
„Wir freuen uns über Nachahmer:innen“
Der digitale Stadtführer „Nie wieder Faschismus Bergkamen“
Was ist euer Ansatz, die Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort zu vermitteln?
Jan: Wir leben mittlerweile in Zeiten, in denen es kaum noch die Möglichkeit gibt, mit Zeitzeug:innen zu arbeiten. Das hat den Nachteil, dass die Beschäftigung fast zwangsweise abstrakt und damit für viele Menschen emotional nur schwach besetzt ist, sodass ein tiefer gehendes Interesse oft gar nicht entsteht. Der Ansatz des Stadtführers soll ein bisschen diese Lücke auffüllen. Durch den Bezug zur eigenen Stadt und somit zur individuellen Lebensrealität soll ein Zugang zur Thematik entstehen. Das Konzept geht dabei über die bekannten „Stolpersteine“ hinaus. In einem Stadtplan soll virtuell alles im Stadtgebiet, was Bezug zum Nationalsozialismus bzw. Faschismus hat, eingetragen und erläutert werden. Es lassen sich auch thematisch orientierte Routen erstellen, etwa zu Orten, die mit Widerstand oder Täterschaft verbunden sind. In einer Stadt wie Bergkamen, mit ihren vielen Zechen und kriegswichtiger chemischer Industrie, ist Zwangsarbeit ein großes Thema.
Bislang ist eurer Stadtführer nur online einsehbar. Eurer Plan ist aber, dass er unmittelbar mit den Orten verknüpft wird. Wie wollt ihr das umsetzen?
Udo: Die Idee eines Onlinestadtführers stand natürlich im Mittelpunkt, da man sich die Orte so auch nur virtuell erschließen kann, sei es, weil man nicht vor Ort sein kann, sei es, weil das Stadtgebiet natürlich nicht barrierefrei ist. Zusätzlich sollen noch QR-Codes an den jeweiligen Standorten angebracht werden. Hierzu fehlen aber noch Zugänge zu Orten auf Privatgrund. Wegen der öffentlichen Orte stehen wir in Kontakt mit der Stadtverwaltung.
Die Arbeit von Schüler:innen spielte eine zentrale Rolle bei eurem Projekt. Warum war ihre aktive Einbindung so wichtig?
Jan: Die Hauptidee war, die Perspektive der Schüler:innen tatsächlich auch wirksam werden zu lassen, so dass man nicht Gefahr läuft, aus der Perspektive eines Erwachsenen zu glauben, was Schüler:innen eigentlich interessieren könnte. Diese wissen in der Regel am besten selbst, welche Fragen sich stellen, wie sie Dinge auffassen wollen, wie sie Recherche betreiben wollen. Darüber hinaus führt es auch zum Erleben von Selbstwirksamkeit. Es macht halt einen Unterschied, ob Jugendlichen die Welt von Expert:innen erklärt wird oder ob sie sich aktiv gestaltend wahrnehmen. Das hat einen großen Einfluss auf die Lernmotivation, die Nachhaltigkeit des Lernens und ihre Sicht auf den Lernprozess. Außerdem wird durch Schüler:innen anders formuliert, sodass jüngere Menschen besser angesprochen werden. So war zumindest unsere Hoffnung.
Zeitlich beginnt ihr nicht im Jahr 1933, sondern habt zwei Orte mit Bezug zum „Ruhraufstand“ 1920 integriert. Warum?
Udo: Im Gespräch mit den Schüler:innen musste zu Beginn des Projekts abgegrenzt werden, welchen Zeitraum wir betrachten wollen. Dabei wurde deutlich, dass es nicht ausreicht, nur die Jahre 1933 bis 1945 in den Blick zu nehmen. Es stellte sich die Frage: „Wie ist es eigentlich dazu gekommen, was ist eigentlich vorher passiert?“ Die Machtübernahme der Nationalsozialisten ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern hat Grundlagen und Vorgeschichte. Wir hatten den Anspruch, den Stadtführer so zu gestalten, dass man daraus auch etwas lernen kann. Da muss man sich natürlich fragen, was hätte man vorher tun können. Und dann muss man auch gucken, wie es dazu gekommen ist, dass der Faschismus sich entwickeln und so stark werden konnte. Deswegen war klar, dass man zeitlich weiter zurück muss, obgleich man natürlich auch irgendwo eine Grenze ziehen muss. Mit der deutschen Revolution 1918/19 und den Nachwehen der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde es sehr greifbar, dass es auch auf ein faschistisches Regime hinauslaufen kann. Dies lässt sich am Denkmal für die Rote Ruhrarmee auf dem Bergkamener Friedhof nachvollziehen.
Ein Ort fällt etwas aus dem Rahmen, weil kein Ereignis mit Bezug zur NS-Zeit erzählt wird, sondern ein rassistisch motivierter Brandanschlag aus dem Jahr 2011. Was hat euch bewogen, diese Tat zu thematisieren?
Udo: So wie 1933 eine Vorgeschichte hatte, so hat auch der deutsche Faschismus eine Nachgeschichte. Zwar endete die Herrschaft der Nationalsozialisten 1945, aber der Faschismus war als Idee nicht verschwunden und es gab auch immer noch Faschist:innen. Das soll dieses Beispiel verdeutlichen. Wir hatten auch noch weitere Stationen geplant. Es war uns aber wichtig, dass nur gesicherte Informationen Eingang in den Stadtführer finden. Und bei manchen Ereignissen blieben Unklarheiten.
Wird der Stadtführer ergänzt, wenn ihr gesicherte Erkenntnisse gewonnen oder Neues recherchiert habt?
Jan: Auf jeden Fall! Dieser Stadtführer, gerade weil er digital ist, versteht sich nicht als abgeschlossenes Projekt. Unsere Idee ist, dass er weiter wächst. Möglich sind nicht nur neue Stationen, sondern auch die Integration anderer Formate wie Erklärvideos. Das Projekt ist nicht abgeschlossen und soll weitergeführt werden, noch ist die Geschichte nicht zu Ende!
Auf welche Schwierigkeiten seid ihr bei der Recherche gestoßen? Ihr nutzt etwa kaum historisches Bildmaterial…
Jan: Wir nutzen deshalb so wenig historisches Bildmaterial, weil es nur sehr wenig gibt. Unsere Arbeit wurde dadurch erschwert, dass wir das Stadtarchiv nicht nutzen konnten, da der alte Stadtarchivar gerade in den Ruhestand gegangen und die neue Archivarin (noch) in Elternzeit war.
Wie ist das Projekt in der Stadt aufgenommen worden, wie wird es angenommen und genutzt?
Udo: Das Projekt hat eine relativ breite Basis. Wir wurden vom Jugendamt massiv unterstützt, nicht nur finanziell, sondern auch bei verschiedenen Arbeitsschritten. Es ist in den lokalen Medien gut wahrgenommen worden. Wir wissen, dass Geschichtslehrer:innen es im Unterricht und bei Projekttagen nutzen. Wir würden uns natürlich freuen, wenn es noch mehr würde, und erhoffen uns einen deutlichen Schub durch die QR-Codes im Stadtbild. Hoffentlich kommen sie bald! Außerdem würden wir uns sehr über Nachahmer:innen in anderen Städten freuen. Sollte es Fragen oder Unterstützungswünsche geben, sind wir unter der E-Mail-Adresse erinnern.ermutigen.handeln@gmx.de zu erreichen. Wir helfen gerne.
Jan: Ein antifaschistischer Stadtführer bietet die Option, Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit einfach und dauerhaft zu ermöglichen. Das Konzept eignet sich sogar für kleine Gruppen (z.B. Freundeskreise, Kegelclubs…), die nur temporär zusammenarbeiten, und kann ständig ergänzt oder verändert werden. Auch kann er in mehreren Etappen oder von verschiedenen Gruppen nacheinander oder gleichzeitig erstellt werden.
Vielen Dank für das Interview!