz Weißmann) verstanden, die das Ende der Adenauer-Republik erzwungen hatte. „68“ wird von der AfD und in ihrem kulturell-ideologischen Umfeld als direkte Fortsetzung der Französischen Revolution begriffen. Und die entsprechenden Werte — Freiheit, Gleichheit und Solidarität — sind den Rechten wie der extremen Rechten, obgleich sie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nie verwirklicht wurden, ein Dorn im Auge. Der Angriff der Rechten, für den der Aufstieg der AfD ein Symptom darstellt, ist ideologisch ein Projekt des Antikommunismus und der Gegenaufklärung.
Kraftzentrum des Flügels im Osten
In den ostdeutschen Bundesländern können sich früh besonders rechtsstehende Akteure durchsetzen. 2014 übernahmen mit Björn Höcke in Thüringen, André Poggenburg in Sachsen-Anhalt und Alexander Gauland in Brandenburg drei Rechtsausleger jeweils den Vorsitz der Landespartei. Diese bundesweit gesehen zwar zahlenmäßig zu vernachlässigenden Landesverbände bildeten dann auch 2015 den Kern der parteiinternen Fraktion des sogenannten Flügels. Dessen Gründungspapier, die „Erfurter Resolution“, geht laut Medienberichten direkt auf Götz Kubitschek vom Institut für Staatspolitik (IfS) zurück. Auch wenn sich der Flügel aufgrund innerparteilichen Drucks im Frühjahr 2020 offiziell auflöste, ist rückblickend die Strategie einer Art rechten Entrismus mit anschließender innerparteilicher Fraktionsbildung voll aufgegangen. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, das früh als das Kraftzentrum des Flügels bestimmt wurde.
Dort zeigt sich, nicht nur durch den Einfluss der „Neuen Rechten“ um das IfS, dass das völkisch-nationalistische Projekt weit über die AfD hinausgeht: Der ehemalige Linke Jürgen Elsässer hat mit seinem relativ erfolgreichen Magazin Compact frühzeitig einen Schwerpunkt auf die ostdeutschen Länder gelegt. Elsässer und Kubitschek wiederum haben gemeinsam das Kampagnennetzwerk Ein Prozent mit ins Leben gerufen und mit der Identitären Bewegung zusammengearbeitet, als diese noch relevant war. Genau diese Kreise sind es auch, die zunehmend in den Fraktionen und als persönliche Mitarbeitende von Abgeordneten einerseits selbst Gehalt und Brot finden und andererseits die dominante extrem rechte Ausrichtung der AfD weiter zu verfestigen helfen.
Zum rechten Projekt zählen auch Soziale Bewegungen, die sich etwa inStraßenmobilisierungen ausdrücken und von denen Pegida in Dresden nur die bekannteste, längst aber nicht die einzige ist. Um das Jahr 2015 herum gab es rassistische Aufmärsche in zahllosen kleineren und mittleren Städten in Ostdeutschland, bei denen immer wieder AfD-Mitglieder mitmischten oder diese sogar initiierten. Christoph Berndt, der Gründer von Zukunft Heimat, einer Cottbusser Auskopplung von Pegida Dresden, ist mittlerweile Fraktionsvorsitzender der AfD-Landtagsfraktion in Brandenburg. Der Schulterschluss zwischen der sächsischen AfD und Pegida wurde am Anfang ausgebremst, weil sich in der vergleichsweise heterogenen AfD-Landtagsfraktion noch einige Abgeordnete fanden, oftmals frühere Vertrauensleute der 2017 ausgetretenen Frauke Petry, die auf Distanz zu dem ganz rechten Spektrum auf der Straße gingen. Die Machtverhältnisse in der Landtagsfraktion änderten sich spätestens mit der Landtagswahl 2019 drastisch.
2018 führt die AfD die Bewegung an
Es gelang den völkisch-nationalistischen Aktiven bis Herbst 2018, die AfD als wichtigen Teil der rechten Sozialen Bewegung im Osten zu etablieren. Höhepunkt war eine Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018, wo die AfD mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz und nunmehr auch dem sächsischen Landesvorsitzenden Jörg Urban in der ersten Reihe marschierte — Schulter an Schulter mit den Galionsfiguren von Pegida wie Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz, den Identitären, mit Neonazis aus Kameradschaften und von Der III. Weg. Mit dieser Demonstration präsentierte sich die AfD als führende Kraft einer rechten Einheitsfront, die die Herausforderung auf der Straße mit der parlamentarischen Arbeit verknüpft. Der Schulterschluss mit jenem Teil der Bewegung, der offiziell als „rechtsextremistisch“ stigmatisiert ist, wurde damit öffentlich sichtbar vollzogen. Die letzten taktischen Hemmungen waren gefallen, der „point of no return“ überschritten.
Dieser September 2018 markierte gleichzeitig auch den vorläufigen Höhepunkt für die AfD: Fast 20 Prozent gaben in Umfragen zu diesem Zeitpunkt an, AfD wählen zu wollen. Ähnlich hohe Umfragewerte erreichte die AfD seitdem nicht wieder. Zudem droht die AfD, ihres bisherigen Hauptthemas, der Asylzuwanderung, verlustig zu gehen. Noch ist nicht ausgemacht, was an seine Stelle treten könnte. Das Thema des Klimawandels scheint sich anzubieten, da sich dabei dessen Leugnung diskursiv gut verknüpfen lässt mit der Propaganda gegen den erklärten politischen Hauptfeind, die Grünen, sowie mit der Forderung der volksgemeinschaftlichen sozialen Abfederung der ökologischen Kosten. Dabei greifen Teile der AfD den Begriff des „solidarischen Patriotismus“, der das nationale Kapital und die Lohnabhängigen gleichermaßen von den „Globalisten“ schützen soll, auf, der im IfS ausgearbeitet und von Höcke popularisiert wurde. Die Westlandesverbände tun sich erheblich schwerer mit solchen strategischen Ansätzen, da der Neoliberalismus als Ideologie dort stärker verankert ist. Eine seltene Ausnahme ist Dimitrios Kisoudis’ Konzept des Ordnungsstaates: Der Autor diverser AfD-naher Publikationen und Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hess stellt sich gegen ein explizit sozialpolitisches Profil und plädiert für einen autoritären Ordnungsstaat.
Bezeichnenderweise verliert die AfD seit 2018 aber vor allem in den westdeutschen Ländern, während sie im Osten nahezu stabil auf sehr hohem Niveau bleibt. Das befördert Diskussionen um eine mögliche Abspaltung der erfolgreicheren, aber auch deutlich weiter rechts stehenden Landesverbände in den neuen Bundesländern. Noch-Parteichef Jörg Meuthen brachte Anfang 2020 die Idee einer „Lega Ost“ ins Spiel, ein Begriff, der ursprünglich vom rechten Publizisten Karlheinz Weißmann stammt, der 2015 in der Jungen Freiheit davor warnte, sich in der AfD zu sehr auf Leute wie Höcke und Kubitschek zu kaprizieren. Doch auch Höcke, Kubitschek und Berndt wissen, dass eine rein regionale AfD zu wenig Einfluss auf die gesamte Bundesrepublik hätte.
Erfolgsbedingungen für die AfD im Osten
Die Voraussetzungen für eine explizit völkisch-nationalistische Ansprache sind in den ostdeutschen Bundesländern günstig, da dort das Anti-Establishment-Ressentiment, das die AfD bedient, auf fruchtbaren Boden fällt. Das tut es auch, weil sich die Struktur der Klassengesellschaft im Zuge der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik binnen kurzer Zeit fundamental verändert hat: Quasi über Nacht musste das einstige Industrieproletariat mit einem forcierten Strukturwandel, der gezielten Deindustrialisierung des Ostens und damit einhergehender Massenarbeitslosigkeit zurechtkommen. Was sich in ehemaligen Industrieregionen wie im Ruhrgebiet über Jahrzehnte vollzogen und trotz staatlicher Abfederungen zu Verwerfungen im Sozialgefüge geführt hat, spielte sich Anfang der 1990er Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in Wochen ab. Statt versprochener blühender Landschaften gab es Industrieruinen; der Glaube an „die da oben“, nach der Erosion der DDR ohnehin nicht besonders ausgeprägt, war ein für allemal verloren.
Die Bindungen der Bevölkerung an die Ideologien und Institutionen der alten Bundesrepublik mussten in Ostdeutschland nicht erst schwächer werden. Sie waren ohnehin nie besonders ausgeprägt. Anders als in Westdeutschland befinden sich weite Teile Ostdeutschlands seit dreißig Jahren in einer Art permanenter Hegemoniekrise, in der die führenden und herrschenden Klassen die Massen nicht erreichen und der gesellschaftliche Konsens nicht mehr hergestellt werden kann. So kann das rechte Projekt in ein Hegemonie-Vakuum stoßen. Das gilt besonders für ländliche Regionen im Osten, wo die Zivilgesellschaft sehr schwach ausgeprägt ist und es staatlichen Zugriff allenfalls noch über den Gerichtsvollzieher gibt. In dieser Konstellation können rechte Organisationen gedeihen und sich rechte Gegenerzählungen etablieren, unabhängig davon, ob diese etwas mit der Realität zu tun haben.
„Der Verlust des Urvertrauens und das daraus herrührende Wutpotential ostdeutscher Generationen“ böte „einmalige Chancen des alternativen Oppositionspotentials“, frohlockte etwa Benedikt Kaiser 2019 in der IfS-Zeitschrift Sezession. „Es ist ein Potenzial, das bereits positive Protesterfahrungen hat: Viele derjenigen, die Ende 2021 in ostdeutschen Städten Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen organisieren und Polizeiketten durchbrechen, haben in den 1990er Jahren kämpfen gelernt. Diese Generation ist heute um die 50 Jahre alt, häufig lokal verankert, Stütze einer rechten gegenhegemonialen Zivilgesellschaft.
AfD rennt zunehmend hinterher
Und doch zeigt sich in den aktuellen Corona-Protesten auch, dass die AfD ihren Nimbus als Avantgarde-Partei der rechten Bewegung zu verlieren scheint. Sie ist zwar noch parlamentarische Repräsentantin, führt die Proteste aber nicht mehr an, rennt vielmehr hinterher. Die Dynamik geht im südöstlichen Teil Ostdeutschlands eher von den Freien Sachsen aus.
Der sinkende Stern der AfD ist erstens auf parteiinterne Streitigkeiten zurückzuführen: Anders als die Ablehnung von Migration und der Werte der Aufklärung bietet sich Corona nicht an, um parteiinterne Gräben zuzuschütten; zu weit auseinander gehen die Auffassungen über die richtige Positionierung während der Pandemie. Zum zweiten hat die AfD in den vergangenen Jahren vernachlässigt, Vorfeldstrukturen zu stärken und so das eigene Milieu zu verbreitern. Bei der AfD scheint sich drittens das „eherne Gesetz der Oligarchie“ des zunächst linken und später faschistischen Parteienkritiker Robert Michels zu bestätigen, nach dem sich in Parteien über kurz oder lang Bürokratien und Machteliten entwickeln und diese so ihre Dynamik verlieren. Die AfD ist in diesem Sinne auf dem Wege, eine etablierte Partei zu werden. Viertens zeigt sich im Moment , dass es in beweglichen Zeiten, dank Messenger-Diensten wie Telegram und Whatsapp, keine Partei braucht, die die verschiedenen Fäden zusammenhält, das Geschehen zentral lenkt und die notwendige Agitation organisiert.
Die Vordenker des Flügels dürften sich vieler dieser Probleme bewusst sein, backen entsprechend mittlerweile kleinere Brötchen als noch vor ein paar Jahren. Auf längere Sicht zielen sie darauf, führende Kraft in der rechten Sammlungspartei AfD auf Bundesebene zu werden, die im besten Falle wieder zur Bewegungspartei wird. Das Nah-Ziel, ein Kraftzentrum im Osten aufzubauen, haben sie erreicht.