„Es gibt zahllose weitere Geschichten“
Ein Gespräch mit Cana Bilir-Meier, Talya Feldman und Chana Boekle
Die Ausstellung besteht aus zwei Elementen, die miteinander in Verbindung stehen. Im öffentlichen Raum sichtbar ist sie mit ihrer begehbaren Skulptur aus 25 umgestalteten Verkehrsschildern. Diese zeigen Piktogramme, die die Perspektiven, Forderungen und Kämpfe von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zum Ausdruck bringen. Ihren zweiten Teil bildet eine Soundcollage. Diese verbindet Elemente aus Interviews und Statements von Überlebenden rechter Gewalt und von Angehörigen, Mitschnitte von antirassistischen und antifaschistischen Protesten mit Soundeindrücken sowie Liedern von Ozan Ata Canani, Berivan Kaya und Microphone Mafia. Das Projekt wurde von den Künstlerinnen Cana Bilir-Meier und Talya Feldman, der Kuratorin Chana Boekle, der Grafikerin Silvia Troian und dem Sounddesigner Carlos Ángel Luppi gestaltet, in enger Zusammenarbeit mit Überlebenden und Initiativen, die ihre Geschichte und Erzählungen teilen.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, Verkehrsschilder zu nutzen, um an rechte, rassistische und antisemitische Gewalt zu erinnern und die Kämpfe der Überlebenden und Angehörigen um Anerkennung, Aufklärung und Gerechtigkeit zu thematisieren?
Chana: Die Ausstellung ist ganz wesentlich inspiriert durch eine Installation des Künstler*innenkollektivs Grupo de Arte Callejero (GAC) in Buenos Aires. Die GAC hat sich 1997 gegründet, um mit künstlerisch-politischen Interventionen im öffentlichen Raum vor allem zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der zivil-militärischen Diktatur in Argentinien anzuregen, der in den Jahren zwischen 1976 und 1983 mindestens 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Gemeinsam mit der Organisation H.I.J.O.S. („Töchter und Söhne der Verschwundenen“) haben die Aktivist*innen der GAC Motive in Form von Piktogrammen entwickelt und auf Verkehrsschilder gedruckt. Die Bilder machen auf die staatlichen, militärischen, kirchlichen und kapitalistischen Allianzen aufmerksam, die für Folter, Ermordung und Verschwindenlassen von zehntausenden Menschen verantwortlich waren. Sie thematisieren aber auch die weitgehende Straflosigkeit für die Täter*innen und bringen die Bedeutung von selbstbestimmtem Erinnern als wichtigen Teil widerständiger Praxis zum Ausdruck. Inzwischen sind einige der Schilder als Installation mit dem Namen Carteles de la Memoria („Straßenschilder der Erinnerung“) dauerhaft an einem zentralen Ort. Seit 1999 ist sie fester Bestandteil des Parque de la Memoria, ein öffentlicher Raum im Stadtgebiet von Buenos Aires, an dessen Einrichtung Menschenrechtsorganisationen, die Universität und die Stadtverwaltung von Buenos Aires mitwirkten. Dieser Ansatz ist auch für uns zentral: zusammen mit Überlebenden rechter Gewalt und Angehörigen im öffentlichen Raum zu intervenieren, mit den Elementen der Ausstellung Forderungen nach Aufklärung und Gerechtigkeit zu artikulieren und klar zu machen, dass es keinen Schlussstrich geben kann.
Was können eurer Meinung nach die Formen und die Bildsprache von Verkehrsschildern dazu beitragen, eine Auseinandersetzung mit rechter Gewalt, aber auch mit Praktiken der Resilienz anzuregen?
Cana: Die von der GAC umfunktionierten Verkehrsschilder wurden zunächst auch für Demonstrationen hergestellt. Der Vorteil war und ist: Die Schilder können leicht und kostengünstig reproduziert werden. Sie sind einerseits künstlerisch gestaltete Objekte, andererseits aber auch Alltagsgegenstände, mit denen sich Inhalte und Positionen im wörtlichen Sinne transportieren und überall sichtbar machen lassen. Wir wollen aber auch durch die bewusste Anlehnung an die Ikonografie von Verkehrsschildern bei Passant*innen Irritationen hervorrufen — nicht zuletzt dadurch, dass wir uns die „behördliche Sprache“ dieser Schilder aneignen, um die Perspektiven, die Kritik und die Forderungen von Überlebenden, Betroffenen, Angehörigen und Aktivist*innen zum Ausdruck zu bringen. Wir nehmen den sehr starken Appell-Charakter, den Verkehrsschilder ausdrücken, auf und füllen ihn mit widerständigen Inhalten. Dabei gehen wir davon aus, dass die Piktogramme Zeichen darstellen, die Räume für eine universelle und transkulturelle Kommunikation öffnen können. Aber auch die Materialität der Skulptur hat eine Bedeutungsebene: Die Verkehrsschilder bestehen aus Metall und sind somit sehr robust. Das müssen sie auch sein, denn der Kampf um Erinnerung und Gerechtigkeit ist ein langer, vermutlich niemals endender Prozess.
Talya, du hast gemeinsam mit Carlos die Soundcollage „Hört mir zu: Dieses Lied ist ein Denkmal“ gestaltet. Du gehst davon aus, dass „Sound“ ein „politisches Werkzeug“ sein kann. Was meinst du damit?
Talya: Im Kontext der Arbeit an der Soundcollage haben mich die Ansätze der Sonic Insurgency Research Group (SIRG) sehr inspiriert. Die SIRG hat sich nach dem Mord an George Floyd durch die Polizei im Mai 2020 in einer Reihe von Projekten mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung „Sound“ im Zusammenhang mit der Herstellung von sozialer Kontrolle und im Rahmen polizeilicher Strategien zukommt. Welche Stimmen werden nicht gehört oder zum Schweigen gebracht? Und im Gegensatz dazu: Welche Bedeutung haben Geräusche, Töne und Stimmen bei der Mobilisierung von gesellschaftlichem Widerstand, etwa gegen Polizeigewalt? Das war für mich der Impuls, mit der Collage die vielschichtigen Sounds von Protest und Widerstand gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt in den öffentlichen Raum zu tragen. Mich hat dabei die Frage beschäftigt, wie diese Töne unsere Perspektiven auf die Strukturen und Orte verändern können, in denen wir leben. Mit der Soundcollage „Hört mir zu: Dieses Lied ist ein Denkmal“ wollten wir genau diejenigen Töne und Stimmen verstärken, die sonst oftmals aus historischen Archiven und dem öffentlichen Raum ausgeschlossen sind. Und das sind besonders die Stimmen und Perspektiven von Menschen, die von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt betroffen sind. Ihr Klang und das Hörbarsein sind — wie die Praxis des Zuhörens: politisch. Sie sind Möglichkeiten des Widerstands, um Machtstrukturen zu kritisieren und sie perspektivisch zu überwinden.
Wie hast du die einzelnen Elemente der Soundcollage zusammengestellt? Welche inhaltlichen Aspekte, welche Sprechweisen und welche Ausdrucksformen wolltest du darin unterbringen?
Talya: Wir haben zunächst zahlreiche Interviews geführt, um die Geschichte rechter Gewalt, aber auch von Widerstand und Resilienz in NRW zu verstehen. Wir haben vor allem mit Überlebenden rechter Gewalt und ihren Familien gesprochen, die mit uns ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Perspektiven geteilt haben. Zudem haben wir mit Aktivistinnen, Künstlerinnen, Musikerinnen und Historikerinnen Interviews geführt. Eine Frage, die wir in den Gesprächen immer gestellt haben, lautete: Was waren Schlüsselmomente in der Geschichte von rechter Gewalt, Widerstand und Resilienz in NRW, die zu Veränderungen geführt haben, und mit welchen Tönen und Geräuschen sind sie in der Erinnerung verknüpft? Als ein zentraler Aspekt wurden in diesem Zusammenhang vielfach die sogenannten Wilden Streiks vorwiegend migrantischer Arbeiterinnen genannt, die etwa während des Ford-Streiks in Köln oder des Streiks bei Pierburg in Neuss im Jahr 1973 erstmals als Akteurinnen, die für ihre Rechte kämpften, sichtbar und auch hörbar in Erscheinung traten. Von diesen Arbeitskämpfen gibt es in den Archiven einige Tondokumente, die Streikparolen und Forderungen festgehalten haben. Weitere Ereignisse, die immer wieder genannt wurden, sind der rassistische Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen im Mai 1993 und die Ermordung von Mehmet Kubaşık in Dortmund im April 2006 durch den NSU. Die Stimmen der Familien Genç und Kubaşık und der vielen anderen Familien, die in dieser Soundcollage vertreten sind, sind unglaublich wertvoll, um die Kämpfe für Gerechtigkeit und Erinnerung deutlich zu machen. Aber auch bei der Festlegung und Vorstellung einer besseren Zukunft für uns alle. Große Bedeutung kommt aber auch der Musik zu, weshalb wir Ausschnitte aus Liedern von Ozan Ata Canani, Berivan Kaya und Microphone Mafia in die Collage als wichtige Elemente integriert haben. Musik spielte und spielt für Empowerment und Solidarität eine wichtige Rolle. Kutlu Yurtseven von Microphone Mafia hat es in dem Interview mit uns so formuliert: Musik ist für ihn eine Praxis des Erinnerns.
In der Beschreibung des Projekts heißt es, die Ausstellung sei in enger Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen, Überlebenden und Familien von Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt entstanden. Könnt ihr erzählen, wie das gemeinsame Arbeiten an der Ausstellung aus eurer Sicht konkret gelaufen ist?
Cana: Ohne das Wissen, die Erfahrungen und das Vertrauen der Überlebenden und Familien, die teilweise schon seit Jahrzehnten um Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen kämpfen, wären die Ausstellung und die Soundcollage undenkbar gewesen. Ausgangspunkt und Kern des Projekts waren für uns daher die Gespräche, die wir geführt haben. Im Zentrum standen dabei immer die Fragen nach den eigenen Erfahrungen, Kämpfen und Forderungen. Auf dieser Grundlage haben wir dann gemeinsam mit der in Buenos Aires lebenden Grafikerin Silvia Troian die Verkehrsschilder gestaltet und jeweils eine kurze erklärende Texttafel dazu verfasst — immer in enger Abstimmung mit den Überlebenden und Familien, mit denen wir gesprochen haben. Auf dieser Weise ist in Zusammenarbeit mit Gamze und Elif Kubaşık etwa das Verkehrsschild entstanden, das an Mehmet Kubaşık erinnert. Es ist in Schwarz-Gelb gehalten, den Farben von Borussia Dortmund, dem Verein, dem Mehmet Kubaşık, der ein großer Fußballfan war, nahe stand. Dortmund ist durch Umrisse abgebildet. Schwarz markiert ist die Nordstadt, wo Mehmet Kubaşık mit seiner Familie lebte und wo sein Kiosk war. Dazu sind sein Name, sein Geburtsdatum und der Tag der Ermordung abgebildet. Ähnlich verlief die Arbeit an der Soundcollage. Auch sie ist in enger Abstimmung mit den Überlebenden, Familien und Musiker*innen entstanden. Alle darin enthaltenen Statements oder Textpassagen haben wir mit deren ausdrücklicher Zustimmung aufgenommen und keine eigenen Deutungen und Interpretationen hinzugefügt.
Sind euch im Prozess der Gestaltung der Ausstellung und der Soundcollage noch einmal Perspektiven auf die Geschichte rechter Gewalt in NRW und die Kämpfe um Erinnerung besonders deutlich geworden?
Talya: In diesem Projekt, wie auch in anderen Projekten, die wir gemacht haben oder an denen wir beteiligt waren, geht es um die Bedeutung von Solidarität und um die Frage, wie es möglich ist, Solidarität zu schaffen. Entscheidend für die Entwicklung solidarischer Perspektiven und Praktiken ist, dass wir trotz aller unterschiedlichen Geschichten, Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen eine gemeinsame Basis finden. Hierfür wollten wir mit „Stopp. Zuhören. Begegnen.“ einen Raum öffnen. Es ging uns nicht darum, die Täter*innen und ihre Ideologien in den Fokus zu rücken, sondern zu erfahren, zu lernen und sichtbar zu machen, worauf Widerstand und Resilienz gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt gründen. In sehr vielen Gesprächen, die wir geführt haben, wurde immer wieder die Bedeutung der Liebe in diesem Kampf gegen den Hass betont. Das hat beispielsweise auch Cihat Genç, wie schon zuvor seine Großmutter Mevlüde Genç, die den Brandanschlag von Solingen im Mai 1993 überlebte, im Interview hervorgehoben. Und Malek Ahmad, der Vater von Amed Ahmad, der im September 2018 in der JVA Kleve unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben kam und an den ein Schild in der Ausstellung erinnert, sagt in einem von ihm verfassten Gedicht, das am Ende der Soundcollage zu hören ist: „Du und ich, wir zusammen, bauen ein Paradies auf. […] Lasst uns zusammen in die Gärten, die für alle Menschen sind.“
Wo seht ihr die Möglichkeiten und die Grenzen eurer künstlerischen Intervention, wenn es darum geht, die Kämpfe um Erinnern und Resilienz zu thematisieren und zu unterstützen?
Cana: Mit „Stopp. Zuhören. Begegnen.“ wollten wir zunächst mal einen Raum schaffen, in dem Perspektiven und Stimmen von Überlebenden rechter Gewalt und von ihren Familien sicht- und hörbar werden. Wir denken, dass künstlerische Interventionen — besonders in öffentlichen Räumen — stärker als andere Medien und Formate Erfahrungen und Forderungen von Betroffenen transportieren, Menschen für die Auswirkungen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sensibilisieren und auch die Dominanzgesellschaft im Hinblick auf ihre Verantwortung konfrontieren können. Im Zentrum müssen dabei jedoch von Beginn an die Erzählungen, Wünsche und Forderungen de Überlebenden und Familien stehen. Künstlerische Zugänge dürfen diese Perspektiven nicht als Material missbrauchen. Wie İbrahim Arslan, Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Mölln im November 1992 sagt: „Wir sind keine Statisten, wir sind die Hauptzeugen des Geschehenen.“ Dieser Satz muss auch wegweisend für künstlerische Interventionen sein.
Chana: Mit dem Projekt wollen wir aber auch andere Überlebende, Betroffene und Familien ermutigen, ihre Geschichten zu erzählen. Denn hier zeigt sich die Begrenztheit unserer Intervention: Wir konnten sehr wenige Stimmen und Perspektiven auf den Verkehrsschilden und in der Soundcollage sicht- und hörbar machen. Doch es gibt zahllose weitere Geschichten, die erzählt und gehört werden müssen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Cana Bilir-Meier arbeitet als Filmemacherin, Künstlerin und Kunstpädagogin in München. 2018 hat sie die Initiative zum Gedenken an Semra Ertan mitbegründet und 2020 den Gedichtband Semra Ertan. „Mein Name ist Ausländer / Benim Adım Yabancı“ (edition assemblage) mit herausgegeben.
Talya Feldman ist Medienkünstlerin aus Denver, Colorado. Sie ist in der Soligruppe 9. Oktober aktiv, die an den antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle und Wiedersdorf am 9. Oktober 2019 erinnert. Talya Feldman hat zahlreiche künstlerische Projekte gegen den rechten Terror in Zusammenarbeit mit aktivistischen und forschungsbasierten Netzwerken in Deutschland umgesetzt.
Chana Boekle ist Kunstkuratorin, die seit 2013 zwischen Deutschland und Argentinien wohnt und sich auf Ausstellungen konzentriert, die gesellschaftliche Themen wie Erinnerungskultur und Menschenrechte behandeln.