Parteiischer Journalismus in Kassel
Die eigenen Geschichten in die Öffentlichkeit zu bringen
Über Journalismus herrscht die Meinung vor, er müsste „neutral” sein. Und ist deswegen oft vor allem eines: beliebig. Seit etwa zwei Jahren arbeiten wir in Kassel an einer Plattform für kritischen Lokaljournalismus. Damit wollen wir denen eine Stimme in der Öffentlichkeit geben, die sonst nicht gehört werden. Wie wichtig das ist, zeigt sich auch bei rassistischen Vorfällen.
Die pressestelle besteht seit Januar 2020 und ist eine kleine Online-Zeitung für Kassel und Umgebung. Wir organisieren uns als Redaktionskollektiv und sind angedockt an die dezentrale, eine Online-Plattform, auf der es neben unseren Artikeln auch einen Terminkalender und eine Übersicht über linke Strukturen in Kassel gibt. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir, nicht nur das vielfältige politische Leben in Kassel abzubilden, sondern auch denen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Ein Beispiel ist ein Vorfall im Kasseler Nordstadtpark im Oktober 2021. Damals wurden zwei Personen aus rassistischen und queerfeindlichen Motiven angegriffen und teils schwer verletzt, eine Polizeimeldung oder einen Artikel in der Lokalpresse gab es darüber aber nicht. Einer der angegriffenen Personen war es sehr wichtig, dass der Vorfall öffentlich gemacht wird. Wir haben dann ein längeres Interview geführt und veröffentlicht.
In Kassel war der Mord an Halit Yozgat und das Auffliegen des NSU ein einschneidendes Erlebnis. Als 2011 bekannt wurde, dass die Mordserie einen rassistischen Hintergrund hat, war das etwas, was Migrant:innen schon seit Jahren geahnt hatten. Angehörige der Ermordeten hatten immer wieder den Verdacht geäußert, Neonazis könnten die Taten begangen haben. Gehört wurden sie in der Öffentlichkeit aber nicht. Das ist eine Lehre, die man aus dem NSU-Komplex ziehen kann, und einer der Gründe, warum wir versuchen, die Betroffenen von Gewalt ihre Geschichte erzählen zu lassen.
Dass die lokale rechte Szene nach dem Mord an Walter Lübcke bundesweit im Fokus der Öffentlichkeit stand, hat ein leicht verzerrtes Bild von den Zuständen in Kassel erzeugt. Im Alltag spielen Neonazis nur eine unbedeutende Rolle, und auch ein „Hotspot” rechter Gewalt ist Kassel nicht. Trotzdem erfahren Menschen auch hier Gewalt aus rassistischen, antisemitischen oder sexistischen Gründen. Als Teil unserer Arbeit verstehen wir nicht nur, darauf aufmerksam zu machen, sondern auch den Betroffenen eine Bühne zu bieten, die sie nutzen können, wenn sie das wollen. Oft werden vor allem bei der Berichterstattung über Straftaten Polizeimeldungen unkritisch übernommen. Für uns ist die Polizei keine „neutrale” Quelle, und was der Polizeisprecher zu sagen hat, interessiert uns erstmal nicht. Die polizeiliche Version wird ohnehin in allen anderen Medien verbreitet. Wir suchen grundsätzlich das Gespräch mit den Betroffenen. Damit können wir zwar keine „Ermittlungen” anstellen, um herauszufinden, was wirklich passiert ist, aber wir können ihre Erfahrungen, ihre Sichtweise und Einschätzung öffentlich machen und anderen Erzählungen gegenüberstellen.
Hintergründe recherchieren
Als zum Beispiel im Sommer 2020 der Kasseler Minicar-Fahrer Efe von einem Fahrgast mit einem Messer in den Hals gestochen wurde, fand sich auch nur genau das in der Polizeimeldung und schließlich in der Zeitung. Es kursierte aber das Gerücht in der Stadt, die Tat habe einen rassistischen Hintergrund gehabt. Wir haben uns dann bemüht, mit dem Betroffenen selbst oder Menschen aus seinem Umfeld Kontakt aufzunehmen. Der Leiter des Unternehmens bestätigte uns, dass sein Fahrer rassistisch beleidigt worden war, bevor der Täter zustach. Wir konnten damit nicht bloß auf den rassistischen Hintergrund der Tat aufmerksam machen, sondern auch die Frage aufwerfen, warum dies weder in der Polizeimeldung, noch in der bisherigen Berichterstattung auftauchte. Ob das absichtlich verschwiegen wurde oder bis dahin einfach niemand danach gefragt hatte, ist uns leider nicht bekannt. Auf unseren Artikel haben sich dann aber auch größere Medien bezogen und den rassistischen Hintergrund thematisiert. Mit diesem Wissen entstand dann relativ schnell eine Soli-Initiative, die kurz darauf mit einem Auto- und Fahrradkorso auf den Fall und den rassistischen Hintergrund aufmerksam machte. Gefunden wurde der Täter bisher trotzdem nicht.
Mittlerweile suchen Menschen von sich aus das Gespräch mit uns, wenn sie etwas mitbekommen, das öffentlich gemacht werden soll. Zudem stoßen wir in unserem Umfeld immer wieder auf Geschichten, die wir erzählen wollen, und versuchen, sie zu skandalisieren. Zum Beispiel versuchte die Stadt Kassel mittlerweile mindestens drei Mal, politisch aktive Kurd:innen in die Türkei abzuschieben. Grund dafür sind vor allem deren Gesinnung und Aktivismus. Das wird besonders im Fall von Muhiddin F. deutlich. Der hat sich zwar, juristisch gesehen, nichts zu Schulden kommen lassen, soll aber trotzdem abgeschoben werden, weil er in einer Befragung gesagt habe, er sehe die PKK nicht als Terrororganisation an. Das reicht, ihn von seiner Frau und seinen fünf Kindern trennen zu wollen.
Leerstellen des Lokaljournalismus
So etwas würde untergehen, wenn es nicht in der einzigen nennenswerten Tageszeitung der Region auftaucht. Denn es gibt in Kassel mit der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) eigentlich nur eine relevante Lokalzeitung, die in vielen Fällen dominiert, wie in der Stadtgesellschaft über bestimmte Ereignisse und Zusammenhänge gedacht und gesprochen wird. Es gibt zwar auch überregionale Tageszeitungen oder eine lokale Wochenzeitung, aber an der HNA kommt man nur schwer vorbei, ob man will oder nicht. Im Grunde hat die HNA keine eigene, konsistente politische Agenda — außer vielleicht gegen das Zeitungssterben anzuschreiben. Häufig aber werden den Leser:innen Positionen präsentiert, die man sonst eher in Postillen der extremen Rechten oder Landser-Heften vermuten würde. Neben obskuren „Opa erzählt vom Krieg”-Geschichten sind auch immer wieder Artikel zu lesen, die rechte Akteure eingemeinden. So darf sich beispielsweise jemand von der AfD zum Thema „Ausländerkriminalität” äußern oder ein Kandidat der NPD sich der Öffentlichkeit vorstellen.
Selbst darüber schreiben
Auch bei linken Protestaktionen oder Demonstrationen hat unsere Arbeit Auswirkungen. Statt uns in unseren Protestformen und Inhalten irgendwelchen bürgerlichen Journalist:innen anzubiedern oder viel Zeit in Pressearbeit zu investieren, um auf wohlwollende Berichterstattung zu hoffen, wollen wir der linken Bewegung in Kassel lieber ein eigenes Medium zur Verfügung stellen.
Wir wollen Menschen dazu ermutigen und befähigen, selbst journalistisch zu schreiben. Dazu organisieren wir zum Beispiel Workshops, um Menschen die Angst davor zu nehmen, eine Geschichte zu recherchieren oder über ein Ereignis zu schreiben. Wir wollen nicht nur mit Menschen darüber sprechen, was sie beschäftigt, sondern die Grundlagen dafür schaffen, dass sie selbst darüber schreiben können. Auch das verstehen wir als Teil unserer Arbeit.