Politik des Ressentiments

Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie zur aktuellen politischen Agenda des Konservatismus in Deutschland

Vor 36 Jahren, im Jahr 1987 veröffentlichte Claus Leggewie einen Band mit dem paradigmatischen Titel „Der Geist steht Rechts“. Der Untertitel zur 1989 erschienen Zweiten Auflage lautete „Ausflüge in die Krise der Union“. Im Vorwort attestierten Sie der Union eine „Repräsentationskrise“, bedingt durch einen „programmatischen Richtungsstreit“ zwischen marktliberalen, christlich-sozialen und deutschnationalen Strömungen in der Partei. Diese Konflikte hätten zu einer „ideologischen Spaltung“ der „rechten Mitte“ geführt, das „Phantombild der Neuen Rechten“ sei, nicht zuletzt mit den ersten Wahlerfolgen der „Republikaner“ um Franz Schönhuber, „parteiprogrammfähig“ geworden.

Ihre damalige Analyse, liest sich — wenn wir die „Republikaner“ durch die AfD ersetzen — aus heutiger Perspektive erstaunlich aktuell. Taugen Ihre Beobachtungen aus dem Jahr 1989 noch für eine gegenwärtige Situationsbeschreibung der Union?

Claus Leggewie: Ich war ja auch 1987 kein Prophet, habe aber die Risse zwischen Konservativen, aus deren Milieu ich familiär kam, und den „Neuen Rechten“, die ich seit einer Demo gegen die NPD um 1966 als Schüler als Gefahr vor Augen hatte, deutlicher gesehen als andere, die das für Feuilleton hielten. Helmut Kohl hat den Laden noch halbwegs zusammengehalten, unter Merkel hat er begonnen auseinanderzufallen, und Friedrich Merz, der die AfD zu „halbieren“ versprochen hat, muss gerade zusehen, wie sich das „Fleisch vom Fleisch der Union“ verdoppelt und verdreifacht. Cum grano salis kann man die Analyse von 1987 noch für aktuell ansehen, natürlich in einem stark gewandelten Kontext, vor allem geopolitisch.

Welche Rolle spielen Programme und programmatische Konsistenz überhaupt für die Unionsparteien beziehungsweise für konservative Parteien generell? Die Union wird häufig als „Machtmaschine“ beschrieben, die sich wesentlich über Regierungsmacht definiert. Aber was hält die Union darüber hinaus zusammen?

Claus Leggewie: Die Union vertraute (zu) lange auf ihre „strukturelle Mehrheitsfähigkeit“. Ihre gewollte programmatische Leere, die mit ein paar Stichworten, wie etwa Familie, Nation und Wohlstand auszukommen meint und vor allem auf die Wirtschaftskraft Deutschlands rekurriert, war die Stärke der Union. Sie entpuppt sich nun aber als Schwäche, da diese Stichworte „famille, travail, patrie“ bekanntlich auch von Ultrarechten aufgesagt werden.

Obgleich politische und gesellschaftliche Visionen für die Union nie wirklich eine zentrale Rolle spielten, lassen sich in der Vergangenheit doch politische Projekte und Positionen benennen, mit denen die jeweils amtierenden Bundeskanzler*innen und Parteivorsitzenden der Union identifiziert wurden: Konrad Adenauer etwa forcierte die Westbindung der Bundesrepublik. Helmut Kohl stand für die Europäische Einigung, Angela Merkel wurde als Gegenpol zum rechten Populismus Donald Trumps wahrgenommen. Wofür steht und wohin bewegt sich die Union unter Friedrich Merz?

Claus Leggewie: Wenn er das nur selbst wüsste! Adenauers Verdienst war die Westbindung an Europa, weniger an Amerika. Der Schatten die personelle und institutionelle NS-Kontinuität und die Amerika-Distanz. Kohl war Europäer, sein Abgrund die „geistig-moralische Wende“. Merkel war beider Nachfolgerin, hat aber den Ausverkauf an Putin mitzuverantworten. Für Merz sind alle diese Schuhe ganz offenbar eine oder zwei Nummern zu groß. Er setzt ganz auf das Scheitern der Ampel und das landesweite Ressentiment gegen sie.

In Ihrem Buch „Der Geist steht Rechts“ analysierten Sie vor allem die Netzwerke und Denkfabriken am rechten Rand der Union und leuchteten deren Scharnierfunktion und den „Grenzverkehr“ zur „Neuen Rechten“ aus. Welche Rolle spielen derartige Thinktanks heute für eine mögliche Rechtsverschiebung der Union? Welche Bedeutung kommt beispielsweise der Denkfabrik „Republik 21“ — R21 zu, die sich selbst als eine „Ideenschmiede“ bezeichnet, um „bürgerliche Politik“ neu zu begründen?

Claus Leggewie: R21 möchte „Freiheit, Eigenverantwortung, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft“ stärken — wer nicht? Mit solchen Gemeinplätzen kann man den Konservatismus nicht reanimieren, zumal wenn die von meinem Historiker-Kollegen Andreas Rödder und der Ex-Ministerin Kristina Schröder forcierte Ausrichtung von R21 in der Substanz auf eine Revision der Merkel-Ära, das heißt, die Ausschlachtung des Migrationsthemas, hinausläuft und ansonsten die Grünen, die Klimapolitik und linksintellektuelle Marginalthemen wie „wokeness“ als Hauptfeind brandmarkt. Das sind reine Ressentiments, da wählen in Panik geratene Mittelständler bekanntlich gleich das Original namens AfD. Solchen Thinktanks, die übrigens im Zeitalter der sozialen Medien an Bedeutung verloren haben, blüht das Schicksal der Radikalisierung der American Heritage Foundation, die sich von Donald Trump einfangen ließ, gerade die Hexenjagd gegen seine Gegner vorbereitet und in scharfer Opposition zur globalen Klimapolitik steht.

Welche Rolle kommt der „WerteUnion“ zu? Mein Eindruck ist, dass die Union bewusst die Auseinandersetzung mit dem rechten Flügel der Partei scheut. Warum?

Claus Leggewie: Ja, wohl aus blankem Opportunismus. Ein Maaßen in der Hinterhand kann nie schaden, die SPD hatte ja auch ihren Sarrazin.

Gibt es eine von den westdeutschen Landesverbänden abweichende, spezifische weltanschauliche und strategische Signatur der ostdeutschen CDU-Landesverbände, die auch dazu führen, die viel beschworene „Brandmauer“ zur AfD in Frage zu stellen?

Claus Leggewie: Ostdeutschlands völkisch-autoritären Hang nach rechts hat der CDU-Ostbeauftragte Marco Wanderwitz treffend folgendermaßen charakterisiert: „Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“ Er hat den Schuss gehört und wurde dafür zu Unrecht gescholten, auch wenn die AfD kein ausschließlich ostdeutsches Problem ist. Worauf die Agenda der AfD hinauslaufen wird, hat Björn Höcke bereits deutlich gemacht, ohne die geplante Massendeportation beim Namen zu nennen. 2018 annoncierte er eine „wohltemperierte Grausamkeit“ … „menschliche Härte und unschöne Szenen werden sich nicht immer vermeiden lassen“, denn „existenzbedrohende Krisen erfordern außergewöhnliches Handeln“. Dabei werde man „leider ein paar (germanische) Volksteile verlieren, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen“. Aber man hat die AfD weiter verharmlost und ihre Wähler, überwiegend Männer, „zurückgewinnen“ wollen.

Wird die „Brandmauer“ substantiell bereits von Friedrich Merz selbst in Frage gestellt?

Claus Leggewie: Nicht explizit, aber genau mit solcher Taktiererei geht die Erosion einher.

Liegt dieser Erosion auch eine dramatische Fehleinschätzung im Hinblick auf die grundlegenden Ziele und das weltanschauliche Selbstverständnis der AfD zugrunde?

Claus Leggewie: Der AfD das Etikett Populismus anzuheften, war eine gesamtdeutsche fahrlässige Verharmlosung. Die Partei hat sich immer stärker zur Kenntlichkeit entwickelt: vom DM-Nationalismus der Lucke-Professoren zu den Faschisten des Höcke-Mobs. Vermeintlich harmlose Populisten entpuppten sich als demokratiefeindliche Rechtsradikale, die den antifaschistischen Konsens der Nachkriegsrepublik auflösen wollen. Populismus ist eher eine Methode: die disruptive Mobilisierung der Unzufriedenen gegen „die da oben“ — die politischen Eliten, die man als abgeschottete, verbandelte Kaste denunziert, der sie die geballte, nicht nach Alter, Geschlecht, Klasse usw. differenzierte Masse des Volkes entgegensetzen. Das Volk soll auch über dem Recht stehen, wie der FPÖ-Mann Norbert Hofer das einmal plakatiert hat und was Orbáns Zustimmungs-Autokratie ausführt. Das ist klassische plebiszitäre Volkstribunenmanier, auch von links anwendbar und in der Mitte reichlich vertreten.

Die AfD ist mehr: eine revisionistische Partei, die eine plebiszitäre Direktdemokratie will, die das Parteienestablishment „jagen“ und Eliten aller Art — politische, wirtschaftliche, akademische, intellektuelle, kulturelle — verscheuchen will. Aber die eben auch einen Inhalt hat: die Delegitimierung der repräsentativen Demokratie, überhaupt des Repräsentationsprinzips, an dessen Stelle sie einen identitären, autoritär nationalistischen Volksbegriff setzt, der Staatsbürger durch ethnische Abstammung definiert und vor allem Muslime und Juden jederzeit zu exkludieren bereit ist. Identitäre Demokratie also nach dem Muster eines Carl Schmitt, übertragen erst durch Neofaschisten wie Armin Mohler und heute das Institut für Staatspolitik. Die dazu gehörige Verschwörungstheorie, das „Grand Remplacement“ (großer Bevölkerungsaustausch alias Volkstod alias Umvolkung) kam aus vermeintlich marginalen Kreisen der „Nouvelle Droite“ (Jean Raspail und Renaud Camus) und ist heute ein populäres Meme in den sozialen Medien, das die Migrationsfrage weit über die rechtsradikalen Urheber hinaus wenn nicht beherrscht, dann doch erheblich unter Druck setzt.

Thomas Biebricher hat eine „internationale Krise des Konservatismus“ diagnostiziert. Die konservativen Parteien etwa in Frankreich, Italien und Großbritannien seien weitgehend marginalisiert worden, während extrem rechte und rechtspopulistische Strömungen maßgeblich die politische Agenda bestimmen. Der Konservatismus habe in diesen Ländern seine Funktion verloren, liberale Demokratien zu stabilisieren. Sehen Sie perspektivisch eine ähnliche Entwicklung in Deutschland? Was könnte dem entgegenstehen?

Claus Leggewie: Der Generaltrend ist in Deutschland angekommen, aber die Union ist bisher resilienter als die Neogaullisten in Frankreich, die Republikaner in den USA, die Tories in Großbritannien und andere christlich-demokratische Parteien. Problematisch wird es wie im amerikanischen Fall, wenn Konservative auf den xenophoben Zug aufspringen, in dessen Windschatten die weiße Suprematie und eine christlich verpackte Homophobie fahren, beides giftige Verschwörungstheorien. Berlusconi und Wilders, Orbán und Trump haben diesen paranoiden Politik-Stil wieder eingeführt, der den Blick verstellt auf die wirklich wichtigen Fragen wie die Klimawende. Ich bin nicht sicher, wie stark die Christdemokraten in der Partei sind, die andere Prioritäten setzen. Bei echten Konservativen wäre das die „Bewahrung der Schöpfung“.