„The social contract is broken“

Über Abolitionismus, die Verbundenheit von Kämpfen und Alternativen zur Polizei

Nach dem Mord an Mouhamed Lamine Dramé durch die Dortmunder Polizei am 8. August 2023 (vgl. LOTTA #88, S. 8) rückten nicht nur die Opfer tödlicher Polizeigewalt (siehe LOTTA #78) in den Fokus, es gründete sich auch eine lokale „Defund the Police“-Gruppe, die Fragen nach emanzipatorischen Alternativen zur Polizei stellt. „Defund the police Dortmund“ sprach für LOTTA mit Vanessa E. Thompson und Daniel Loick, den Herausgeber*innen des Readers „Abolitionismus“. Abolitionismus bezeichnet sowohl einen theoretischen Ansatz als auch eine politische und soziale Bewegung, die die Überwindung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei fordert und alternative Praktiken erprobt.

Nach dem Mord an Mouhamed Lamine Dramé durch die Dortmunder Polizei am 8. August 2023 (vgl. LOTTA #88, S. 8) rückten nicht nur die Opfer tödlicher Polizeigewalt (siehe LOTTA #78) in den Fokus, es gründete sich auch eine lokale „Defund the Police“-Gruppe, die Fragen nach emanzipatorischen Alternativen zur Polizei stellt. „Defund the police Dortmund“ sprach für LOTTA mit Vanessa E. Thompson und Daniel Loick, den Herausgeber*innen des Readers „Abolitionismus“. Abolitionismus bezeichnet sowohl einen theoretischen Ansatz als auch eine politische und soziale Bewegung, die die Überwindung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei fordert und alternative Praktiken erprobt.

Warum ist es wichtig, dass wir eine Verflechtung von Formen der Diskriminierung, Marginalisierung und Ausbeutung zusammendenken, wenn wir die systemischen Probleme der Polizei analysieren und eine fundamentale Veränderung fordern?

Vanessa: Wenn wir Ordnungspolitik und Polizeiarbeit kritisch analysieren, ist es wichtig zu verstehen, dass die Polizei als Verkörperung des staatlichen Gewaltmonopols historisch wesentlich mit der Entstehung des Kapitalismus einhergeht. Dabei ging es um die Produktivmachung von Menschen, die von den Produktionsmitteln gewaltvoll getrennt wurden, für die kapitalistische Ausbeutung. Diese verlief entlang rassifizierter und vergeschlechtlichter Ordnungsmuster und Ungleichheitsverhältnisse. Ich denke, eine radikale linke Polizeikritik, die auch die Verschränkung von Herrschaftsverhältnissen ernst nimmt, zeigt, dass Kapitalismus über Rassismus und Geschlechterverhältnisse oder auch Ableismus operiert. Daher sind unterschiedliche Gruppen auch unterschiedlich davon betroffen. Dabei kann es aber nicht darum gehen, diese Unterschiedlichkeit einfach „auszugleichen“, sondern darum, die Vielschichtigkeit der Dimensionen von Polizieren, die Alltäglichkeit von Gewalt, die eine konstante Gefahr darstellt für marginalisierte Bevölkerungsgruppen, ernstzunehmen.

Daniel: Für mich bedeutet das, ein multidimensionales Verständnis von Polizeigewalt zu entwickeln. Ich denke z. B. an #SayHerName, eine Kampagne, die in den USA eine Reaktion auf den Rassismus der Mainstream-Gesellschaft, die diese Opfer nicht betrauern will, aber gleichzeitig auch eine Intervention innerhalb der „Black Lives Matter“-Bewegung ist. Wenn wir an Schwarze Opfer von Polizeigewalt denken, denken wir oft als erstes an cis Männer. Damit geht eine bestimmte Vorstellung einher, was Polizeigewalt ist, nämlich dass sie auf der Straße stattfindet, häufig in Form von direkten Konfrontationen oder auf Demonstrationen. Als George Floyd ermordet wurde, wurde eingefordert, auch Breonna Taylor zu betrauern. Da sieht man, dass die Polizeigewalt anders funktioniert hat, weil sie in ihrem eigenen Zuhause ermordet wurde. Es handelt sich um eine Situation, die auch prekarisierte und marginalisierte Communitys anders trifft, weil Polizeigewalt gegen Frauen oft auch Polizeigewalt gegen Community Caretakers bedeutet, wie im Fall von Breonna Taylor, die als Krankenschwester gearbeitet hat.

Vanessa: Christy Schwundeck wurde im Jobcenter erschossen, einem semi-öffentlichen Raum, N’deye Mareame Sarr im Hause ihres Ex-Partners. Diese Verschränkungen in den Blick zu nehmen kann hilfreich sein, das Zusammenwirken verschiedener Institutionen in der Reproduktion und Legitimation von Gewalt herauszuarbeiten. Erfahrungen von Women of color, Indigenous bzw. nicht-weiß gelesenen und trans Frauen erfahren auch in polizeikritischen und aktivistischen Gruppen weniger Gehör und weniger Sichtbarkeit.

Wir fragen uns, wie „Defund“- oder „Copwatch“-Gruppen agieren müssen, um dem entgegenwirken zu können?

Vanessa: Ich finde es wichtig, das Geschlechterverhältnis mit Bezug auf die Kriminalisierung von Armut und die Expansion von Bestrafung anzuschauen. Der Fall von Christy Schwundeck erlaubt zu verstehen, dass wir neben der Polizei und dem Grenzregime auch kapitalistische Wohlfahrtsstaatsinstitutionen wie das Jobcenter und auch das Fürsorgeregime explizit in den Blick nehmen müssen, um das Zusammenwirken mit der Kriminalisierung von migrantisierten, armen, besonders Frauen und nicht-binären Menschen sowie Menschen ohne Staatsbürgerschaft zu verstehen. Gehör und Sichtbarkeit müssen erkämpft werden, und mit diesem Kampf geht eine viel tiefer liegende Analyse und Kritik des Verständnisses von Polizieren einher. Der Fall Mouhamed Dramé zeigt, dass in Deutschland und Europa viele Menschen, die ermordet worden sind, sich in psychischen Krisen befunden haben. Daher ist es notwendig, dass wir auch in unserer  politischen Arbeit danach fragen, wie man in psychischen Krisen Support  leisten kann. Auch die Anti-Psychiatrie-Bewegung hat eine lange Geschichte des Bezugs zum Abolitionismus.

Daniel: Ich wohne im Frankfurter Bahnhofsviertel. Das Viertel ist von Drogennutzung und Sexarbeit geprägt. Hier kann man sehr deutlich sehen, dass Frauen auf eine andere Weise von der Polizei schikaniert werden als Männer. Es endet nicht unbedingt in Mord und ist nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch verbale Schikanen, aber auch sozialarbeiterische Adressierungen. Wenn man aufmerksam für Wirkungsweisen staatlicher Gewalt wird und nicht nur Repression, Schlagstock oder Tränengas sieht, versteht man die alltäglichen, fluiden und subtilen Polizeitechniken besser. Dann sieht man auch, welche Menschen im besonderen Maße davon betroffen sind, und die Grundlage für eine Solidarisierung fällt leichter.

Wie kann die antifaschistische Linke sich mit antirassistischen Kämpfen solidarisieren, ohne zu riskieren, sich diese anzueignen und etwa Rassismuserfahrung erneut unsichtbar zu machen?

Vanessa: Die Frage ist, was verstehen wir unter Antifaschismus? Es gibt eine ganz lange Geschichte des migrantischen und Schwarzen Antifaschismus: die Black Panther in den USA, die Black Dragons in Frankreich oder im deutschen Kontext die Antifa Gençlik. Kämpfe gegen Faschismus haben eine Verbindung zu abolitionistischen Kämpfen. Wir wissen, dass der Staat uns nicht vor faschistischer Gewalt und rechtem Terror schützt, im Gegenteil, er selbst hat eine Nähe dazu. Der NSU zeigt das, Hanau zeigt es, Halle auch. Es sind antifaschistische Strukturen, die Faschismus zurückdrängen und bekämpfen. Zugleich wurde oft nicht hingehört, wenn migrantische Bewegungen auf Rassismus und rechte Gewalt hingewiesen haben. Mit Bezug auf die Morde durch den sogenannten NSU forderten migrantische Communitys „kein 10. Opfer“, doch es hörte ihnen kaum jemand zu.

Eine Frage, die immer wieder in der radikalen Linken auftaucht: „Abolish the Police“ oder „Defund the Police“? Müssen wir nicht eher sowohl die Abschaffung der Staatsgewalt fordern als auch die Umverteilung von Ressourcen?

Vanessa: Ich finde es interessant, dass das manchmal gegenübergestellt wird, weil „Defund“ eine von vielen kontextspezifischen Strategien von „Abolish“ ist. Wir beobachten seit den späten 70ern den systematischen Ausbau von strafenden Institutionen. Das kann man sehen, wenn man sich Polizeibudgets anschaut, aber auch an der massiven Aufstockung von Frontex und Europol auf europäischer Ebene. „Defund“ mobilisiert dafür, diese Entwicklung etwas zurückzudrängen, den Abzug dieser Gelder zu fordern, um sie praktisch in Bereiche der sozialen Gerechtigkeit wie sozialen Wohnungsbau und Gesundheitsversorgung umzuverteilen. Das heißt nicht, dass den Leuten, die dafür einstehen, nicht klar wäre, dass die sozialen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen eine gewisse Funktion im Kapitalismus haben. Aber es ist nun mal so: Health Care matters. Housing matters. Das ist grundlegend. Das ist eine Möglichkeit, die soziale Frage auch wieder stärker in den Fokus zu rücken, aber eben auch entlang Fragen von globaler Arbeitsteilung Flucht und Migration, antinationalistisch neu zu framen. Vielleicht müssten wir an dem Slogan etwas ändern, damit klarer wird, worum es eigentlich geht: Im August 2022 wurden vier Menschen in Deutschland binnen einer Woche durch die Polizei erschossen. Bei einer Person war das im Rahmen einer Räumungsklage. Es geht nicht nur um Schwarze Menschen, migrantische Menschen, es geht auch und wird zunehmend, wenn auch anders, um weiße, Menschen gehen. Die Funktion der Polizei ist heute zunehmend die Kontrolle und die Bestrafung (bis hin zu Mord) von Menschen, die als „überflüssig“ gelten, arme, mittellose, wohnungslose Menschen, Menschen in psychischen Krisen etc. Hier spielt die „Defund-/Reinvest“-Debatte eine große Rolle, weil es um den Ausbau von Strukturen der sozialen Gerechtigkeit geht. Damit verbunden sind Forderungen nach Lohnerhöhungen, Dekrimininalisierung, Arbeitserlaubnisse für Geflüchtete und Migrant*innen, die sich in „Defund“-Kampagnen einbringen lassen. Es geht jedoch nicht um einen sozialeren Kapitalismus, sondern um eine radikale Transformation der gesellschaftlichen Reproduktions- und Beziehungsweisen. Das meint Abolition.

Daniel: Mich erinnert diese Frage an Debatten, die in der radikalen Linken schon sehr lange geführt werden: das Verhältnis von Revolution und Reform. Ich würde — ganz ähnlich wie Vanessa — dafür plädieren, hier keinen Gegensatz zu sehen. Wenn man nur eines von beidem macht, führt es entweder zu Reformismus oder Passivität. Ich würde aber schon sagen, dass der Abolitionismus eine Sache mehr als andere Bewegungen gezeigt hat: Die Orientierung vieler politischer Bewegungen am Staat und auch eine bestimmte Form von Institutionalisierung — sei es in Form von Parteien oder Sozialarbeiterisierung oder eines NGO-/Non-Profit-Sektors — kann dazu führen, dass das System nicht geschwächt, sondern gestärkt wird. Für diese perfiden Vereinnahmungsstrukturen gibt es im Abolitionismus eine besondere Aufmerksamkeit und gleichzeitig ein sich Umschauen nach den Möglichkeiten, sich ein anderes Leben aufzubauen. Den Anspruch zu stellen, nicht nur ein Notpflaster für die Lücken des Wohlfahrtsstaates zu sein, sondern den Anspruch zu haben, andere Gesellschaftsformen zu entwickeln. Für radikale Formen von Verweigerung gibt es in Zeiten von Krisen auch andere Anknüpfungspunkte. Es ist kein Zufall, dass sich die Rebellion für Schwarze Leben 2020 intensiviert hat, gleichzeitig mit der Coronakrise und einer Krise der kapitalistischen Integration. Kimberly Jones sagt in ihrem berühmten Video: „The social contract is broken“. Wir fühlen uns nicht mehr gebunden an irgendeine Verpflichtung, uns an die gesellschaftlichen Routinen zu halten. Es ist eine Form von Entbundenheit von den Diktaten der gesellschaftlichen Anrufung, die plötzlich ermöglicht, dass man sich selbst organisiert. Diese Momente der kurzen Hoffnung sehe ich im Abolitionismus.

Vielen Dank für das Interview!

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