Der Mann mit der Kettensäge
Argentiniens neuer Präsident kommt aus der extremen Rechten
Der erste große Straßenprotest gegen die neue ultrarechte Regierung in Argentinien ließ gerade einmal zehn Tage auf sich warten. Erst am 10. Dezember hatte Präsident Javier Milei sein Amt angetreten, hatte erklärt, der Staat habe kein Geld, und hatte damit Kürzungen, die für die ohnehin schon verarmte Bevölkerung äußerst schmerzlich sein würden, in Aussicht gestellt. Kurz darauf hatte seine Regierung erste konkrete Maßnahmen angekündigt. Bereits am 20. Dezember meldeten sich nun erste Teile der Bevölkerung zu Wort. Tausende zogen in der Hauptstadt Buenos Aires durch die Straßen, um ihrem Unmut über das Zusammenstreichen der staatlichen Ausgaben lautstark Ausdruck zu verleihen. Die Polizei war stark präsent; die Regierung hatte zudem ungewöhnlich harte Drohungen ausgesprochen: Wer Straßen blockiere, erhalte keine Sozialhilfe mehr, teilte die zuständige Ministerin mit. Der Protest fand trotzdem statt. Und eines galt als sicher: Es würden weitere folgen.
Der „Anarchokapitalist“
Javier Milei, Jahrgang 1970, ist studierter Ökonom; er hat ursprünglich als Angestellter verschiedener Finanzinstitute, zwischendurch auch als Hochschullehrer in Buenos Aires Karriere gemacht. Er ist erklärter Anhänger der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, zu deren wohl prominentesten Vertretern Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek gehören; in Deutschland würde man ihn wohl am ehesten in rechtslibertären Zirkeln um eigentümlich frei oder im Umfeld der Friedrich A. von Hayek-Stiftung verorten. Milei nennt sich selbst einen „Anarchokapitalisten“, der staatliche Strukturen so weit wie nur irgend möglich abschaffen will, um dem ungezügelten Markt, also der ungehemmten Konkurrenz, alles zu überlassen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er ab 2016 in Talkshows bekannt, in denen er die damalige konservative Regierung unter Präsident Mauricio Macri vom rechtslibertären Standpunkt aus heftig attackierte. Mit allerlei derben Phrasen und mit seinem extravaganten Äußeren kam er bei vielen gut an.
Wie Milei zum Politiker wurde, darüber gibt es unterschiedliche Berichte. Zuweilen wird kolportiert, seine ehrgeizige Schwester Karina Milei habe ihn dazu getrieben, zu der er enge Beziehungen habe und die er „la jefa“ („die Chefin“) nenne. Eine andere Version hat der Journalist Juan Luis González recherchiert und in seinem Buch „El Loco“ publiziert; „Der Verrückte“: So wird Milei zuweilen genannt. Demnach hatte Eduardo Eurnekián seine Finger im Spiel. Eurnekián, 1932 in Buenos Aires geboren, ist Milliardär, einer der reichsten Männer Argentiniens sowie Besitzer der Corporación América, eines Konglomerats, das Dutzende Flughäfen, Energieunternehmen, weitere Infrastruktur, Agrarfirmen und einiges mehr umfasst. Milei trat 2008 als Chefökonom in die Flughafensparte der Corporación América ein. Dass sein Boss Eurnekián sich einst mit einem gewissen Mauricio Macri verkracht hatte, das wurde für den Milliardär zum Problem, als Macri 2015 zum Präsidenten Argentiniens gewählt wurde. Eurnekián, um seine Pfründe fürchtend, begann ihn bald ins Visier zu nehmen, indem er Milei und seinen Tiraden gegen Macri Türen bei Fernsehsendern öffnete, die er kontrollierte oder auf die er anderweitig Einfluss nehmen konnte.
Ob Eurnekián auch seine Finger im Spiel hatte, als Milei im Oktober 2018 den Partido Libertario (PL) gründete, eine rechtslibertäre Partei, darüber wird viel spekuliert. Tatsache ist, dass der PL bei den Präsidentenwahlen im Oktober 2019, selbst noch zu schwach, die konservative Partei Unite por la Libertad y la Dignidad (Unite) unterstützte und Macri damit 1,47 Prozent abspenstig machte. 2021 bildete der PL mit Unite und zwei anderen Parteien das Wahlbündnis La Libertad Avanza (LLA, „Die Freiheit schreitet voran“). LLA suchte und fand bald Unterstützer auf der politischen Rechten, darunter etwa Juan José Gómez Centurión, einen bekannten Veteranen des Krieges um die Falklandinseln bzw. Malvinen im Jahr 1982; dieser war kurz vor dem Beginn der Militärdiktatur im März 1976 in die Streitkräfte eingetreten und gehört zu denen, die die Zahl der Todesopfer der Diktatur — allgemein wird von rund 30.000 ausgegangen — bis heute auf 8.000 herunterrechnen. LLA kandidierte bei der Parlamentswahl im November 2021 und konnte auch dank Gómez Centurións Beistand mit 17,04 Prozent in Buenos Aires zwei Mandate gewinnen. Eines davon ging an Milei, das zweite an Victoria Villarruel.
Die Piusschwester
Villarruel hat einen völlig anderen soziopolitischen Hintergrund als Milei. Sie verortet sich auf dem ultrareaktionären Flügel des Katholizismus; unter anderem besucht sie, so berichten es argentinische Medien übereinstimmend, regelmäßig Messen, die die Priesterbruderschaft St. Pius X. in der Kapelle Nuestra Señora de Todas las Gracias in der Innenstadt von Buenos Aires abhält. Die Priesterbruderschaft St. Pius X. steht weit rechts vom Mainstream der katholischen Kirche, von der sie ausgeschlossen wurde; sie macht immer wieder unter anderem mit ihrem krassen Antisemitismus von sich reden. Villarruel ist darüber hinaus in der Fundación Oíd Mortales („Stiftung Hört, Sterbliche!“) aktiv, die nach Recherchen der Tageszeitung Página 12 2011 — damals noch unter anderem Namen — von Gustavo Corbi gegründet wurde, einem ultrakonservativen Theologen, der 1976 für die Secretaría de Inteligencia del Estado (SIDE) gearbeitet hatte, den Geheimdienst der Militärdiktatur.
Die Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 mit massenmörderischen Praktiken über Argentinien herrschte — das ist der zweite Faktor, der Villarruel geprägt hat. Für die Verbrechen ihres Vaters kann sie nichts; Eduardo Marcelo Villarruel hatte nach eigener Aussage bereits am „Operativo Independencia“ („Operation Unabhängigkeit“) teilgenommen, einem Militäreinsatz gegen die Guerillatruppe ERP (Ejército Revolucionario del Pueblo), der 1975, im Geburtsjahr seiner Tochter Victoria, mit dem Auftrag begann, die Guerrilleros „zu neutralisieren oder zu vernichten“, und wohl Hunderte das Leben kostete. Ab 1976 setzte Eduardo Villarruel in den Strukturen der Militärdiktatur seine Tätigkeit fort; später prahlte er, „gegen die Subversion“ gekämpft zu haben. Victoria hätte sich davon distanzieren können; sie wählte aber den anderen Weg und setzt sich seit Jahrzehnten für die Militärs aus der Zeit der Diktatur, darunter verurteilte Schwerverbrecher, ein. Den Diktator Jorge Videla (1976 bis 1981) soll sie nach übereinstimmenden Zeugenberichten in Haft mit Hostien versorgt haben.
Auf Villarruel gehen die Kontakte von Milei und seinem Parteienbündnis LLA zur extrem rechten spanischen Partei Vox zurück. Villarruel trat im April 2019 bei der Abschlussveranstaltung von Vox in Madrid im damaligen Wahlkampf auf, als Gründerin und Vorsitzende des Centro de Estudios Legales sobre el Terrorismo y sus Víctimas (CELTYV, „Zentrum für Rechtsstudien über den Terrorismus und seine Opfer“), das mit „Terrorismus“ nicht etwa die Verbrechen der Militärdiktatur meint, sondern den Kampf linker Guerrilleros sowohl vor als auch nach der Machtübernahme der Generäle. Im August 2019 trat der damalige Vox-Generalsekretär Javier Ortega Smith, dessen Mutter aus Argentinien stammt, gemeinsam mit Villarruel beim Círculo Militar, einem Treffen rechter Militärs, in Buenos Aires auf; beide erklärten dort, es sei notwendig, einen „Kulturkampf“ gegen die Linke zu führen. Der Austausch flutschte; 2022 trat Villarruel gemeinsam mit Milei auf einem Großevent von Vox auf, 2023 unterstützten Vertreter von Vox den Wahlkampf von Mileis LLA.
Lateinamerikas Trumpisten
Verdankt Milei seine Beziehungen zu Vox vor allem Villarruel, die ihm überdies geholfen hat, Argentiniens extreme Rechte hinter sich zu scharen, so baut er seine Kontakte zu führenden Rechtsaußen aus den Ländern Amerikas selbst auf. Mit Eduardo Bolsonaro, dem dritten Sohn des brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, steht er spätestens seit 2021 persönlich in Verbindung. Eduardo Bolsonaro wiederum unterhält enge Beziehungen zu Beratern von Ex-US-Präsident Donald Trump sowie zu Trumps Ex-Berater Steve Bannon. Trump selbst telefonierte schon kurz nach Mileis Wahlsieg mit diesem — auf Vermittlung von Eduardo Bolsonaro und, darauf legte er Wert, noch vor Mileis erstem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden. Milei nutzte zur Kontaktpflege unter anderem die CPAC Brasil, den brasilianischen Ableger der Conservative Political Action Conference (CPAC) der US-Republicans, die seit 2011 immer stärker auf Trump-Kurs eingeschwenkt ist und seit 2017 Ableger auf anderen Kontinenten aufbaut. Auf der CPAC Brasil, die von Eduardo Bolsonaro mit aufgebaut wurde, traf Milei im Juni 2022 unter anderem mit diesem und mit dem chilenischen Rechtsaußen José Antonio Kast zusammen.
Im Wahlkampf um das Präsidentenamt, der im Jahr 2023 tobte, machten Milei und LLA schon recht bald Schlagzeilen — und dies nach Mileis überraschendem Sieg mit 29,86 Prozent in den Vorwahlen am 13. August 2023 auch international. Das lag vor allem an den Phrasen aus dem rechtslibertären Sprüchearsenal, die der Kandidat drosch. Milei erklärte, er wolle die argentinische Währung, den Peso, abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen. Gleichzeitig habe er vor, die argentinische Zentralbank ersatzlos abzuschaffen. Den südamerikanischen Staatenbund Mercosur (Mercado Común del Sur = „Gemeinsamer Markt des Südens“, dem als vollwertige Mitglieder außer Argentinien aktuell noch Brasilien, Paraguay und Uruguay angehören) brauche kein Mensch; eine von ihm, Milei, angeführte Regierung werde ihn deshalb verlassen. Und überhaupt, mit Kommunisten, wie sie in China oder in Brasilien herrschten, wolle er nichts zu tun haben; er werde deshalb die Verbindungen zu ihnen kappen. Als Kommunisten stufte Milei dabei auch Brasiliens Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva ein.
Milei und LLA griffen darüber hinaus umfassend auf Forderungen zurück, die Villarruels ultrareaktionär-katholischem, der Militärdiktatur verbundenen Milieu entstammten. So sollen Schwangerschaftsabbrüche verboten, der Sexualkundeunterricht an den Schulen abgeschafft, LGBT-Rechte zurückgeschraubt werden. Milei hat sich mittlerweile die insbesondere von Villarruel stets energisch vorgetragene Behauptung zu eigen gemacht, während ihrer Diktatur hätten die Militärs, die damals hemmungslos folterten, mordeten und noch lebende Opfer aus Flugzeugen ins Meer warfen, allenfalls 8.000 Menschen getötet. Milei legte noch so manche Forderung drauf, sprach sich für die Legalisierung von Organhandel aus und leugnete den Klimawandel. Vor allem aber machte er sich, ganz wie Trump, den starken Unmut in der Bevölkerung über die politische Elite und ihre Unfähigkeit zunutze, die schwere Wirtschaftskrise mit einer dramatischen Inflation von 150 Prozent im Jahr in den Griff zu bekommen und die Armut zu reduzieren, die zuletzt 40 Prozent der Bevölkerung erfasst hatte. Politiker seien „Abschaum“, wetterte er; im Wahlkampf trat er regelmäßig mit einer Kettensäge auf, ein Symbol für seinen in Aussicht gestellten Kampf gegen die herrschende Politik. Und Villarruel orakelte düster: „Wie kann man ein verwüstetes Land wieder aufbauen, wenn nicht mit Tyrannei?“
Das Establishment schlägt zurück
Dass es Milei gelang, in der Stichwahl am 19. November 2023 mit rund 55,65 Prozent den höchsten Sieg bei einer argentinischen Präsidentenwahl seit der Rückkehr zur Demokratie zu erzielen, liegt zum einen daran, dass sein Anti-Establishment-Wahlkampf ähnlich verfangen hat wie etwa derjenige von Trump im Jahr 2016 in den USA. Einmal mehr hat sich gezeigt: Wut über die herrschenden Eliten treibt die Massen heute nicht nur in Europa, sondern auch in Nord- und in Lateinamerika immer wieder nach rechts. Zum anderen hat — Ironie der Geschichte — Milei seinen Wahlsieg einem Teil des konservativen Establishments zu verdanken. Nachdem ihre Kandidatin Patricia Bullrich im ersten Wahlgang ausgeschieden war, entschied eine Fraktion der konservativen Partei Propuesta Republicana (PRO) von Ex-Präsident Macri sich dafür, Milei im zweiten Wahlgang zu unterstützen. Sie brachten ihm die nötigen Stimmen, die ihm im ersten Wahlgang noch fehlten. Dafür forderten sie freilich wichtige Posten in Mileis Regierung ein.
Und so kam es dazu, dass etwa Villarruel zwar als Vizepräsidentin die Zuständigkeit für Sicherheit und Verteidigung erhielt, dass aber Ministerin für Innere Sicherheit nun Bullrich ist, die den Posten bereits unter Präsident Macri (2015 bis 2019) hatte, und dass Luis Petri das Amt des Verteidigungsministers bekam, der im ersten Wahlgang als Bullrichs Kandidat für die Vizepräsidentschaft kandidiert hatte. Für Sicherheit irgendwie zuständig, dies aber ohne echtes Durchgriffsrecht, ist die Sympathisantin der Diktatur; das reale Geschäft führt das konservative Establishment. In Wirtschafts- und Finanzfragen ist es ähnlich. Wirtschaftsminister Luis Caputo hatte unter Macri erst als Finanzminister, dann als Zentralbankpräsident gewirkt. Dass er Zentralbank und Währung abschaffen wird, wie Milei es einst ankündigte, ist nicht sehr wahrscheinlich.
300 Maßnahmen in Planung
Das alles heißt freilich nicht, dass Mileis ultrarechte Ankündigungen nicht anderweitig durchschlagen würden. Bei seiner Amtseinführung am 10. Dezember, zu der unter anderem Vox-Chef Santiago Abascal, Jair Bolsonaro, Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj angereist waren — Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte Milei schon am 20. November telefonisch gratuliert –, stand längst fest: Die Zahl der Ministerien wurde nun in Argentinien von 18 auf neun halbiert. Abgeschafft wurden unter anderem die Ministerien für Frauen und für Umwelt; das Arbeitsministerium wurde mit anderen in einem „Ministerium für Humankapital“ zusammengelegt. Ungewiss ist, welche Zumutungen für Frauen und LGBT Milei in die Tat umsetzen wird — und wie es mit Villarruels Plänen aussieht, die Geschichte der Militärdiktatur im Interesse und gemäß den Vorstellungen der Täter umzuschreiben. Ein echtes Problem besteht für Milei, Villarruel und LLA allerdings darin, dass sie nur über wenige Abgeordnete im Parlament verfügen, also zwingend auf Bündnisse angewiesen sind.
Die ersten einschneidenden Maßnahmen kündigte Wirtschaftsminister Petri bereits am 12. Dezember 2023 an, nur zwei Tage nach Mileis Amtseinführung. Um das Haushaltsdefizit zu beseitigen, das in Argentinien chronisch sei, müssten die Ausgaben gekürzt werden, erklärte er. So würden Subventionen für Energie und für den öffentlichen Nahverkehr verringert. Staatliche Aufträge würden nicht mehr vergeben, bereits erteilte, sofern sie noch nicht in Umsetzung begriffen seien, nachträglich suspendiert. Der Peso werde abgewertet — so stark, dass ein US-Dollar doppelt so viel kosten würde wie zuvor. Importierte Waren, deren Preise damit dramatisch in die Höhe schießen würden, würden zusätzlich mit einer Importsteuer belegt. Eine Woche später legte Milei mit weiteren Ankündigungen nach. Er habe 300 Maßnahmen in Planung, teilte er mit; so sollten Mietgesetze aufgehoben, Brandschutzgesetze gelockert und sämtliche Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften umgewandelt werden, um sie anschließend zu privatisieren.
Nebenbei: Auch der Internetmarkt solle geöffnet werden, erklärte Milei. Unternehmen wie Starlink können künftig dann auch in Argentinien viel Geld verdienen. Starlink, nur nebenbei, gehört einem gewissen Elon Musk. Der aber hat im Wahlkampf in Argentinien wen genau unterstützt? Hat da jemand Javier Milei gesagt? So war es in der Tat. Rechtslibertäre Politik lohnt sich für manche eben.