„Das käme einem Todesurteil gleich….“
Vor 30 Jahren wurde Abdelkader Rhiourhi in Dortmund getötet
Am 4. Oktober 1992 erschoss ein Rechtsradikaler auf offener Straße in Dortmund-Westerfilde Abdelkader Rhiourhi. Auch dessen zwei Begleiter wurden durch Schüsse zum Teil schwer verletzt. Da der Täter stark alkoholisiert war, verurteilte ihn das Landgericht Dortmund wegen „Vollrausches“. Ein rassistisches Motiv sah es nicht vorliegen, auch weil der Tat ein Streit in einer Kneipe vorangegangen war.
Am späten Abend des „Tags der deutschen Einheit“ betrat der bereits alkoholisierte Rechtsradikale Fred Seitz die Kneipe Westerfilder Stübchen, in der er weiter Bier trank. Gäste der Kneipe waren auch die späteren Opfer, mit denen es zu einem Streitgespräch kam. Dabei soll Seitz vor allem mit dem späteren Todesopfer Abdelkader Rhiourhi aneinandergeraten sein. Worum es in dem lautstark geführten Streit ging, konnte nicht im Detail geklärt werden, da sich auf Französisch unterhalten wurde. Thema war aber der Einsatz der Fremdenlegion in Nordafrika. Nachdem der Wirt gegen 4:00 Uhr Seitz und die drei anderen Männer vor die Tür gesetzt hatte, eskalierte wenig später die Situation. Der Angeklagte gab vor Gericht an, dass Rhiourhi ihm ins Gesicht gespuckt habe. Daraufhin zog er seine Pistole und schoss ihm aus nächster Nähe in die Brust. Rhiourhi verstarb wenige Stunden später im Krankenhaus. Seitz attackierte auch Rhiourhis Begleiter, schoss mindestens sechs Mal. Die zwei ebenfalls aus dem Maghreb stammenden Männer im Alter von 36 und 45 Jahren wurden durch die Schüsse verletzt. Bei einem Opfer mussten in einer Notoperation drei Kugeln aus dem Bauchraum entfernt werden. Beide kämpften noch lange mit den gesundheitlichen Folgen der Tat. Über die Opfer ist nur wenig bekannt. Aus der damaligen Medienberichterstattung ist nur zu erfahren, dass der damals 30-jährige Rhiourhi eine junge Familie hinterließ.
Um 9:00 Uhr am Morgen nahm die Polizei Seitz in seiner Wohnung fest. Sie fand ihn seinen Rausch ausschlafend auf dem Sofa, die Tatwaffe in der Hand und eine Flasche „Mariacron“ vor sich. Ein Blutalkoholtest zeigte weit über drei Promille an. Bei seiner Festnahme soll Seitz den Polizist*innen mitgeteilt haben, die „Araber“ hätten ihn als „Drecksdeutschen“ beschimpft und angespuckt. Eine solche Handlung käme einem Todesurteil gleich. Die Lokalzeitung beschrieb den Täter als 43-jährigen Familienvater, der im Stadtteil wegen seiner früheren Tätigkeit bei der Fremdenlegion als „der Franzose“ bekannt sei. Bereits als Jugendlicher war Seitz in der DDR wegen Vorbereitung der „Republikflucht“ inhaftiert worden. Ein weiterer Fluchtversuch führte zu weiteren dreieinhalb Jahren Haft im DDR-Gefängnis und zur Abschiebung in die BRD, wo er seit 1972 lebte. Hier absolvierte er seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr, wurde aber wegen Leistungsfunktionsstörungen frühzeitig entlassen. Er verpflichtete sich dann bei der Fremdenlegion, wo er eine Sprengstoff-Ausbildung erhielt und einige Zeit in Französisch-Guayana stationiert war. Als er in den von Kriegswirren gezeichneten Tschad versetzt werden sollte, desertierte er nach Deutschland. 1984 wurde er in den Niederlanden wegen des Raubüberfalls auf einen Juwelier zu einer Haftstrafe verurteilt.
Verurteilt wegen „Vollrausch“
Für die Schüsse auf Rhiourhi und seine Begleiter wurde Seitz im Juli 1993 nicht wegen Mordes oder Totschlags verurteilt, sondern nach §323a StGB wegen „Vollrausches“. Dieser Paragraph nimmt eine Sonderstellung ein, denn er bestraft Personen, die zwar eine rechtswidrige Tat verübten, aber zugleich als schuldunfähig gelten, da sie sich bei der Tat in einem Rauschzustand befanden. Mit Höchststrafe von fünf Jahren Haft wird deshalb nicht die rechtswidrige Tat als solche — hier die Schüsse auf die drei Männer — sondern nur die Handlung bestraft, sich vorsätzlich oder fahrlässig in einen Rausch versetzt zu haben. Gegen Seitz verhängte das Landgericht Dortmund eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Dabei konnte weder mit vollständiger Sicherheit geklärt werden, dass Seitz tatsächlich angespuckt worden war, noch genau bestimmt werden, wie stark alkoholisiert er bei der Tat war. Es ist gut möglich, dass er nach der Tat zuhause weiter Schnaps konsumierte. Doch das Gericht entschied „im Zweifel für den Angeklagten“.
Zwar nahm das Gericht die rassistische Einstellung des Täters, insbesondere sein „verwurzelte[s] Vorurteil“ gegenüber Nordafrikanern, wahr, es sei aber nicht feststellbar, dass die Tat durch „eine allgemeine ausländerfeindliche Gesinnung mitmotiviert war“, so das Gericht in seinem Urteil. Darin heißt es: „Vor dem Hintergrund der erheblichen Alkoholisierung und der durch das nicht ausschließbare Anspucken aufgebauten affektiven Bewusstseinslage ist es nicht ausschließbar, daß allein diese Faktoren tatauslösend waren und eine möglicherweise vorhandene ausländerfeindliche Einstellung hierdurch vollständig in den Hintergrund gedrängt worden ist“. Im vorangegangenen Streit und vor allem in der „Provokation“ durch das Opfer sah das Gericht die Gründe für die Schüsse, gleichwohl es festhielt, dass Seitz vollkommen unangemessen auf diesen Tatanlass reagiert habe. Die Nebenklage war von „Ausländerhaß“ als Motiv ausgegangen.
Kein großes Thema
Als rechtsmotiviert ist die Gewalttat nicht eingestuft worden, auch nicht nachträglich. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielte der Hintergrund des Täters keine große Rolle. Dabei fielen die Schüsse in einer von rassistischen Anschlägen geprägten Zeit, die sich nach den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 stark häuften. Die politische Debatte um die Beschneidung des Grundrechts auf Asyl steuerte auf einem Höhepunkt zu, zugleich mehrten sich sorgenvolle Berichte über die Wirkung der Neonazi-Gewalt auf „Investoren“ und das „Ansehen Deutschlands im Ausland“. Die Tatnacht folgt dem „Tag der deutschen Einheit“, der 1992 bestimmt war von rechter Gewalt, einer Neonazi-Mobilisierung nach Dresden und Antifa-Demos in mehreren Großstädten. Im Dortmunder Stadtteil Wambel verunstalteten Unbekannte in derselben Nacht auf dem Jüdischen Friedhof 30 Gräber und sprühten Parolen wie „Hass auf Juden“ und Hakenkreuze. Die erste Seite des Lokalteils der Westfälischen Rundschau berichtete sowohl über diese Schmierereien als auch über die Schüsse in Westerfilde. Den Hintergrund letzterer sah die Zeitung in „viel Alkohol, vermutlich eine[r] gehörige Portion Ausländerhaß, speziell gegen Afrikaner; schließlich ein Streit“. Zwar wurde erwähnt, dass der Täter die Opfer als „Schwarzfüße“ beschimpft habe, aber auch hier dominiert die Deutung der Tat als Folge eines Kneipenstreits. Wenige Tage später beklagte der Dortmunder Oberbürgermeister den „Höhepunkt der Ausländerfeindlichkeit“ und forderte, dass die „Anständigen“ mobilisiert werden müssten. Doch ebenso wie die folgenden Kundgebungen „gegen Rechts“ nahm er auf die Schüsse von Westerfilde keinen Bezug. Auch bei Prozessbeginn, nur wenige Tage nach dem tödlichen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen, blieb das öffentliche Interesse begrenzt. Rechte Gewalt war ein großes Thema, die Schüsse von Westerfilde wurden aber nicht in diesen Kontext gestellt. In der Folge geriet die Gewalttat in Vergessenheit.
Hinweise im NSU-Kontext
Nach seiner Haftentlassung lebte Seitz weiter in Dortmund-Westerfilde. Die Ruhrnachrichten schrieben 2017, er sei ein guter Bekannter von Siegfried Borchardt gewesen, mit dem er immer mal wieder zusammen im Garten gesessen habe. Als Aktivist der lokalen Neonazi-Szene fiel er aber nicht auf. In den Blick der Öffentlichkeit geriet Seitz erst im Zuge der NSU-Aufarbeitung. Kurz nach der Selbstenttarnung der Terrorgruppe erzählte Sebastian Seemann, ein ehemaliger V-Mann des NRW-Verfassungschutzes und Neonazi aus Lünen, den Beamt*innen des Polizeilichen Staatsschutzes in zwei Gesprächen von der Bildung einer Combat 18-Zelle Mitte der 2000er Jahre, der er selbst sowie sechs weitere Dortmunder Neonazis aus der Oidoxie Streetfighting Crew angehört hätten. Als Vorbild der Zelle sollten die Ausführungen in den „Turner Diaries“ dienen. Es hätten Pläne existiert, sich zu bewaffnen. Seemann verfügte zum damaligen Zeitpunkt über mehrere Schusswaffen, darunter auch „aufgebohrte“ Pump-Action-Schrotflinten, die in „scharfe“ Schusswaffen verwandelt worden waren. Er gab der Polizei auch einen Hinweis, wer für solche Umbauarbeiten an Schreckschuss- und Dekowaffen in Betracht käme: Fred Seitz. Es war nicht das erste Mal, dass Seemann von diesen Sachverhalten berichtete. Dem NRW-Verfassungsschutz hatte er davon schon 2005, zu Beginn der Zusammenarbeit, erzählt. Und dem Polizeilichen Staatsschutz Dortmund lagen seit 2004 Hinweise vor, dass Seitz für Seemann Schusswaffen umgebaut haben soll.
Waffen für die Neonaziszene
Eine rechtskräftige Verurteilung aus dem Jahr 2000 stärkt die Glaubwürdigkeit dieser Vorwürfe. Als Seitz und ein Komplize am 17. April 2000 auf einem Parkplatz in der Nähe des Kamener Kreuzes zwei Schusswaffen verkaufen wollten, nahm ein Sondereinsatzkommando die beiden fest. Bei Seitz zu Hause stellte die Polizei zahlreiche Schusswaffen und Munition sicher. Das Amtsgericht Unna verurteilte ihn daraufhin „wegen Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe in Tateinheit mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Schußwaffe und wesentliche Teile von Schußwaffen in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schußwaffe sowie unerlaubten Herstellens von Schußwaffen“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die allerdings zu Bewährung ausgesetzt wurde. 2003 notierte die Polizei in einem Vermerk, Seitz sei „,mindestens ein Deutschnationaler […], möglicherweise auch ein Rechtsradikaler. Er haßt die Ausländer und ist ein Waffennarr.“ Auch eine familiäre Verbindung stützt den Verdacht, dass Seitz ein möglicher Waffenlieferant militanter Neonazis in Dortmund war: Sein Sohn war nachweislich Teil der Oidoxie Streetfighting Crew und wurde von Seemann auch als ein Mitglied der Dortmunder C18-Zelle genannt.
Drei Jahre verstrichen ungenutzt, bis die Hinweise von Seemann zu Ermittlungen des Generalbundesanwaltes führten. Erst nachdem die Nebenklage im Münchener NSU-Prozess Beweisanträge zur Vernehmung von Seemann und dem Oidoxie-Frontmann Marko Gottschalk gestellt hatte, wurden diese 2014 vom BKA befragt. Dabei hatte Seemann angeboten, abzuklären, ob die vom NSU bei zwei Morden benutzte „scharfgemachte“ Schreckschusspistole „Bruni“ eine Arbeit von Seitz gewesen sei. Als man ihm endlich Fotos der Waffe zeigte, erklärte er, ihm sei nicht bekannt sei, dass Seitz jemals eine solche Waffe umgebaut habe. Seitz selbst wurde weder im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München noch von einem Untersuchungsausschuss und soweit bekannt auch nicht durch das BKA vernommen. Auch in einem anderen Verfahren wegen Neonazi-Gewalt tauchte er als Zeuge nicht auf. Im Juni 2000 erschoss Michael Berger in Dortmund und Waltrop drei Polizist*innen. Wer Berger, übrigens ein Freund von Seemann, seine — allerdings nicht „scharf“ gemachten — Waffen verkaufte, konnte nie geklärt werden. Am 11. September 2019 verstarb Seitz in Dortmund.