„Kein Weg vorbei“

Interview mit „NSU-Watch“

Der Imageslogan „An Hessen führt kein Weg vorbei“, den sich die landeseigene Werbeagentur ausdachte, beschreibt treffend die Rolle Hessens beim Thema rechter Terror, dachte sich das Netzwerk „NSU-Watch“ und benannte ihr neues Projekt in Anlehnung daran. Caro Keller, Redakteurin bei „NSU-Watch“, stellt die bei Redaktionsschluss der LOTTA noch im Aufbau befindliche Webseite vor und erklärt, warum sich Hessen als Beispiel eignet, um ein Umdenken bei diesem Thema zu erkämpfen.

Der Imageslogan „An Hessen führt kein Weg vorbei“, den sich die landeseigene Werbeagentur ausdachte, beschreibt treffend die Rolle Hessens beim Thema rechter Terror, dachte sich das Netzwerk „NSU-Watch“ und benannte ihr neues Projekt in Anlehnung daran. Caro Keller, Redakteurin bei „NSU-Watch“, stellt die bei Redaktionsschluss der LOTTA noch im Aufbau befindliche Webseite vor und erklärt, warum sich Hessen als Beispiel eignet, um ein Umdenken bei diesem Thema zu erkämpfen. Hallo Caro! Vielen Dank, dass du uns  das Projekt „Kein Weg vorbei“ vorstellst. Kannst du uns erst einmal erzählen, was es damit auf sich hat?

Klar, gerne. NSU-Watch ist ein antifaschistisches Netzwerk, das sich mit dem NSU-Komplex und rechtem Terror befasst. Und da schauen wir natürlich auch schon lange nach Hessen. Nach den Morden an Halit Yozgat und Mehmet Kubaşık hatten die Angehörigen der Ermordeten im Jahr 2006 eine große Demonstration in Kassel unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ organisiert. Sie machten auf das mögliche rassistische Tatmotiv aufmerksam. Diese Demonstration ist erst nach 2011, also nach der Selbstenttarnung des NSU, breit bekannt geworden. Das war eine Leerstelle, auch in der antifaschistischen Betrachtung. Wir haben uns das sehr zu Herzen genommen und arbeiten aktiv daran, solche Leerstellen aufzuspüren.

Wir überlegen, wie man rechten Terror beschreiben und analysieren kann, um ihn verhindern zu können. Da sind für uns die Kontinuitätslinien sehr zentral und dass man den Blick weiten muss, um rechten Terror aufzuklären. In Hessen gibt es sowohl eine lange rechtsterroristische Geschichte, als auch viele rechte und rechtsterroristische Morde und Angriffe in jüngster Vergangenheit. Deswegen fordern wir, dass man die letzten 30 oder 40 Jahre in den Blick nehmen muss, um die Taten einzuordnen und aufzuklären. Die Morde an Halit Yozgat und Walter Lübcke, die Morde in Hanau oder die Mordversuche in Wächtersbach und Kassel sind Beispiele dafür. Um nicht nur bei der Forderung zu bleiben, wollen wir das nun selbst einlösen. Deswegen haben wir uns zu diesem Projekt „Kein Weg vorbei“ entschieden, wo anhand von vier Kontinuitätslinien genau diese Geschichte aufgearbeitet werden soll. Dafür haben wir erneut mit Talya Feldmann zusammengearbeitet. Wir haben sie bei unserer Arbeit zum antisemitischen, rassistischen und misogynen Attentat in Halle kennengelernt. Sie ist Überlebende des Anschlags auf die Synagoge und arbeitet als Künstlerin und Aktivistin zum Thema rechter Terror. Gemeinsam haben wir bereits das Projekt „Global White Supremacist Terror: Halle“ veröffentlicht. Wir haben uns gemeinsam überlegt, dass wir als nächstes intensiver nach Hessen schauen wollen. Talya arbeitet, genauso wie wir, am Aufbau und der Erweiterung solidarischer Netzwerke von Betroffenen, Angehörigen und Überlebenden deutschlandweit und ist dementsprechend auch immer wieder in Hessen aktiv.

Wie seid ihr dabei vorgegangen und wie wird das Ergebnis konkret aussehen?

Wir sind nach Hessen gefahren, um uns mit den Menschen vor Ort zu unterhalten, haben die Gespräche je nach Wunsch als Video, Audio oder als Text festgehalten und unsere Eindrücke fotografisch dokumentiert. Wir haben mit Betroffenen und Überlebenden gesprochen, zum Beispiel mit Ahmed I. und Seda Başay-Yıldız. Ahmed wurde 2016 mutmaßlich — muss man leider sagen — von Stephan Ernst von hinten niedergestochen. Mutmaßlich deswegen, weil Ernst in erster Instanz vom Vorwurf, diese Tat begangen zu haben, freigesprochen wurde. Seda Başay-Yıldız ist Nebenklägerin im Prozess gegen Alexander Mensch, sie wurde vom sogenannten NSU 2.0 bedroht. Wir haben mit Aktivist*innen gesprochen, zum Beispiel mit Newroz Duman von der Initiative 19. Februar aus Hanau, und mit Antifas aus verschiedenen Städten. Sowie mit Journalist*innen. Wir haben mit ihnen gemeinsam diese Kontinuitätslinien aufgearbeitet. Das Ergebnis wird dann in einem Webprojekt als digitaler Essay zu sehen sein. Durch Interviews, Videos und Fotos kann man sich ein umfassendes Bild machen.

Du hast von verschiedenen Kontinuitätslinien gesprochen. Welche sind das? Und warum sind sie so wichtig für das Verständnis von rechtem Terror?

Wir schauen zum einen auf Neonazi-Aktivitäten — und hier speziell auf die Geschichte von Stephan Ernst und Markus H. Ihre Aktivitäten und Biographien stehen als eine Art personalisierte Kontinuität des rechten Terrors. Zum zweiten schauen wir auf die Behörden, wo es eine große Kontinuität von Nicht-Ermittlungen, Nicht-Aufklärung gibt. Zum dritten schauen wir auf die Kontinuitäten von Rassismus in der Gesellschaft. Und die vierte Linie stellt, als Gegengewicht dazu, die Kontinuität der Kämpfe um Anerkennung und Aufklärung dar. Hessen ist ein Beispiel für bundesdeutsche Zustände, anhand dessen man genau zeigen kann, wie rechter Terror funktioniert. Es gibt immer wieder rechte Mobilisierungen in der Gesellschaft, die dann eben auch möglichen rechten TerroristInnen den Rücken stärken, um ihre Taten zu begehen. Es gibt eine lange rechtsterroristische Tradition und die entsprechenden Netzwerke. Und dem gegenüber steht die Nichtaufarbeitung und Nichtaufklärung durch die Behörden sowie eine Ignoranz durch die Politik. Das führt in der Konsequenz immer wieder dazu, dass weitere Taten nicht verhindert, sondern ermöglicht werden. Was wir in Hessen feststellen, gilt für viele Gegenden Deutschlands. Wir wollen auch dazu ermutigen, diese Geschichten weiter aufzuarbeiten. Wir haben in den letzten zehn Jahren Aufklärung des NSU-Komplexes viel im Themenbereich rechter Terror gelernt und sind in der Auseinandersetzung ein gutes Stück weiter gekommen. Es sind eben nicht nur eine Reihe von Neonazis, die betrachtet werden müssen. Die Gesellschaft gehört ebenso in den Blick wie die Behörden. Wir wollen aber auch zeigen, dass wir diesen Kontinuitätslinien nicht ohnmächtig ausgesetzt sind, sondern ihnen etwas entgegensetzen können.

Woran liegt es, dass diese Kontinuitäten bei staatlichen Versuchen von Aufklärung so außen vor bleiben?

Wenn es um rechten Terror geht, gibt es gesellschaftlich immer noch die Narrative vom Einzeltäter und Einzeltaten. Also im Grunde einzelne Menschen, die einzelne Taten begehen, die angeblich nichts miteinander zu tun haben. Dem muss man widersprechen. Man muss zeigen, dass es eine Kontinuität rechten Terrors gibt. Die Taten ähneln sich, die Ideologie ähnelt sich, man nimmt aufeinander Bezug. Nur wenn man diese Kontinuitäten analysiert und versteht, schafft man die Grundlage, rechten Terror zu verhindern, indem man die Aufarbeitung leistet, Netzwerke zerschlägt und eben endlich die Lehren aus der Vergangenheit zieht. Man ist aber nicht bereit, den Blick zu öffnen und die Verantwortung zu übernehmen. Es wäre sowohl juristisch als auch parlamentarisch möglich und notwendig. Natürlich geht es bei einem Gerichtsprozess darum, die Schuld der jeweiligen Angeklagten festzustellen. Die Frage ist aber oft, wie es zur Auswahl der Angeklagten kommt und welche Thesen der Ermittler*innen, Staatsanwält*innen und Richter*innen dahinter stehen. Insbesondere bei der Aufdeckung rechter Netzwerke gehört mehr dazu als nur die einzelnen Täter­Innen auf der Anklagebank. Im par­lamentarischen Raum gilt das natürlich umso mehr. Die Abgeordneten haben wirklich alle Möglichkeiten in der Hand, um aufzuklären. Die Untersuchungsausschüsse in Thüringen, im Bundestag und in Sachsen haben gezeigt, wie viel Aufklärung auf parlamentarischem Weg möglich ist. Man muss es nur tun. Man muss bereit sein, diese Arbeit zu leisten und diese Verantwortung zu übernehmen. Es gibt viele Gründe, diese Verantwortung abzulehnen. Sie zu übernehmen, würde ein anderes Bild dieser Gesellschaft bedeuten. Es würde auch ein anderes Bild von Behörden bedeuten, wenn man wirklich einmal feststellt: Es gibt eine Nichtaufklärung, es gibt institutionellen Rassismus. Es gibt eine Verantwortung im Bereich rechter Terror, dass man Taten — Beispiel „Verfassungsschutz“ — mit ermöglicht hat. Und das würde eben auch bedeuten, dass die Behörden umgebaut und im besten Fall abgeschafft werden müssen. Im Fall des „Verfassungsschutzes“ hätte das einfach sehr, sehr große Auswirkungen, wenn man dieser Verantwortung gerecht werden würde. Und vielleicht ist man dazu nicht bereit, oder man findet es nicht wichtig genug. Was es braucht, ist gesellschaftlicher Druck, um noch einmal auf die Wichtigkeit der aktivistischen Kontinuitätslinie einzugehen. Es braucht gesellschaftlichen Druck, weil nur dadurch die Aufklärungsbereitschaft steigt. Das ist das, was wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Hier zeigt sich, dass man dem nicht ohnmächtig ausgesetzt ist, sondern dass man etwas bewirken kann, indem man diese Gremien dazu zwingt, aufzuklären und Verantwortung zu übernehmen.

Warum ist es dabei so wichtig, das Wissen von Betroffenen in den Fokus zu nehmen?

Wir müssen das Sprechen über rechten Terror ändern, dann kann man hoffentlich auch an rechtem Terror an sich etwas ändern. Dafür müssen die Perspektiven der Betroffenen, Angehörigen, Überlebenden in den Fokus rücken. İbrahim Arslan, Aktivist und Überlebender des rassistischen Brandanschlags von Mölln 1992, sagt immer wieder: „Die Betroffenen sind die Hauptzeugen des Geschehenen. Sie sind keine Statisten.“ Sie wissen am besten, was passiert ist. Und das zeigt ja auch genau die Demonstration der Angehörigen der vom NSU Ermordeten 2006 in Kassel. Sie wussten schon Jahre bevor der NSU sich selbst enttarnt hat und die Mehrheitsgesellschaft und auch Antifaschist*innen endlich hinschauten, dass es sich wahrscheinlich um rechte Morde handelt. Weil ihnen eben klar ist, wer ihnen feindlich gegenüber steht in Deutschland, nämlich Neonazis und RassistInnen. Wenn man damals auf die Angehörigen gehört hätte, hätte man gemeinsam mit ihnen um Aufklärung kämpfen können. Und es hätte hoffentlich einen Unterschied gemacht. Es geht dabei auch um ein Lernen aus dem NSU-Komplex, dass diesem Wissen Glauben geschenkt muss und die Perspektiven in den Vordergrund rücken. Und es geht auch darum, Empathie für die Betroffenen rechter Gewalt zu schaffen in der Gesellschaft, nicht immer nur Sympathie und Identifikation mit den Tätern und Täterinnen, die entsteht, wenn man immer nur ihre Bilder sieht und ihre Namen hört. Die Mehrheitsgesellschaft weiß mehr über die Angeklagten im NSU-Prozess als über die Ermordeten und ihre Angehörigen. Das muss sich ändern. Es muss Solidarität entstehen, die man rechtem Terror entgegensetzen kann. Das klingt idealistisch oder vielleicht auch naiv. Aber genau das wird hoffentlich der Weg sein: solidarische Netzwerke zu knüpfen gemeinsam mit Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen, die dann dem rechten Grundkonsens in der Gesellschaft entgegen stehen, um damit rechtem Terror die Grundlage zu entziehen.