„Vernünftige“ Rechtsradikale

Chef der europäischen Christdemokraten auf der Suche nach neuen Mehrheiten

„Brandmauer“ war einmal. Konservative Kommunalpolitiker:innen tragen vor allem in ostdeutschen Kreisen und Städten von der Mauer kräftig Steine ab. In Thüringen setzen CDU und angeblich Liberale gemeinsam mit der AfD Gesetze durch. Im Bund legt Friedrich Merz’ Christdemokratie den Entwurf eines Grundsatzprogramms vor, über den sich AfD-Chefin Alice Weidel freut: Die CDU habe „die unsägliche Brandmauer zumindest programmatisch eingerissen“. Und in der Europäischen Union?

Dort führt Manfred Weber die Fraktion der konservativ-christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) an. Seit vorigem Jahr steht der CSU-Politiker in Verdacht, es mit der Abgrenzung gegenüber Rechtsaußen eher locker zu halten. Wobei Weber differenziert: Jene extrem rechten Parteien, die sich, wie die AfD, in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) tummeln, sind für ihn weitgehend tabu — brauchbar nicht als fester Partner, sondern bestenfalls als Stimmvieh. In der zweiten Rechtsaußen-Fraktion im EU-Parlament, bei den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR), freilich finden sich manche, die Weber in sein Herz geschlossen hat. Wirklich überraschen kann das nicht. Weber ist auch Parteichef der EVP. Und bei nicht wenigen ihrer Mitgliedsorganisationen sind die Hemmschwellen längst gefallen. In Helsinki bilden Konservative mit der rechtsradikalen Partei Die Finnen eine Koalition. In Stockholm unterstützen die Schwedendemokraten eine konservative Minderheitsregierung. In Spanien hätte die Partido Popular (PP) zu gerne mit der rechtsradikalen Vox eine Regierung gebildet — allein: Das Wahlergebnis reichte nicht. Andere EVP-Mitgliedsparteien bewegen sich selbst auf strammem Rechtskurs: Frankreichs Republikaner etwa reagieren auf ihren jahrelangen Schrumpfkurs mit einer Übernahme radikal rechter Forderungen.

Rechtsrutsch droht

Hinzu kommt eine Entwicklung, die das Gefüge auch der EU selbst dramatisch ändern könnte. Über Jahrzehnte prägte eine faktische (über)große Koalition die europäische Politik. Christdemokratisch-Konservative, Sozialdemokraten und Liberale legten die großen Linien fest. Doch wenn das EU-Parlament am 9. Juni neu gewählt wird, droht ein massiver Rechtsrutsch. Die Parteien der jetzigen ID-Fraktion könnten davon profitieren, aber auch die der EKR. Dass sich beide zu einer einzigen großen Euro-Rechten formieren könnten, erscheint angesichts der großen Differenzen unwahrscheinlich. Die strategische Überlegung bei Webers EVP setzt stattdessen darauf, zumindest Teile der EKR für eine noch weiter eingeschwärzte, noch reaktionärere neue EU-Politik zu gebrauchen. Sozialdemokraten wären dann für die Mehrheitsbildung entbehrlich. Und die sowieso ungeliebten Grünen ließen sich noch weiter an den Rand drängen.

Zentrale Figur in solchen Gedankenspielen ist Giorgia Meloni, Regierungschefin Italiens, Präsidentin der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia (FdI) und der Europapartei EKR. Mit der könne man doch reden, meint Weber nach mehreren Treffen. Die Zeit zitiert ihn mit den (sprachlich etwas holprigen) Worten, es sei sein „strategisches Ziel als Vorsitzender der EVP, die Extremisten von den vernünftigen Kräften abzuspalten, um sie für das bürgerliche Lager zurückzugewinnen“. Drei Kriterien für die Zusammenarbeit mit weiter rechts stehenden Parteien nennt Weber immer wieder: Pro Europa müssen sie sein, pro Ukraine und pro Rechtsstaat. Weber: „Wer das akzeptiert, kann politischer Partner sein.“ Nicht bestehen würden den Weber-TÜV Marine Le Pens Rassemblement National, die polnische PiS, die ungarische Fidesz oder die AfD. Meloni hingegen bestünde: „Meloni ist bei Europa konstruktiv, steht an der Seite der Ukraine, und beim Rechtsstaat gibt es in Italien keine Probleme“, lobt Weber.

Klimapolitische Rechtsausrichtung

Dass seine Lockerungsbemühungen selbst seinem CSU-Chef Markus Söder zu weit zu gehen schienen, rührte Webers Anhänger in der EVP wenig. dpa zitierte einen Politiker aus Webers Umfeld mit der schroffen Abfuhr: „Markus Söder spricht für die CSU, Manfred Weber für die gesamte EVP.“ Auch in der italienischen Politik fände Weber Verbündete für ein breiteres Bündnis. Außenminister Antonio Tajani, Chef der EVP-Mitgliedspartei Forza Italia und von 2017 bis 2019 Präsident des Europäischen Parlaments, sagt: „In Europa sind wir für ein Mitte-Rechts-Bündnis zwischen Konservativen, Liberalen und Rechten“ — wobei auch er AfD und Frau Le Pen ausschließt.

Beobachter:innen der Brüsseler Politik attestieren der EVP-Spitze seit Monaten, dass sie verstärkt auf rechte Mehrheiten setzt und — egal ob es um das Lieferkettengesetz oder um Künstliche Intelligenz geht — die eigenen Fachpolitiker oft im Regen stehen lässt. Umweltschutz und der „Green Deal“ der EU sind besonders ins Visier der Christlich-Konservativen geraten. Die Diskussion über ein „Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“ lieferte im vorigen Jahr Anschauungsunterricht. Gemeinsam mit EKR und ID versuchte Weber das Gesetz zu verhindern. Die „Enteignung“ von Bauern befürchteten einige Kritiker des Gesetzes, andere steigerten sich gar in die Warnung vor einer „Hungersnot“ hinein.

Kulturkämpfer

Pascal Canfin, liberaler Vorsitzender des Umweltausschusses, berichtete, dass und wie Weber im Vorfeld einer vorentscheidenden Ausschusssitzung Druck in seiner EVP ausgeübt habe. Weber soll potenziell abtrünnige Abgeordnete gewarnt haben, dass sie, „wenn sie beim nächsten Mal ihren Platz auf der Liste haben wollen, sicherstellen sollten, dass sie nicht auftauchen“. Er habe ein Drittel der abstimmenden EVP-Mitglieder, die sich partout für das Renaturierungsgesetz aussprechen wollten, ausgetauscht, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Canfin beklagte eine „ganz klare Manipulation durch Manfred Weber“. Dessen Rechtskurs hatte im Ausschuss zwar Erfolg, im Plenum freilich scheiterte er, weil sogar eigene Fraktionskollegen seinen Maßgaben nicht mehr folgen mochten.

Nicht zufällig ging es in jenen Tagen um eine ökologische Frage. Es gibt nicht wenige in der EVP-Fraktion, denen ist sogar die aus dem eigenen politischen Lager stammende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlicht zu grün. Ihr „Green Deal“ erscheint ihnen als Risiko. Insbesondere die Landwirte könnten den Christlich-Konservativen den Rücken kehren. Weber, dessen Partei stets auf die Klientel der Wähler:innen auf dem Land bauen konnte, wittert die Gefahr. „Wir brauchen jetzt eine Pause“, sagt er und fordert ein zweijähriges Moratorium der EU in Sachen Natur- und Umweltschutz. „Es schien“, so hieß es in der Süddeutschen Zeitung, „als wolle Weber der EVP deutsche Kulturkämpfe gegen alles, was grün ist, verordnen.“ Ein wichtiges Ziel, das Weber dabei anpeilt: Er will das Aus für Verbrennermotoren wieder kippen, wie er Ende November bei einem CSU-Parteitag ankündigte. Voraussetzung seien „bürgerliche Mehrheiten in Brüssel“. Nach Lage der Dinge gehören auch Rechtsradikale für den Chef der EVP dazu.