Islamismus
Eine antifaschistische Einordnung
Beobachtet man die Debatte nach den jüngsten islamistischen Anschlägen in Deutschland, so kommt man nicht umher zu verstehen, dass sehr viel Meinung und wenig Wissen im Raum steht. Islamismus ist Thema: im Bundestag, in der Stammkneipe, auf dem Schulhof. Was der Begriff, der eigentlich eindeutig definiert ist, wirklich bedeutet, ist vielen Menschen trotzdem unklar. Wofür auch differenzierte Analysen, möchte man polemisch fragen, wenn auf Titelblättern großer Medien wieder einzig über Migration und Abschiebung diskutiert wird? Dass die islamistische Szene bereits seit über 40 Jahren in Deutschland Strukturen etabliert, hat Politiker_innen in der Vergangenheit hingegen nur selten gestört, wenn man denn vor Ort schöne Pressebilder machen und sich selbst in Szene setzen konnte. Deutschland unterhält seit Jahrzehnten wirtschaftliche Beziehungen mit islamistischen Regimen wie Iran oder Saudi-Arabien und hat einen höchst fragwürdigen „Flüchtlingsdeal“ mit dem Islamisten Recep Tayyip Erdoğan geschlossen. Das zeigt auf, dass man Islamismus erst dann verurteilt, wenn er an die eigene Haustüre klopft. Doch der Reihe nach.
Islamismus — eine klare Definition
Wie auch in anderen Religionen existieren im Islam verschiedene Auslegungen und Interpretationen der religiösen Quellen. Die zwei wichtigsten dieser Quellen sind in der islamischen Religionslehre der Koran sowie die Tradition des Propheten Mohammed, genannt „Sunna“. Darüber hinaus existieren die „5 Säulen des Islam“, die das islamische Glaubensbekenntnis, tägliche Gebete, das Fasten während der Ramadan-Zeit, soziale Pflichtabgaben an Bedürftige und die Pilgerfahrt nach Mekka beinhalten. Diese Fundamente erkennt der Großteil der Muslim_innen weltweit als Kern ihrer Religion an, auch wenn sich die Gläubigen in unterschiedliche Strömungen und Rechtsschulen aufteilen. Auch der Islamismus beruft sich auf die genannten Quellen, versteht diese aber anders als liberale und moderaten Muslim_innen vor allem als politischen Auftrag mit dem Ziel der Bildung eines Gottesstaates, sprich einer Diktatur auf Grundlage eines politisch-totalitären Islamverständnisses. Für Islamist_innen besteht keine Trennung zwischen Politik und Religion, sie lesen die islamischen Quellen daher aus einer politischen statt aus einer spirituellen Perspektive. In islamistischen Regimen liegt eine sogenannte Gottes- statt Volkssouveränität als Legitimationsbasis vor, die als Fundament für die ganzheitliche Durchdringung und Steuerung der Gesellschaft fungiert — eine Sozialordnung im Namen eines politisch-totalitären Islamverständnisses.
Sunnitischer und shiitischer Islamismus
Die sunnitische und die shiitische Religionsauslegung bilden die zwei Hauptströmungen des Islam. Die Spaltung vollzog sich nach dem Tod Mohammeds im Jahre 632 n. Chr., da dieser keinen offiziellen Nachfolger für sich bestimmt hatte und beide Strömungen unterschiedliche Ansichten über die legitime Nachfolge vertreten. Man geht heute davon aus, dass etwa 85 Prozent der Muslim_innen weltweit Sunnit_innen und 15 Prozent Shiit_innen sind, wobei die größte shiitische Gruppe im Iran lebt, der sich selbst als shiitischer Gottesstaat versteht. Zwischen den beiden Strömungen toben seit Jahrhunderten blutige Kämpfe, besonders die Bilder von Massenhinrichtungen von Shiit_innen durch die sunnitisch-islamistische Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sind 2014 um die Welt gegangen. Der Iran und seine shiitisch-islamistischen Verbündeten wie etwa die Hisbollah im Libanon waren federführend in den Kampf gegen den IS involviert. In der Großoffensive auf Tikrit 2015 führte unter anderem der berühmte iranische Offizier Quasem Soleimani die Badr-Brigade ins Feld, was den bis dahin größten Angriff gegen den IS darstellte. Dennoch sollte man sich auch in diesem Fall im Klaren darüber sein, dass hier Islamisten gegen Islamisten kämpfen, die sich in der Auslegung der islamischen Quellen unterscheiden, aber am Ende beide die Ziele der totalitären Theokratie verfolgen.
Die zwei Wege des Islamismus in der Moderne
Anders als es häufig beschrieben wird, ist Islamismus nicht immer gleichzusetzen mit Gewalt und Terror. Während der dschihadistische Islamismus sich explizit auf Gewalt beruft, um seine Ziele durchzusetzen, verzichtet der legalistische Islamismus auf diese Formen der physischen Gewalt und unterwandert wichtige Schaltstellen und Institutionen einer Gesellschaft. Islamistische Akteur_innen versuchen sich häufig als repräsentative Instanz muslimischer Communitys zu inszenieren und negieren ganz bewusst deren Vielfalt und Heterogenität. In Deutschland haben sich in den letzten 40 Jahren vor allem reaktionäre islamische Strukturen organisiert, während liberale Muslim_innen dies erst verstärkt seit 2010 vollziehen. Bis heute sind die großen Verbände DİTİB, Zentralrat der Muslime (ZMD) oder die Islamische Gemeinschaft Millî-Görüş (IGMG) Ansprechpartner für die Politik, obwohl sie anhand der Mitgliederzahlen nur ein Viertel der Muslim_innen in Deutschland repräsentieren. Dabei stehen seit Jahren Verbindungen zu islamistischen oder rechtsradikalen Kräften im Zentrum der Kritik an den Verbänden. So beheimatet der ZMD mit der ATİB als größtem Mitgliedsverein einen Verband, der dem Spektrum der Grauen Wölfe zugerechnet wird. Die IGMG wird von Sicherheitsbehörden in Teilen als legalistisch islamistisch eingestuft, während DİTİB als Struktur weisungsgebunden durch die türkische Religionsbehörde kontrolliert wird, welche wiederum direkt dem türkischen Präsidenten untersteht, sprich: dem Islamisten Erdoğan.
Zwischen Islamismus-Kritik und antimuslimischen Ressentiments
Diese Zustände sind seit Jahren bekannt, doch wird die Kritik daran von vielen Linken immer noch gemieden, sei es aus Unwissenheit oder aber aus Sorge, dass eine Wortmeldung rechten Kräften Auftrieb geben könnte, indem sie die Kritik für rassistische Stimmungsmache gegen Muslim_innen instrumentalisieren. Was diese rechten Kräfte angeht, bleibt es nicht mehr bei Worten, denn antimuslimische Ressentiments sind längst in Gewalt umgeschlagen, wie die Terroranschläge von Hanau oder Christchurch in Neuseeland zeigen. Das gilt es stets mitzudenken. Man kann sich dieser Tage schlicht nur noch an den Kopf fassen, wenn bürgerliche Parteien auf die komplexe Gefahr des Islamismus einzig mit Abschiebepopulismus antworten. Als die deutsche Innenministerin Nancy Faeser 2022 den im Juni 2021 ins Leben gerufenen Expert_innenkreis „Politischer Islamismus“ auflöste, gab es weder in liberalen noch linken Kreisen einen Aufschrei, der eine Reaktion der Verantwortlichen hätte nach sich ziehen können. Bis heute existieren in der Bundesrepublik keine dauerhafte Forschungsstelle und Professur, die primär und ausschließlich zum Thema Islamismus forschen. Stattdessen denken Spitzenpolitiker_innen der CDU, eine Ideologie abschieben zu können, die seit Jahrzehnten in Deutschland gewachsen ist. Nicht das erste Mal, dass einflussreiche Kreise der Christdemokratie eine zweifelhafte Rolle in Fragen der Migration einnehmen. So war es 1978 Franz-Josef Strauß von der CSU, damals gerade bayrischer Ministerpräsident, der die ersten Organisationen der Grauen Wölfe nach Deutschland einlud, da Strauß Verbündete gegen migrantische Linke suchte, die sich verstärkt in Gewerkschaften organisierten.
Emanzipatorische Islamismuskritik und das Versagen von Teilen der Linken
Gerade nach islamistischen Terroranschlägen könnte „die“ Linke, anders als rechte Kräfte, eine emanzipatorische Islamismus-Kritik üben und ein Vakuum der Aufklärung füllen, das sich seit Jahren wie ein Krater durch bedeutende Teile progressiver Bewegungen zieht. In Einzelfällen existiert diese linke Aufklärung auch, vor allem von migrantischen Stimmen, die sich aber nie sicher sein können, am Ende nicht doch mit Rassismus-Vorwürfen überzogen zu werden. Dies schätzt die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim wie folgt ein: „Aus kurdischer Perspektive ist die Gefahr des Islamismus untrennbar mit jahrzehntelanger Unterdrückung und Gewalt verbunden. Viele Kurden haben in Syrien, dem Irak oder der Türkei nicht nur gegen autoritäre Regime gekämpft, sondern auch gegen islamistische Gruppen, die ihre Rechte, ihre Kultur und ihre Existenz bedrohten. Für uns ist der Kampf gegen den Islamismus kein abstraktes politisches Thema, sondern eine Frage des Überlebens. Diese Erfahrung wird jedoch oft von nicht-migrantischen Stimmen in Europa relativiert, die uns belehren wollen, dass der Fokus auf den Islamismus zu ‚rassistisch‘ sei, ohne zu verstehen, dass wir tagtäglich beides erfahren: Rassismus hier und islamistische Unterdrückung in unseren Herkunftsländern. Es ist frustrierend, wenn diese Stimmen versuchen, den Kampf gegen Islamismus und Rassismus gegeneinander auszuspielen, anstatt zu erkennen, dass sie für uns untrennbar miteinander verwoben sind.“
Reflexion und Ausblick
Wertet man heute Zahlen deutscher Sicherheitsbehörden aus, so liegt die Personenzahl des Islamismus nicht weit unter der des Rechtsextremismus. Das ist alarmierend! In Teilen der muslimischen Communitys etabliert sich nicht erst seit dem international sichtbaren Auftreten des IS und seinen zunehmenden Rekrutierungsanstrengungen ein reaktionäres und immer öfter auch politisch-totalitäres Islamverständnis, welches vor allem Geflüchtete kennen, die vor islamistischen Kräften aus dem Nahen und Mittleren Osten geflohen sind. Liberale Muslim_innen organisieren sich effektiv erst seit 15 Jahren in Deutschland und sollten gerade von progressiven Kräften unterstützt werden, um größeren Einfluss auf die muslimischen Communitys entfalten und das scheinbare „Monopol“ der großen Verbände brechen zu können.
Wichtige Namen sind in diesem Kontext der Religionspädagoge Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, die liberal-islamische Alhambra Gesellschaft, die Autorin Sineb El Masrar, aber auch Influencer wie „himbeer_pi“, der aus muslimischer Perspektive und in jugendgerechter Sprache salafistische Indoktrination dekonstruiert. So lange Staat und Zivilgesellschaft nur die muslimischen Stimmen als Gesprächspartner_innen kontaktieren, die quantitativ am besten organisiert sind, negiert man nicht nur die Heterogenität der Gemeinschaften, sondern sitzt in diesem Moment auch Strukturen gegenüber, die häufig ein reaktionäres Islamverständnis pflegen und mitunter Schnittstellen mit islamistischen Strukturen haben.