Konkurrenz für die „Grauen Wölfe“

Die extreme Rechte nach den Wahlen in der Türkei

Die neuen Parteigründungen und wechselnden Wahlbündnisse führen zu einer Unübersichtlichkeit der politischen Landschaft in der Türkei. So kam es im Vorfeld und während der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Mai 2023 zu Fehldeutungen und falschen Einschätzungen über die Zuordnung der verschiedenen politischen Akteur_innen und ihrer jeweiligen Positionen und Forderungen.

Daher ist es notwendig, sich die einzelnen extrem rechten Akteur_innen anzuschauen und erst anschließend die Wahlergebnisse im Hinblick auf die Gesamtsituation der extremen Rechten zu interpretieren. Die Gesamteinschätzung dieser Kräfte wird auch dadurch erschwert, dass sowohl im Regierungsblock als auch im Hauptoppositionslager wichtige Parteien der extremen Rechten vertreten sind und darüber hinaus mit der Zafer Partisi (Partei des Sieges) auch eine weitere, unabhängige Partei entstand.

Die traditionelle extreme Rechte im Regierungsblock

Die nach wie vor wichtigste und größte Partei der extremen Rechten in der Türkei ist die Milliyetçi Hareket Partisi („Partei der Nationalistischen Bewegung“), die MHP. Sie wurde 1969 von Alparslan Türkeş gegründet und über fast drei Jahrzehnte von ihm als Parteivorsitzenden angeführt. Die MHP besaß mit den sogenannten Grauen Wölfen auch einen gewalttätigen und bewaffneten Arm. Die Grauen Wölfe waren in den 1990er Jahren, neben staatlich organisierten Paramilitärs und islamistischen Terrororganisationen, für eine Vielzahl von politischen Morden verantwortlich. Auch im blutigen Krieg des türkischen Staates in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei spielten sie eine wichtige Rolle.

Nach dem Tod von Türkeş im Jahr 1997 übernahm Devlet Bahçeli den Parteivorsitz, und die MHP trat etwas moderater auf. Aber die MHP ist in ihrem ideologischen Selbstverständnis weiterhin eine nationalistische Partei, die sich im Kampf mit „Feinden der Nation“ wähnt. Dies zeigt sich beispielsweise in antikurdischen und antiarmenischen, aber auch antisemitischen Positionen, die von Anhänger_innen der MHP vertreten werden.

Von Oppositions- zur Regierungspartei

Die MHP war in den ersten 13 Jahren der AKP-Regierung, das heißt von 2002 bis 2015, eine Oppositionspartei und stand insbesondere bei der kurdischen Frage gegen die Regierungsposition. Während die AKP aus machttaktischen Gründen zeitweilig mit kurdischen Akteur_innen über eine politische Lösung verhandelte, war die MHP strikt gegen solche Verhandlungen. Diese Konstellation änderte sich, als nach den Parlamentswahlen 2015 die AKP die Gespräche faktisch beendete und dadurch der offene Krieg wieder aufflammte. Die Rückkehr des Krieges führte zu einer Annäherung zwischen diesen beiden Parteien.

In der Folgezeit unterstützte die MHP die AKP, so etwa bei der Einführung des autokratischen Präsidialsystems, was die MHP zuvor abgelehnt hatte. Seit den Wahlen 2018 treten AKP und MHP im gemeinsamen Wahlbündnis Cumhur İttifakı (Volksallianz) an. Auch innerhalb des Staates arbeiten die beiden Parteien eng zusammen. Die Volksallianz wurde bei den Wahlen 2023 vergrößert und umfasst inzwischen weitere Parteien — beispielsweise die extrem rechte und islamistische Büyük Birlik Partisi (BBP, „Partei der Großen Einheit“), die sich 1993 von der MHP abgespalten hatte. Die MHP erhielt bei den Parlamentswahlen 2018 11 Prozentpunkte und landete 2023 bei 10 Prozent, wodurch sich abzeichnet, dass ein Zehntel der türkischen Wähler_innen recht zuverlässig ihr Kreuz bei der MHP macht.

Die oppositionelle extreme Rechte

Allerdings wurde der Kurswechsel der MHP-Führung, die ab Winter 2015 auf Annäherung und Kooperation mit der AKP setzte, nicht von der gesamten Partei unterstützt. Insbesondere die Unterstützung für das von der AKP geforderte autokratische Präsidialsystem führte zu einer massiven Unzufriedenheit in Teilen der Partei. Diese Spaltung führte 2017 zur Gründung der İyi Parti (IYI, Gute Partei). Der Parteiname ist indes doppeldeutig und spielt auch auf türkisch-nationalistische und turanistische Mythen an. Die Parteivorsitzende Meral Akşener war Mitte der 1990er Jahre Innenministerin und in dieser Funktion mitverantwortlich für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen — insbesondere in den kurdischen Gebieten. MHP und IYI sind in der Haltung zur AKP und dem autokratischen Präsidialsystem in einem Gegensatz. Dennoch besteht eine große ideologische Schnittmenge zwischen den Parteien, weswegen sich beide der extremen Rechten zuordnen lassen.

Das moderatere Auftreten von IYI hat wiederum zu einer Abspaltung geführt. Die radikaleren IYI-Funktionäre um Ümit Özdağ gründeten 2021 die Zafer Partisi (ZP, Partei des Sieges), wobei die Hauptforderung der Partei die Abschiebung aller Geflüchteten aus der Türkei ist. Dabei äußert sie sich offen rassistisch insbesondere gegenüber Syrer_innen und kann mit dieser Feindseligkeit auf Zustimmung in Teilen der türkischen Gesellschaft bauen. Das schrille öffentliche Auftreten des Parteivorsitzenden Özdağ führte dazu, dass die Partei belächelt und unterschätzt wurde. Auch als die ZP den ehemaligen MHP-Politiker Sinan Oğan als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2023 aufstellte, wurde dies eher als der Versuch eines unbedeutenden politischen Akteurs, der für sich Aufmerksamkeit generieren will, gewertet.

Rechtsruck bei den Wahlen

Allerdings landete Oğan bei der Präsidentschaftswahl bei 5,2 Prozentpunkten und kam somit auf den dritten Platz hinter Recep Tayyip Erdoğan (49,5%) und Kemal Kılıçdaroğlu (44,9%). Damit erhielten Oğan und die offen rassistischen Kräfte, die hinter ihm stehen, eine Schlüsselrolle bei der Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu, dem Kandidaten, der von allen relevanten Oppositionsparteien unterstützt wurde. Vor der Stichwahl versuchten sowohl Erdoğan als auch Kılıçdaroğlu, die Wähler_innen von Oğan für sich zu gewinnen. Kılıçdaroğlu übernahm dabei teilweise die rassistische Rhetorik der ZP und versuchte die feindselige Stimmung gegen Syrer_innen für sich zu nutzen. Auch wenn in dieser Phase Oğan und die ZP uneinheitlich agierten, führte der relative Erfolg von Oğan bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl zu einer Stärkung extrem rechter und rassistischer Positionen in der Öffentlichkeit. Auch Forderungen nach Abschiebung aller syrischen Geflüchteten häuften sich.

Bei den zeitgleich zur Präsidentschaftswahl stattfinden, im autokratischen Präsidialsystem weniger relevanten Parlamentswahlen konnte die extreme Rechte insgesamt fast ein Viertel aller Stimmen erlangen. Die MHP landete bei 10,1 Prozent, während IYI 9,7 Prozent erhielt und die ZP aus dem Stand auf 2,2 Prozent kam. Hervorzuheben ist, dass damit die extreme Rechte sowohl im Regierungslager als auch im Oppositionsblock eine bedeutende und fast unverzichtbare Kraft ist. Auch dürfte der Achtungserfolg von Oğan und der ZP dazu führen, dass die größeren Parteien in Zukunft verstärkt auf offen rassistische Rhetorik gegen syrische Geflüchtete setzen werden. Das sind düstere Aussichten für die kommenden Jahre in der Türkei.

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