Kein willkürlich ausgewähltes Opfer
Übersehende Perspektiven auf den Mord im „Cafe Vivo“ 2017
Vor fünf Jahren wurde Birgül Düven in Duisburg ermordet. Der Rückblick auf die Ermittlungen und den Gerichtsprozess ruft in Erinnerung, dass mit der Verurteilung des Täters politische Motive, Ideologien der Ungleichwertigkeit oder der Hass auf Frauen als tatauslösend ausgeschlossen blieben.
Am 3. Mai 2017, gegen 9:45 Uhr, fand eine Angestellte sie. Die 46-Jährige war erschossen worden, noch bevor sie an diesem Morgen ihr Café Vivo im Duisburger Innenhafen hatte öffnen können. Bei der Untersuchung des Tatorts wurde schnell klar: ein Raubmord schied aus, da nichts entwendet worden war. Das gläserne Atrium teilte sich das Café mit einer Bank. Durch die Fenster hinweg hatte ein Bankangestellter Birgül Düven kurz vor ihrem Tod noch mit einem Winken gegrüßt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Täter bereits unter dem Vorwand Zutritt verschafft, die Toilette aufsuchen zu müssen. Hier bereitete er die Tatwaffe mit Schalldämpfer vor.
„Das Café wirkt auf den ersten Blick völlig normal“, schrieb Der Westen am Tattag. Diese „Normalität“ mit der mörderischen Gewalttat in Verbindung zu bringen, bestimmte in der Folge die öffentliche Diskussion. Spekulationen kursierten: Offene Schutzgeldzahlungen könnten einen Auftragsmord ausgelöst haben, türkische Medien behaupteten gar eine Verstrickung des türkischen Geheimdienstes. Bei anderen Beobachter*innen rief der Mord Erinnerungen an die NSU-Serie wach: Eine Gastronomin mit türkischer Familiengeschichte war am helllichten Tag in ihrem Geschäft erschossen worden. NSU-Watch forderte die Ermittlungsbehörden öffentlich auf, zunächst ein „mögliches rassistisches Motiv des Mordes lückenlos [zu] untersuchen“, anstatt sich verfrüht auf Ermittlungsansätze zu „Organisiertem Verbrechen“ festzulegen.
Da andere Spuren fehlten, ermittelte die Polizei zeitweilig im Umfeld der Ermordeten und ihrer Familie. Entscheidend war dann aber ein Zufall: übereinstimmende DNA-Spuren, die sich sowohl am Duisburger Tatort als auch am Ort einer brutalen Gewalttat in Berlin fanden. Am 1. November 2017 war dort eine 64-jährige Frau mit einer Metallstange niedergeschlagen worden. Der Täter hatte ihr Auto stehlen wollen. Als Passant*innen eingriffen, flüchtete er unerkannt. Am Tatort fanden sich zudem Fingerabdruckspuren, die später einem Mann zugeordnet wurden, der am 23. Januar 2018 einen Ladendetektiv mit Reizgas und einem Messer angegriffen hatte. Wenig später wurde Constantin Ulrich S. verhaftet.
Motiv Mordlust?
Im März 2019 verurteilte die 5. Große Strafkammer am Landgericht Duisburg den 30 Jahre alten S. wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Zweifel an seiner Täterschaft bestanden nicht. Die Schussabgabe hatte er selbst eingeräumt, ohne Reue. Stattdessen beschuldigte er das Opfer, ihn auf der Toilette „wachgerüttelt“ und dann zum Gehen gedrängt zu haben. So hätte sich der Schuss „versehentlich“ gelöst. Die Waffe habe er zur Selbstverteidigung gegen „islamischen Terrorismus“ stets ungesichert bei sich getragen. Doch alle Beweise und Indizien zeigten: Er hatte die Tat geplant, die Ahnungslosigkeit seines Opfers ausgenutzt und Birgül Düven mit einem am Kopf aufgesetzten Schuss regelrecht hingerichtet.
In seinen Einlassungen vor Gericht versuchte S. mehrfach, staatlichen Behörden die Schuld für die Tat anzulasten. Sie hätten ihn nicht gehindert, eine Waffe zu führen. 2016 hatte er in Österreich legal Schusswaffen gekauft. Dass der Angeklagte für eigene Handlungen Dritte verantwortlich zu machen versuche und krude „Privatlogiken“ äußere, erinnerte das Gericht an „fanatisierte Randgruppen“, etwa an „Reichsbürger“. Politische oder „fremdenfeindliche“ Motive schloss es aber aus – der Angeklagte sei polyglott und „reisefreundlich“, zudem fehle ein politisches Tatbekenntnis. Als Motiv sei stattdessen von Mordlust auszugehen. Einen Menschen sterben zu sehen, habe ihm „ein Gefühl der Erhabenheit und Freude, mithin ein Gefühl innerer Befriedigung verschafft“, so das Gericht.
„Pickup artists“ und Misogynie
Die Polizei hatte beim Täter Notizen zu Entführungs- und Tötungsszenarien sichergestellt, in denen auch Personen aus seinem sozialen Nahbereich erwähnt wurden. Birgül Düven gehörte nicht dazu. Mit ihr verband den Täter nichts. Wohl aber war sie eine Geschäftsfrau, die aus eigener Kraft erfolgreich war. Die Selbstwahrnehmung des Täters hingegen war eher von Ansprüchen denn von Wirklichkeit geprägt. Nach seinen Studienabschlüssen an kostspieligen (Privat-)Hochschulen in Dortmund und Barcelona konnte der wohlhabend aufgewachsene S. beruflich nicht Fuß fassen. Zeitweise jobbte er als Barista, gab sich zugleich den Anschein eines urbanen Flaneurs. Er täuschte Wohlstand vor. Nach einem Betrugsversuch verlor er seinen Finanzberater-Job in München. Den Erwartungen seiner Eltern wurde er nicht gerecht. Sein Vater machte vor Gericht deutlich: Sein Sohn sei ein Loser, ein Aufschneider und erfolgloser Mann. Zeug*innen-Aussagen offenbarten außerdem, dass der Täter in Freundschaften als empathielos galt und bei sexuellen Begegnungen grenzüberschreitend handelte. Er selbst gab an, dass ihm die sogenannte „pickup artist“-Szene Vorbild sei. So habe er das Buch „Mode One“ von Alan Roger Currie als Handreichung genutzt, um Frauen zu sexuellen Kontakten zu überreden. Zu den gegen ihn geführten Strafanzeigen wegen sexueller Nötigung schwieg er. Ein Zeuge indes gab an, den Kontakt zu ihm abgebrochen zu haben, da ihm seine Art, mit Frauen umzugehen, zu „krass“ gewesen sei.
„Techniken der emotionalen Manipulation“ und „psychologische Tricks“, die Frauen erniedrigen und ihren Willen brechen sollen, gehören zur Strategie der misogynen „pickup artists“. Wo Männer erfolglos bleiben, richtet sich ihr Hass gegen diejenigen, die sich nicht haben „verführen“ lassen. Eine Männlichkeit, die davon ausgeht, „passive, wehrlose und tendenziell irrationale Frauen als Mütter […], Sexualpartnerin und Arbeitskraft zur Verfügung zu haben,“ legitimiert Gewalt gegen Frauen* damit, dass die Angegriffenen gegen diese Rollenideale verstoßen. „Tödliche Misogynie“, so Eike Sanders, richtet sich „gegen Frauen* als Repräsentant*innen ihres Geschlechts“, gegen Frauen, „die gegen die Ordnung verstoßen.“ (siehe hier). Im Prozess sind diese Aspekte des Tatzusammenhangs und der Täterbiographie nicht angemessen gewürdigt worden. Dabei ist aus guten Gründen davon auszugehen, dass – entgegen der Überzeugung des Gerichts – Birgül Düven eben kein willkürlich ausgewähltes Opfer war. Wäre sie männlich, weiß und weit entfernt von beruflichem Erfolg oder Statussymbolen – sie wäre heute 51 Jahre alt. Ihre Geschichte zeigt einmal mehr, dass es Zeit ist, misogyne Gewalt ernst zu nehmen. Im Gefolge von Rassismus, Abwertungsideologien und hegemonialer Männlichkeit ist sie Teil tödlichen Hasses.