„Nationale Sozialisten“ im Abseits?
Neonazi-Szene und extreme Rechte im Wandel
Die extreme Rechte war in den vergangenen Jahren von Entwicklungen geprägt, die gegenläufig scheinen. Zum einen formierten und radikalisierten sich unter Labels wie PEGIDA zehntausende Rechte, die politisch bislang eher unauffällig gewesen waren, und es etablierte sich mit der AfD eine Rechtsaußen-Partei. Demgegenüber verloren Strukturen an Bedeutung, die den organisierten Neonazismus in den vergangenen Dekaden geprägt hatten. Hierzu zählen insbesondere die NPD und die „Freien Kameradschaften“. Im virtuellen Raum entstanden indes völlig neue Netzwerk- und Organisationsformate.
Zunächst: Im Fokus dieser Betrachtung stehen die Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Der Rückgang „klassischer“ Neonazi-Strukturen findet nicht überall in Deutschland statt. Noch immer gibt es Orte, in denen offen auftretende neonazistische Gruppen das Klima prägen und Angsträume schaffen. Ob diese sich „Kameradschaft“ nennen oder nicht, macht für Betroffene rechter Gewalt ohnehin keinen Unterschied.
Bewegung von Rechts
Den Beginn einer neuen Bewegung von Rechts markieren Ereignisse im Oktober 2014. Rechte Hooligans hatten zu einer rassistischen Demonstration am 26. Oktober in Köln aufgerufen, an der über 4.000 Personen teilnahmen. Die Bilder von Krawallen und einer überforderten Polizei bestimmten tagelang die Medien. Der extremen Rechten gab dies einen enormen Schub. Im selben Monat entstand in Dresden PEGIDA, die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Das Label verbreitete sich rasant. Im Januar 2015 gingen wöchentlich in Dresden um die 20.000 Personen auf die Straße, in ganz Deutschland und anderen europäischen Ländern formierten sich PEGIDA-Ableger und Nachahmer. Die rechte Gewalt stieg deutlich an. 2016 zählten die Opferberatungsstellen in Deutschland 1.984 rechte Angriffe, hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter Taten.
Das Geflecht um PEGIDA integrierte nahezu alle Spektren der extremen Rechten, als Sprachrohr stellte sich die AfD auf. Alle verbindet die Überzeugung, dass Deutschland von „Volksverrätern“ regiert und der Fortbestand einer weißen christlichen Bevölkerung durch Einwanderungsgesellschaft und „Gleichmacherei“ bedroht werde. Taktgeber der Bewegung sind „Angry White Men“ — rechte Männer, die viel zu lange davon ausgehen konnten, dass ihnen qua Geschlecht, Herkunft und Nationalität privilegierte Rollen im (öffentlichen) Leben zustünden. Sie entfesselten nun ihren ganzen Zorn gegen die, die dies in Frage stellen. Dies als letztes Aufbäumen einer „alten“ patriarchalen Ordnung abzutun, wäre allerdings zu optimistisch.
Der Rückgang „klassischer“ Neonazi-Strukturen
Neonazis durften und dürfen in dieser Bewegung mitmachen. An einzelnen Orten präg(t)en sie die Versammlungen mit ihren Schlagworten und ihrer Symbolik sogar, doch vielerorts ist ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus unerwünscht. Auch das Organisierungsangebot von NPD und „Freien Kameradschaften“ ist hier kaum gefragt. Stattdessen erkennen viele Neonazis in der AfD ein Label, das Erfolg verspricht. Sie sind bereit, hierfür ihre neonazistischen Bekenntnisse zurückzustellen. Die NPD geriet durch den Aufstieg der AfD in eine existenzbedrohende Krise, da nun selbst auf lokaler Ebene Nachwuchs und Wahlerfolge ausblieben. Die Partei Die Rechte ist sowieso nur in wenigen Orten — wie beispielsweise in Dortmund — erfahrbar und irrlichtert perspektivlos durch die politische Landschaft.
Aber die Neonazi-Szenen sind nicht verschwunden. Zulauf gerade von jüngeren Neonazis hat die Partei Der III. Weg, die heute erheblich mehr als 500 Mitglieder haben dürfte. Der III.Weg setzt nicht auf Masse und modernes Erscheinungsbild, sondern grenzt sich davon mit elitärem Gestus ab. Diverse Freundeskreise und Organisationen wie beispielsweise die Artgemeinschaft halten den harten Kern zusammen. Völkische Aussteiger und Aussteigerinnen schaffen Parallelwelten in Siedlungsgemeinschaften, deren Zahl stetig zunimmt. Dort sollen eigene Wirtschaftskreisläufe Unabhängigkeit herstellen und rigide Zugangskriterien und arrangierte Ehen die Exklusivität und Homogenität der Gemeinschaft sichern. Zuspruch finden diese Siedlungskonzepte auch unter „Reichsbürgern“ und im esoterischen Spektrum.
Soziales Abseits und lebensweltliche Veränderungen
In der Kommunikation von Neonazis ist der Grundtenor zu vernehmen, dass das Szeneleben langweilig geworden sei. Neonazi zu sein, macht vielerorts einsam. Es fehlen Impulse und Erlebnisräume. Repression und insbesondere gesellschaftliche Gegenbewegungen haben ihre Spielräume erheblich verengt. Viele Treffpunkte sind geschlossen, durch Auflagen unattraktiv geworden, und es mangelt an Aktiven, die diese mit Engagement füllen. Konnte sich eine „Freie Kameradschaft“ noch vor wenigen Jahren auf „unpolitischen“ Rock-Festivals in der Region aufstellen und dabei auf die Akzeptanz von Besucher*innen und Veranstalter*innen verlassen, so hängt heute auf vielen dieser Events das „Gegen Nazis“-Banner an der Bühne, und die Security verweigert schon wegen Thor Steinar-Kleidung den Zutritt. In vielen Fußballstadien war die Entwicklung ähnlich.
Patrick Schröder aus Bayern, einer der wenigen Neonazis, der einen analytischen Blick auf seine Szene hat, veranschaulichte das Problem in einem Video, das im Mai 2022 online ging. Das Thema: „Frauen kennenlernen als >Rechter<?“. Er beklagt, dass die Möglichkeiten „sehr gering“ seien, in der „feminisierten Gesellschaft“ eine Frau fürs Leben zu finden, und gibt Tipps, wie es dennoch klappen könnte. „Nationale Sozialisten“ sehen sich vielerorts im sozialen Abseits. Was dazu führt, dass Mann sich um ein attraktiveres Erscheinungsbild bemüht.
Neonazistische Organisationen, die in den letzten Jahren Bedeutung erlangten, nennen sich beispielsweise Bruderschaft Deutschland und Kampf der Nibelungen. Erstere nutzt als Gruppensymbol die Zeichnung einer Faust, zweitere ein Lindenblatt im einem Achteck. Dass Neonazigruppen ihre politische Identität nicht im Namen und Logo deutlich machen, ist vor allem Ausdruck einer lebensweltlichen Verschiebung. So wie die Zahl der Kameradschaften zurückging, organisierten sich Neonazis zunehmend in „Bruderschaften“ im Stil von Rocker-Gruppen. Der Trend hält bis heute an. An die Stelle der politischen Kampfgemeinschaft tritt der elitär aufgeblasene Männerbund. Darüber entzogen sich viele Neonazis den Verpflichtungen und Konsequenzen, die der Aktivismus in einer explizit politischen Gruppe mit sich bringt. Die „Politik“ der Bruderschaft Deutschland, die ihren Schwerpunkt im Großraum Düsseldorf hat, besteht darin, kämpferische Männlichkeit auszustrahlen und ein Territorium zu reklamieren. Doch hat sie in den mittlerweile sechs Jahren ihres Bestehens vermutlich nicht eine einzige Schulungsveranstaltung durchgeführt. Seit 2020 ist von dieser Gruppe allerdings immer weniger zu hören und zu sehen, der Zusammenhang besteht aber weiterhin.
Die „Bruderschaften“ kennzeichnen auch einen Abschied von der Jugendkultur. Was zur Frage führt, was im Jahr 2022 neonazistische Jugendkultur ausmacht. RechtsRock ist es nicht mehr. Die Szenekonzerte waren früher zentrale Orte des Kennenlernens und der Integration, heute trifft man dort kaum mehr Jugendliche an. Junge Neonazis finden sich nun vor allem in Kampfsportszenen. Das Modell der „Freien Kameradschaft“ hat sich in extrem rechte Kampfsport-Gruppen transformiert. Ihr politisches Ziel ist es, sich und andere für den Straßenkampf und „Tag X“ auszubilden. Doch bei vielen steht das Ego im Vordergrund: die Optimierung von Körper, Kraft und Männlichkeit. Das Kampfsportturnier am Wochenende ist dann eben wichtiger als die Teilnahme an einem Aufmarsch.
Neonazistische Erlebniswelt im Kleinformat
Aufmärsche finden sowieso immer seltener statt. Selbst die NS-„Heldengedenken“, in früheren Zeiten unverzichtbar zur Selbstvergewisserung der Szene, locken nur noch wenige. Das „Gedenken“ an deutsche Kriegsgefangene im britischen Lager bei Remagen (Rheinland-Pfalz) mobilisierte in den vergangenen Jahren hunderte Neonazis aus ganz Deutschland. Am 13. November 2021 stand dann ein Häuflein von 50 Neonazis 600 Antifaschist*innen gegenüber.
So stellt sich die Frage: Was treibt die „Nationale Jugend“ am Wochenende, wenn sich der Aufmarsch nicht lohnt und auch kein Kampfsport-Event ansteht? Viele sitzen dann am Computer, nicht wenige gehen auch wandern. Tatsächlich ist der Wandertag für manche Gruppen zur Hauptbeschäftigung geworden. Der allgemeine Trend zu Outdoor und Fitness ist hierfür nur ein Grund. Das Wandern wird ideologisch aufgeladen durch Phrasen von Heimatliebe und einem gesunden Körper. Zumeist führen die Ausflüge zu Denkmälern oder historischen Orten, wo Vorträge über deutsche Geschichte gehalten werden. Vor allem aber bietet Wandern das Erlebnis von Gemeinschaft in einem sicheren Terrain: Antifaschistische Blockaden und polizeiliche Kontrollen sind nicht zu befürchten. Im tiefen Wald ist eben niemand, der sich über sie beschwert.
Bürgerwehren und „Schattenarmee“
Parallel zum Rückgang „klassischer“ Neonazi-Szenen wachsen Gefahren aus anderen Spektren. Enorm gestiegen ist in den letzten Jahren die Bedeutung der „Reichsbürger“. Ihre Propaganda, wonach Deutschland kein souveräner Staat und deshalb herrschende Gesetze nicht bindend wären, strahlt weit über die eigene Szene hinaus und verfängt sich derzeit in den Protesten der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen. Sie geht nicht selten einher mit Umsturz-Fantasien und Bewaffnung.
Im Jahr 2015 begannen Rechte, sich vielerorts als „Bürgerwehren“ gegen Geflüchtete aufzustellen, für sie wurde aus den Debatten über die US-amerikanische „Militia“-Bewegung der Begriff des Vigilantismus übertragen. Er beschreibt Personen, die glauben, Recht und Gesetz in die eigenen Hände nehmen und „ihre“ Territorien und Privilegien gegen jene verteidigen zu müssen und dürfen, die von ihnen als Feinde angesehen werden. Im Milieu von „Reichsbürgern“ und selbsternannten „Bürgerwehren“ entstanden Gruppen, die in den vergangenen Jahren Schlagzeilen machten, weil sie sich bewaffneten und Terroranschläge planten. Dass einige Pläne im Vorfeld aufflogen, ist vor allem der Unerfahrenheit ungeschulter Akteure geschuldet, die mitunter äußerst dilettantisch agierten. Viele Personen, die heute im Fokus stehen, sind Männer zwischen 40 und 60 Jahren, die keine Sozialisation in der Neonazi-Szene durchlaufen haben und oft nur lose mit dieser verbunden sind. Für Antifaschist*innen waren sie deshalb nicht greifbar.
Ein enorme Bedrohung sind die rechten Netzwerke in den Sicherheitsbehörden. Rechte Polizei- und Militärangehörige, unter ihnen etliche „Reichsbürger“ und Neonazis, formieren und vernetzen sich als eine Art „Schattenarmee“. Ziel ist es, durch Anschläge und Sabotageakte den Staat zu destabilisieren und am ersehnten „Tag X“ einen Umsturz herbeizuführen und die Macht zu übernehmen. Gruppen wie Nordkreuz planen auch die Liquidierung politischer Gegner*innen. Diese Netzwerke haben Zugang zu Kriegswaffen, Sprengstoff und Datenbanken. Der staatliche Umgang mit dieser Bedrohung ist bestimmt vom Bemühen, rechte Kräfte in Polizei und Armee nicht weiter gegen sich aufzubringen und das Problem als „Einzelfälle“ zu verharmlosen, gefolgt von Lippenbekenntnissen und Symbolpolitik.
Corona-Maßnahmen-Proteste als rechtes Aktionsfeld
In den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie eröffnete sich extrem Rechten ein neues Aktionsfeld. Dort, wo sie gut aufgestellt sind, prägen sie diese Proteste sogar, anderswo dürfen sie immerhin mitmachen. Die Bewegung der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen ist indes viel zu heterogen, als dass man sie als extrem rechte Bewegung verallgemeinern könnte. Antisemitismus, Biologismus, Verschwörungserzählungen sowie eine grundlegende Gesellschaftsfeindlichkeit sind dort jedoch allgegenwärtig. Viele Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen sind empfänglich für „Reichsbürger“-Erzählungen und für die Verheißung eines „neuen Lebens“ in einer abgeschotteten völkischen Gemeinschaft.
Einen Erfolg kann die Bewegung darin verbuchen, dass sie der politischen Linken das Label des Rebellischen streitig macht, indem sie sich den Kampf gegen staatliche Bevormundung auf die Fahnen schreibt, wenngleich ihr Verständnis davon nicht über egoistische Interessen hinausgeht. In den Protesten der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen tritt eine Szene in Erscheinung, die als politische Akteurin bislang oft nicht ernst genommen wurde: ein esoterisches Spektrum, das mit voller Wucht sein reaktionäres Potential entfaltet und Antifaschist*innen an vielen Orten rat- und tatenlos macht. „Nazis raus“-Sprechchöre von Gegendemonstrant*innen verpuffen gegenüber Personen, die sich selbst im Kampf gegen eine „Corona-Diktatur“ und gegen „Pharmafaschismus“ wähnen, aber zumeist keinerlei Probleme damit haben, Schulter an Schulter mit AfD und Neonazis zu demonstrieren. Die Szenen verfließen.
Die virtuelle „nationale Bewegung“
Was der Propaganda und Organisierung völlig neue Möglichkeiten eröffnete, ist die virtuelle Welt der Sozialen Netzwerke, Foren und Chatrooms. Hier findet der*die Einzelne mit wenigen Mausklicks Anschluss an die „Nationale Bewegung“. Hier gibt es offene Räume, in denen man unverbindlich mitmachen kann, und konspirative Nischen für die, die es mit „Untergrund“ und „Tag X“ ernst meinen. Hier können Gruppen ohne viel Aufwand ihre Aktionen vermitteln. Das Anbringen eines Banners frühmorgens an einer abseits gelegen Brücke wird per Videoclip als spektakuläre Tat aufbereitet und online gestellt. Man braucht zur Bestätigung kein Echo politischer Gegner*innen oder Medien, man verschafft sich die Bestätigung selbst.
Vor allem aber verbindet und organisiert „das Netz“ Menschen in den Regionen und zu speziellen Themen. Der Neonazi, der am 11. Oktober 2019 in Halle die jüdische Jom-Kippur-Feier überfallen wollte und zwei Menschen ermordete, fand seine Unterstützer und Unterstützerinnen ausschließlich in Internetforen. Er hatte, soweit festgestellt werden konnte, keine soziale und politische Anbindung außerhalb virtueller Räume. Und als aktuelles Beispiel: In der Gruppe „Aktive Veteranen und Patrioten“ im Messenger-Dienst Telegram formierte sich ein harter Kern, der Schusswaffen beschaffte und einen Minister entführen wollte. Im April 2022 wurde die Gruppe ausgehoben.
Diskursverschiebungen
Erfolge erlebte die extreme Rechte darin, dass sich gesellschaftliche Diskurse in ihrem Sinne verschoben. So schafften es rechte Kreise, vielen Menschen durch ständiges Insistieren glaubhaft zu machen, dass in der Ära Merkel ein dramatischer Linksruck in Staat und Gesellschaft stattgefunden hätte. Als Beweis hierfür werden gerne auch Unisex-Toiletten in öffentlichen Gebäuden angeführt. Kaum eine Straßenumbenennung, ohne dass zornige weiße Männer in den Feuilletons in Wallung geraten und lautstark ihre eingebildete Diskriminierung beklagen. Tatsächlich rückte der Staat auf vielen Ebenen nach rechts. Beispiele hierfür sind das massenhafte Sterben an Europas Grenzen durch ein Migrationsregime, in dem Menschenrechtsverletzungen alltäglich sind, sowie Polizei- und Geheimdienstgesetze, die einen weiteren Schritt zum Überwachungs- und Polizeistaat markieren.
Und schließlich: Von den Opferberatungsstellen wurden 2019 bis 2022 jährlich zwischen 1.300 und 1.400 rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Deutschland gezählt. Die Gewaltbereitschaft der Rechten ist nach wie vor enorm hoch und angesichts der Vielzahl gewaltbereiter Personen noch unkalkulierbarer geworden. Klassische, offen auftretende Neonazis spielen hierbei schon länger nicht mehr die Hauptrolle.