Hessische Zustände
Eine Einleitung in den Schwerpunkt
„Hessen ist ein sicheres Land“, so Innenminister Peter Beuth bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 2019. Doch für wen gilt dieser Satz? Für Kaloyan Velkov, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Gökhan Gültekin jedenfalls nicht. Sie starben nicht einmal zwei Tage nach der Aussage Beuths, ermordet von einem extrem rechten Täter. Weil Neonazis ihnen das Recht zu leben absprachen, mussten auch Halit Yozgat und Walter Lübcke sterben. Auch für die Überlebenden rassistischer Angriffe wie beispielsweise Bilal M. und Ahmed I., gab es keine Sicherheit. Oder für Seda Başay-Yıldız, eine der Empfänger*innen der Drohschreiben des NSU 2.0.
Diese Menschen sind die bekannteren Todesopfer und Betroffene rechter Gewalt und Drohungen, also rechten Terrors in Hessen, nicht jedoch die einzigen. Ein Skandal mit extrem rechten Bezügen folgt auf den nächsten, die staatlichen Verstrickungen sind offenbar. Hessen hat ein strukturelles Problem mit Rassismus und rechter Gewalt. Die Gründe dafür sind vielfältig, die eine Antwort kann dieser Schwerpunkt nicht geben. Dass der Unwille, sich mit rechten Strukturen und Ungleichheitsideologien tiefgehender und ehrlich auseinanderzusetzen, nicht unwesentlichen Anteil daran hat, liegt jedoch auf der Hand. Deshalb tut es not, einen kritischen Blick auf staatliche Institutionen zu werfen und die staatliche Deutungshoheit in Frage zu stellen. LOTTA hat in den vergangenen Jahren regelmäßig über größere und kleinere Ereignisse, Entwicklungen und Erkenntnisse aus Hessen berichtet. Nun ist es Zeit für einen Schwerpunkt, der verschiedene Facetten tiefergehend beleuchtet. Denn an Hessen führt kein Weg vorbei, will man die Kontinuitätslinien rechten Terrors und ihre Verschränkung mit Staat und Gesellschaft verstehen.
Hessen ist aber auch Ort des Kampfes und der Vernetzung. Wut und Trauer über die Verhältnisse werden zu widerständiger Praxis, gemeinsam werden Perspektiven des Lebens und Überlebens in den „Hessischen Zuständen“ geschaffen und Druck auf den Staat aufgebaut, der sich so lange weigerte zu reagieren. Im Radiofeature „Der letzte Tag“ von Sebastian Friedrich bringt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar aus Hanau dies auf den Punkt: „Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Politik handelt, dass endlich Konsequenzen gezogen werden. Wir wollen keine weiteren Morde. Hanau war kein Einzelfall.“
Rechte Chatgruppen und Polizist*innen, Bundeswehrsoldaten, Richter: Wie Hessen von Skandal zu Skandal wegzusehen versucht, fassen Sonja Brasch und Sebastian Hell zusammen .
Caro Keller von NSU-Watch schildert im Interview, welche Rolle Hessen im NSU-Komplex spielt und gibt einen Ausblick auf das Projekt „Kein Weg vorbei“, das einen kritischen Blick auf die hessischen Zustände wirft.
Den Hintergründen zum NSU 2.0 und den Versuchen, den Angeklagten im laufenden Prozess zum Einzeltäter zu erklären, widmen sich Sebastian Hell und Simon Tolvaj.
Sonja Brasch analysiert die Arbeit der „BAO Hessen R“ hinter den Floskeln der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit.
Die Gruppe „Pressestelle“ stellt vor, wie sie mit eigenen Recherchen am Aufbau einer Gegenöffentlichkeit zu staatlichen Narrativen in Nordhessen arbeitet.