
Schiffbruch in Gladenbach
Zum geplanten Auftritt Sellners in Marburg
Ende Juni gab Martin Sellner in seinem Telegram-Kanal bekannt, eine „Lesereise“ in Deutschland durchführen zu wollen. Erst wenige Wochen zuvor wurde das von der Stadt Potsdam verhängte bundesweite Einreiseverbot gegen ihn gerichtlich zurückgenommen, gegen das er per Eilantrag vorgegangen war. Neben Passau, Pforzheim und dem Saarland wollte Sellner auch in Marburg Halt machen. Den genauen Veranstaltungsort hielt er jedoch geheim, wohl auch, weil bis kurz vor dem Termin kein Raum zur Verfügung stand.
Breite Einigkeit
Schnell formierte sich breiter Widerstand in der Stadt. Das Stadtparlament verabschiedete geschlossen — mit Ausnahme des AfD-Vertreters — einen Beschluss, in dem es heißt: „Die Universitätsstadt Marburg missbilligt mit allem Nachdruck, dass Martin Sellner in Marburg Thesen zur Vertreibung eines Teils unserer Einwohner*innen propagieren will. Die Universitätsstadt Marburg erachtet diese menschenfeindlichen Thesen als eine Gefahr für unser Gemeinwesen sowie für die Demokratie und Verfassung in unserem Land. […] Der Magistrat wird beauftragt, diese Haltung der Stadt Marburg mit allem Nachdruck zum Ausdruck zu bringen […]“
Die Stadt Marburg und das Netzwerk für Demokratie und gegen Rechtsextremismus organisierten eine Kundgebung vor der Stadthalle, um diese Haltung öffentlich sichtbar zu machen. Das Marburger Bündnis gegen Rechts verfolgte zusätzlich das Ziel, den Nazis an diesem Tag möglichst wenig Raum zu lassen und rief zu einer Demonstration auf, die vom Marktplatz in die Lutherstraße führen sollte. Die Häuser der hier ansässigen extrem rechten Burschenschaften Germania, Rheinfranken und Normannia-Leipzig zu Marburg galten als wahrscheinlichste Veranstaltungsorte. In der Vergangenheit wurden hier nicht nur mehrfach ähnliche Veranstaltungen organisiert (LOTTA #73, S. 31 ff), sie gelten als wichtige Treffpunkte und Schnittstellen für das extrem rechte Milieu (LOTTA-Sonderdruck Nr. 5, S. 9 ff). Diese Einschätzung teilt seit kurzem selbst die hessische Landesregierung, die auf Nachfrage der Grünen im Landtag mitteilte, dass die Aktivitas von Germanen und Rheinfranken vom Verfassungsschutz als rechtsextrem bewertet werden.
Das Bündnis lag mit seiner Vermutung ganz richtig. So gab Sellner in einem internen Video bekannt, dass die Veranstaltung eigentlich auf einem der Burschenhäuser habe stattfinden sollen, diese jedoch einen Rückzieher gemacht hätten. Man habe dann mittels eines Strohmannes ein Hotel gebucht, doch auch diese Option platzte. Zu hoch waren der öffentliche Druck und die Einigkeit, Sellner nicht in der Stadt haben zu wollen.
Vielseitiger Protest
Das zeigte sich auch am Tag der Veranstaltung selbst. Durch vielfältige Protestformen wurden die Pläne Sellners und seines kleinen Kreises von Unterstützern verhindert oder mindestens erschwert. Eigentlich hätte die städtische Kundgebung von Sellner persönlich gestört werden sollen, während ein Banner vom Dach der Stadthalle entrollt würde. Kurz vorher wurde die Aktion aber aus Sorge abgebrochen, man könne auf dem Weg aufs Dach auf Antifas treffen. Statt dramatischer Provokation mitten in der Stadt hing das Banner für nur gut zehn Minuten an einer Brücke über der Autobahn, bevor es von Unbekannten wieder entfernt wurde.
Besonders wichtig war eine Blockade, die die Abreise der Nazis am Sammelort am Messeplatz verzögerte und damit auch die Suche des Veranstaltungsortes ermöglichte. Die Blockade wurde von der Polizei geräumt und die Daten der Antifaschist_innen aufgenommen. Ihnen droht Repression wegen Landfriedensbruchs und möglicher weiterer Vorwürfe.
Vorbereitung im kleinen Kreis
Bei der Planung und Durchführung wurde Sellner von einer Handvoll Personen unterstützt, die zum Teil von weiter weg anreisten. So gab es Unterstützung durch Personen der Gruppe Revolte Rheinland wie Johannes Konstantin Poensgen, Sebastian Weber, der den YouTube-Kanal Weichreite betreibt, Paul Klemm von Compact TV oder von dem Kassler Burschenschafter Nils Wilhelm. Lokale Unterstützung kam durch die IB-Aktivistin Carolina Merkehns, einige einschlägige Burschenschafter und den eingangs erwähnten Manuel Mann.
Mann ist langjähriger Nazi-Aktivist in Mittelhessen und ebenso umtriebig wie umstritten. Er organisierte beispielsweise die Demos in Gladenbach 2004 zum Verbot der Musikgruppe Landser, bei der auch der Mörder Lübckes Stephan Ernst anwesend war. Zuletzt hatte Mann zu einem Autokorso für die Bauernproteste aufgerufen, der von allen Bauernorganisationen boykottiert wurde. Schon lange gilt Mann in der Szene als Egomane und immer wieder wurde auch der Verdacht laut, dass er mit Behörden kooperiere. Besonders zuträglich für das Misstrauen war eine misslungene Spontandemonstration im Jahr 2011, die Mann in Gießen durchführen wollte. Alle Teilnehmenden der eigentlich klandestinen Aktion wurden im Vorfeld von der Polizei angehalten, kontrolliert und weggewiesen. Unter ihnen übrigens schon damals Nils Wilhelm aus Kassel.
Manuel Mann ist vor einigen Jahren von Marburg nach Gladenbach gezogen. Hier hatte er laut einem Pressebericht einen Bekannten gefragt, ob er das kürzlich neu gemietete und noch leerstehende Ladenlokal am Marktplatz für ein Treffen mit Freunden nutzen könne. Der Bekannte gab in dem Bericht an, von Manns politischer Gesinnung und seinen Plänen keine Ahnung gehabt zu haben. So kam es, dass Sellner dank eines abgehalfterten lokalen Kameradschaftsführers seine Lesung im hessischen Hinterland durchführen konnte.
Gladenbach statt Burschenpracht
Die Teilnehmenden von Sellners Lesung wurden von Marburg aus über zwei Schleusungspunkte in die leerstehende Gastronomie am Gladenbacher Marktplatz gebracht, deren Fenster mit Tischdecken verhangen wurden. Es waren bereits Polizeikräfte vor Ort und hielten einige eintreffende Gegendemonstrant_innen auf Abstand, sodass die Veranstaltung dann zwar stark verspätet, aber störungsfrei durchgeführt werden konnte. Insgesamt nahmen gut 50 Personen daran teil. Das Publikum war ein exemplarischer Querschnitt der aktuellen Rechten: AfD-Mandatsträger und -Wähler*innen, Personen aus dem Burschenschaftsmilieu, lokale rechte Akteure sowie Personen aus dem Querdenker-Spektrum. Vielleicht war unter dem starken öffentlichen Druck auch diese erwartbar wilde Mischung ein Argument für die Marburger Burschenschafter und ihre Alten Herren, die Veranstaltung lediglich einzeln zu besuchen, anstatt Sellner als Organisationen zu unterstützen und die Villen zur Verfügung zu stellen.
Der Tag hat für Marburg auf jeden Fall gezeigt, dass eine klare Haltung sowie eine Offenheit für unterschiedliche, flexible Protestformen aktuell der richtige Weg sind, um gemeinsam der rechten Raumnahme entgegenzuwirken.