Das konservative Denken

Grundpostionen des Konservativismus und der Politische Rationalismus

„Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht! Der Offizier sagt: räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsoniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsoniert nicht, sondern glaubt!“, schreibt Immanuel Kant 1784 in „Was ist Aufklärung?“ Die Menschen müssten sich von unbegründeten Vorannahmen befreien, nur durch ein solches rationales Denken ergebe sich wirkliche Freiheit zu handeln. Dazu müsse der öffentliche Gebrauch der Vernunft frei sein, argumentiert Kant.

Die Aufklärung postulierte rationale Ansätze, jedes Argument logisch auf seine Gültigkeit hin zu überprüfen und mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften in Einklang zu bringen. Auf der Ebene der Gesellschaftstheorie fand dieses Denken Ausdruck im Politischen Rationalismus. Dieser enthält, so schreibt der Philosoph Dennis Graemer in seiner 2022 veröffentlichten Studie „Planning and Society“, zwei grundlegende Annahmen: Erstens, dass Gesellschaften komplexe Systeme von Institutionen sind, die von Menschen aus bestimmten Kausalzusammenhängen heraus angetrieben werden. Diese Institutionen und Kausalzusammenhänge sind potenziell erkennbar. Zweitens, die darauf gründende Schlussfolgerung, dass Gesellschaften dementsprechend rational designt werden können.

Diese Annahmen des Politischen Rationalismus wurden von klassischen Republikanern wie Jean-Jacques Rousseau (1712—1778) und Charles de Montesquieu (1689—1755) ebenso vertreten wie von Karl Marx, der für die Erkennbarkeit von Produktivkraftentwicklung und Klassenkampf als historische Kausalprinzipien argumentierte. Auf ökonomischer Ebene findet der Politische Rationalismus Ausdruck in Plänen zu sozialistischer Wirtschaftsplanung.

Die Argumente des modernen Konservatismus

Gegen die rationalistischen Fortschrittsideen der Aufklärung zog der sich gleichsam als Gegenbewegung formierende moderne Konservatismus ins Feld. Für dessen weltanschauliche Grundpositionen erweisen sich zwei Argumente, die in der Logik als Fehlschlüsse behandelt werden, als besonders zentral. Zum einen das Traditionsargument und zum anderen das Argument der „goldenen Mitte“. Wird im ersten argumentiert, dass x schon lange Zeit gemacht wurde und deswegen weiterhin gemacht werden sollte, wird beim Fehlschluss der goldenen Mitte behauptet, dass die Wahrheit zwischen A und B liegen muss. Aber es gibt logisch keinen Grund dafür, einen unbegründeten Mittelweg zwischen zwei Theorien zu wählen. Man stelle sich etwa die Relativierung des heliozentrischen Weltbildes zugunsten des Geozentrismus vor.

Beispielhaft für diese Argumentationslinien ist die 1793 von Edmund Burke veröffentlichte Schrift „Betrachtungen über die Französische Revolution“, in der er wichtige Grundpositionen des modernen Konservatismus formulierte. In seinem Pamphlet gegen die Französische Revolution verteidigt Burke das Traditionsargument. Tradition sei eine Art vererbtes Wissen, das sich in den bestehenden Institutionen angesammelt habe. Bestehende Institutionen wie die Monarchie hätten aufgrund ihres langen Bestandes ihre Funktionalität bewiesen. Selbst wenn einzelne Protagonist*innen dieser Institutionen nicht über besonderes Wissen verfügen, sei in ihnen trotzdem das historisch gewachsene und gesammelte institutionelle Wissen akkumuliert. Das ganze Wissen vergangener Generationen sei im genetischen Code der Tradition gespeichert. Ein Eingriff in diese evolutionäre Dynamik hätte also, so Burke, verheerende Folgen. Für Burke sind — wenn überhaupt — langsame Reformen denkbar, die sich in evolutionären Prozessen durchsetzen.

Wie wir sehen, stützt sich die konservative Argumentation hier auf epistemische (also die Möglichkeit des Wissens betreffende) Annahmen, die denen des Politischen Rationalismus widersprechen. Gesellschaften seien zu komplex, um relevante Ursache-Wirkungs-Mechanismen auszumachen. Ein rationales Design von gesellschaftlichen Institutionen wird somit ausgeschlossen. Wenn wir nun die von Burke formulierten konservativen Überzeugungen mit den weltanschaulichen Grundpositionen aus dem ultra-reaktionären beziehungsweise faschistischen Spektrum vergleichen, ist nach den qualitativen und ideologischen Unterschieden zwischen diesen „rechten“ Strömungen zu fragen.

Reaktionäre Wende als Antwort auf fortschrittliche Bewegungen

Der marxistische Philosoph Georg Lukács bezeichnet in seinem Werk „Die Zerstörung der Vernunft“ (1954) die Gegenbewegung zum Politischen Rationalismus als Irrationalismus. Lukács argumentiert, dass Niveau und Tiefe reaktionärer Ideologien mit der zunehmenden Hegemonie fortschrittlicher sozialer Bewegungen — von der Aufklärung und dem bürgerlichen Republikanismus bis hin zu sozialistischen Bewegungen — an Bedeutung verlieren. Ein auf logischen und widerspruchsfreien Argumentationen gründendes Politikverständnis rücke kontinuierlich in den Hintergrund und werde durch den offenen Kampf gegen politische Gegner*innen ersetzt. Diese Tendenz kulminiere schließlich in der „Nationalsozialistischen Weltanschauung“. So findet die Aufklärung ihre epistemische Kritik noch in Burke, Friedrich Heinrich Jacobi (1743—1819) oder Johann Georg Hamann (1730—1788).

Radikalisierung zum Faschismus

Um die Jahrhundertwende schritt der Klassenkampf und die Organisation der Arbeiter*innenbewegung in Europa und Teilen Russlands rapide voran und führte zur russischen Oktoberrevolution und zur Novemberrevolution in Deutschland. Als Folge dessen radikalisierten sich — im Sinne von Lukács´ These — Fortschrittsfeindlichkeit, Kulturpessimismus und Irrationalismus im „antidemokratischen Denken“ (Kurt Sontheimer) der Zwischenkriegszeit. Die Protagonisten dieser heterogenen, extrem rechten, verkürzend unter der Bezeichnung „Konservative Revolution“ subsumierten politischen und gesellschaftlichen Vordenker — etwa Oswald Spengler, Ludwig Klages, Ernst Jünger, Arthur Moeller van den Bruck, Edgar Julius Jung oder Othmar Spann — trieben die irrationalistische Tendenz des sinkenden Niveaus und der direkten Konfrontation politischer Gegner weiter voran. Völkische Kategorien sollten als „polemische Begriffe“ nicht „primär Wirklichkeit erfassen, sondern als Waffe gegen die Wirklichkeit“ verwendet werden. Im deutschen Faschismus trat an Stelle logischer Wissenschaftskritik ein antisemitisches Verschwörungsnarrativ: Eine blutmäßig definierte Volksgemeinschaft würde gefährdet durch moderne Erscheinungen wie Wissenschaft, Kapitalismus und Marxismus, die im „Juden“ personifiziert werden.

Konservatives Denken scheint dazu zu neigen, sich angesichts vermeintlicher Bedrohungen durch emanzipatorische Bewegungen in reaktionäre und antidemokratische Politikentwürfe zu flüchten. Das gegenwärtige Erstarken solchen Denkens scheint Lukács Ansatz hingegen nicht erklären zu können, da sich dieses ganz ohne fortschreitenden Klassenkampf und progressive Bewegungen vollzieht. Irrationalistische Positionen verbreiten sich in der Postmoderne quer über die politischen Spektren. Rechte Reaktionäre drohen überall auf der Welt den reinen Kampf um Deutungshoheit, in dem auf Wahrheitsgehalt kaum Wert gelegt wird, zu gewinnen. Der Bonapartismus scheint zurückzukehren, diesmal ohne Februarrevolution wie 1848.