Von Machtkämpfen, Intrigen und „rechter Kulturpolitik“
Schlaglichter auf aktuelle Entwicklungen in der AfD
Auch bei Martin Vincentz war es das sattsam bekannte Spiel. Gerade hatte die damalige Innenministerin Nancy Faeser mitgeteilt, der Verfassungsschutz (VS) habe die AfD vom „Verdachtsfall“ zur „gesichert rechtsextremistischen Bestrebung“ hochgestuft, da igelte sich deren Landeschef in NRW in eine der Lieblingsrollen seiner Partei ein: die AfD als unschuldiges Opfer einer großen Verschwörung. Die Gründe für die Neueinstufung? „Vorgeschoben“ und „absurd“ seien die, wetterte Vincentz: „Ein durchschaubares Spiel!“ Der Geheimdienst werde gegen die größte Oppositionspartei missbraucht. Ein paar Tage später legte er nach: „Wer glaubt, die politische Konkurrenz durch nachrichtendienstliche Stigmatisierung ausschalten zu können, hintergeht den Rechtsstaat und beschädigt die Demokratie.“ Und alle Fähigkeiten zum Pathos bemühend: „Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte.“
Sogar in seiner eigenen Partei bezweifeln freilich einige, dass sich Vincentz auf der richtigen Seite der Geschichte befindet. Jedenfalls stehe er – da sind sie sich sogar sehr sicher – in den AfD-internen Streitigkeiten auf der falschen Seite. Auch zwölf Jahre nach seiner Gründung durchzieht eine klare Frontlinie den mittlerweile mehr als 10.000 Mitglieder zählenden Landesverband: hier jene, die doch so gerne seriös erscheinen würden; dort die, die rechtsradikalen Klartext vorziehen. Die Protagonisten beider Lager wechselten im Laufe der Jahre, doch an der Situation an sich hat sich nichts geändert. Dabei ist Vincentz beileibe nicht der über allen Strömungen schwebende Moderator gelegentlicher Streitereien, als den er sich so gerne sieht. Vielmehr agiert er als eine der treibenden Kräfte in einem beinhart und intrigant ausgetragenen, hassgesättigten Machtkampf. Rechtsradikalismus auf leisen Sohlen ist sein Konzept. Das amtliche Siegel des „gesichert Rechtsextremistischen“ muss für ihn folglich wie der größte anzunehmende Unfall erscheinen.
Backen aufgeblasen
Dass die AfD nun mit diesem Verfassungsschutz-Label leben muss, hat er auch Leuten wie Matthias Helferich zu verdanken. In NRW von einem Parteiausschlussverfahren bedroht, hatte der Dortmunder Bundestagsabgeordnete die vorige Wahlperiode noch als Fraktionsloser in der letzten Reihe des Parlaments verbringen müssen. Nun schaffte er es in den Kreis der AfD-Abgeordneten. Nach der konstituierenden Sitzung der neuen Bundestagsfraktion war zu hören, kein einziger Abgeordneter habe eine Diskussion über die Personalie verlangt. Die erste Sitzung der AfD-Fraktion war ein Lehrbeispiel für den geschrumpften Einfluss der NRW-Parteispitze in Berlin. Wer dort lautstark gegen Helferich aufbegehrt hätte, hätte sich als Streithahn und Dauernörgler unmöglich gemacht. Die Landesgruppe Nordrhein-Westfalen der AfD-Abgeordneten, in der Mehrheit auf Vincentz-Linie, hatte am Tag vor der konstituierenden Fraktionssitzung zwar die Backen noch ein wenig aufgeblasen und den Mund gespitzt – die Bedenken am Ende aber nur schriftlich hinterlassen, sozusagen zum Abheften fürs Protokoll. Sie warnte in ihrer Notiz vor den Folgen, die Helferichs Aufnahme in die Fraktion haben werde. Alice Weidel und Tino Chrupalla hätten „alle Informationen und Warnungen erhalten“, hieß es in der Stellungnahme, über die Zeit online berichtete. Nach der Aufnahme hätten die beiden „alle evtl. Folgen und Skandale zu verantworten“. Konsequenzen hatte die Warnung nicht.
„Mit rechter Kulturpolitik dem linken Kulturkampf entgegenwirken“
Tatsächlich ist Helferich ja auch Fleisch vom Fleische der stetig radikalisierten Bundes-AfD – nicht ihr Mainstream, aber vollauf akzeptierter Teil der Partei – geeignet, das radikalere Lager der Rechtsaußenfraktion zu stärken. Vor allem in der Kulturpolitik will er aktiv werden. Er halte am „Konzept der Remigration“ fest, sagte er. „Ich glaube an Grenzschließungen und massenhafte Abschiebungen.“ Aber es brauche mehr – nämlich „die Stärkung unseres kulturellen, unseres identitären Bewusstseins“. Dafür sei „eine rechte, eine patriotische, eine identitäre Kultur-, Medien- und Identitätspolitik der richtige Ansatzpunkt“. Er wolle „mit rechter Kulturpolitik dem linken Kulturkampf entgegenwirken“. „In einem gesunden Verhältnis zu Deutschland“ stehen muss die Kultur, die Helferich vorschwebt, „und „eben nicht links, morbide und falsch“ sein. Kurz und knapp: „Die Parole muss lauten: Nibelungensage und deutsche Helden statt postmodernem Fäkaltheater.“
Helferichs Entscheidung für den Schwerpunkt Kultur bietet ihm den Vorteil, sich noch stärker als in der Vergangenheit als Vertreter des „Vorfelds“ gerieren zu können, jenes Konglomerats aus Ideologieproduktion, Buch- und Zeitschriftenverlagen, rechten Influencer:innen, Autor:innen, angeblichen „Bürgerbewegungen“ etc. „Der Kulturkampf von rechts muss vornehmlich von Akteuren unseres Vorfeldes geführt werden“, sagt Helferich. „Wir als Parlamentarier und Kulturpolitiker können dabei mit bestimmten Maßnahmen Schützenhilfe leisten.“ Er wolle „dabei nach Mitstreitern aus Kunst, Literatur und Architektur suchen, die mit schöpferischem Drang nach vorne gehen, um das Ewige, Gute und Schöne in neuer Form wiederzubeleben“. Erste „Duftmarken“ hinterließ er bereits. Zum Beispiel bei einem Gespräch mit Verantwortlichen des Jungeuropa Verlags, denen er attestierte, ein „Leuchtturmprojekt“ aufgebaut zu haben: „Deutsche Antworten für eine deutsche Zukunft.“ Zum Beispiel mit der Einladung des „neurechten Vordenkers“ Götz Kubitschek in sein Dortmunder Wahlkreisbüro Ende März. Auch solche Auftritte sind es, die sein Parteieiordnungsverfahren immer wieder neu befeuern. Der AfD-Landesvorstand hat im Frühjahr weiteres Material in dem Verfahren nachgeschoben, darunter den Hinweis auf die Kubitschek-Veranstaltung. Helferichs Kommentar: „Der NRW-Vorstand macht damit die Arbeit des VS.“
Neue Vorwürfe
Nicht ausgeschlossen, dass das Schiedsgericht auf Landesebene Vincentz folgt. Erst recht nachdem Der Spiegel Ende Mai aus Mails zitierte, die Helferich vor rund zehn Jahren geschrieben haben soll, als er in der Bonner Burschenschaft Frankonia aktiv war. In einer dieser Mails empfiehlt der Autor einem „Bundesbruder“ ein Buch zur Psychologie der Massen, „welches schon Goebbels anleitete“. In einer Mail, die mit „Heilchen“ beginnt und mit „Matthias“ unterzeichnet ist, heißt es dem Spiegel zufolge an ein Verbindungsmitglied gerichtet: „Du hast noch meine gesamte Rassenkunde-Literatur, du jüdischer Langfinger.“ Eine weitere Mail endet demnach mit einem PS: Er bevorzuge die Anrede „Holocaustleugner_In“. Der Autor dichtet auch. Das klingt dann so: „Advent, Advent, ein Asylantenheim brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht der Helferich vor der Reichstagstür. Und wenn das Fünfte brennt, hast du die Revolution verpennt!“
Helferich bestreitet, all das geschrieben zu haben. Er „schließe nicht aus“, sagte er, dass Hacker die Mailkorrespondenzen manipuliert hätten. Nachfragende „ARD-Hauptstadtjournalisten“ beschied er per Video mit den Worten: „Ich erkläre mich nicht, aber Ihr könnt mich gerne am Arsch lecken!“ Dem Spiegel gegenüber erklärte er sich immerhin doch ein wenig: Der Stil der ihm zugeschriebenen Mails ähnele nicht dem von ihm verwendeten Sprachduktus. Wer ihn halbwegs kennt, ahnt freilich, wie absurd das klingen muss, kommt doch sein „Humor“ – wie er das wohl nennen würde – nie hinaus über das Niveau, das beim Kommers einer Burschenschaft üblich ist und bei AfD-Stammtischen im Hinterzimmer bejubelt wird. Seine Gegner in NRW werden seine Erklärungsversuche wohl nicht überzeugen. Und auch in der Bundesspitze schwindet die Unterstützung. Die Welt zitierte eine „Sprachregelung der Bundesgeschäftsstelle“: „Sollte sich infolge der Sachverhaltsklärung ergeben, dass der Landesvorstand die Notwendigkeit einer Parteiordnungsmaßnahme gegen Herrn Helferich sieht, würde der Bundesvorstand diese ebenfalls unterstützen.“
Tricksereien im Schiedsgericht
Apropos Schiedsgerichte: Gekämpft wird um deren Zusammensetzung mit Haken und Ösen. Schon die Zusammensetzung jener dreiköpfigen Gerichtskammer in NRW, die im Fall Helferich entscheidet, ist ein Beispiel dafür. Das Onlinemedium The Pioneer berichtete Mitte März gestützt auf das Protokoll der konstituierenden Schiedsgerichtssitzung, ein Helferich-Gegner habe sich mit zwei Richterkollegen abgesprochen, um genau diese Kammer zu übernehmen. Obwohl das intern kritisiert worden sei und ein Teilnehmer den Vorgang als „Verstoß gegen das Grundgesetz“ bezeichnet habe, setzte sich der Gegner Helferichs demnach in der Abstimmung durch. Zu diesen Vorgängen, die eigentlich nur jene überraschen können, die naiverweise an eine Unparteilichkeit von Parteigerichten glauben, zitierte The Pioneer den renommierten Parteienrechtler Martin Morlok. Der befand, das AfD-Schiedsgericht in NRW missachte rechtsstaatliche Prinzipien. „Die Zuordnung der Richter zu den einzelnen Fällen darf nicht von den Richtern gesteuert werden können.“ Das Verfahren des Schiedsgerichts sei somit „natürlich rechtsstaatlich unhaltbar“. Helferich könnte wegen der fragwürdigen Zusammensetzung des Schiedsgerichts vor einem staatlichen Gericht Recht bekommen, so Morlok. Ein Telegram-Kanal von Helferich-Anhängern kommentierte: „Das Vincentz-Lager weiß sich nicht mehr anders zu helfen und bildet ,Sondergericht‘, um Helferich durch willfährige Richter ausschließen zu lassen.“
War es tatsächlich so wie von The Pioneer geschildert, wäre es nicht der erste Versuch von Vincentz‘ Lager gewesen, eigenes Personal in Parteigerichte zu schleusen, um Helferich loszuwerden. Nicht zu übersehen waren beispielsweise solche Versuche im Sommer letzten Jahres beim AfD-Bundesparteitag in Essen. Seinerzeit wurden angebliche Inhalte eines Chats bekannt, an dem laut einem rechten Szenemagazin „hochrangige Funktionäre der AfD NRW“ beteiligt waren. Der österreichische Heimatkurier zitierte aus dem Chatverlauf einen Beisitzer im NRW-Landesvorstand: „Wir brauchen Richter, die uns die Rasur von MH nicht versauen…“
Verständlich, dass Vincentz derlei Abläufe nicht öffentlich auf Parteitagen diskutiert sehen möchte. Erklärbar aber auch, dass sein eigenes Ansehen selbst bei manchen von denen, die eigentlich seiner Linie folgen, beschädigt ist. Erst recht gibt es in der Landes-AfD das Bedürfnis nach Ruhe im Verband, insbesondere wegen der Kommunalwahlen Mitte September. Was das konkret bedeutet, war wenige Tage nach der Pioneer-Meldung zu besichtigen, als sich die NRW-AfD zum Landesparteitag in Marl traf.
Harmoniebedürfnis vor der Kommunalwahl
Das Antragsbuch versprach einige Spannung. Ein Mitglied aus dem Rhein-Sieg-Kreis verlangte, Vincentz einen oder zwei Ko-Sprecher zur Seite zu stellen. „Dr. Martin Vincentz für den Landesvorstand“ hingegen beantragte, das Amt eines Generalsekretärs in NRW neu einzuführen. Er solle „jederzeit vom Sprecher des Landesvorstandes berufen“ werden können und sich zur Wahl als Vorstandsmitglied erst beim folgenden Landesparteitag stellen müssen. Auch eine Stellenbeschreibung wurde in dem Antrag mitgeliefert: „Der Generalsekretär koordiniert und organisiert die Parteiarbeit auf Landesebene. (…) Zur Vorbereitung und Durchführung von Landtags- und Kommunalwahlkämpfen sind die nachgeordneten Gliederungen der Partei an die Weisungen des Generalsekretärs gebunden.“ Parteiintern kursierten bereits Namen für das neue Amt. Genannt wurde etwa der Bochumer Landtagsabgeordnete Christian Loose, Parlamentarischer Geschäftsführer der von Vincentz geführten Fraktion und AfD-Vorsitzender in seiner Heimatstadt. Im Gespräch war aber auch Kris Schnappertz, Pressesprecher der Fraktion und für die Düsseldorfer AfD aktiv. Politisch-strategisch unterscheiden sich beide kaum. Gemeinsam ist ihnen die unbedingte Treue zum Landesvorsitzenden.
Machtverlust oder mehr Macht für den Landeschef? Öffentlich ausgetragen werden sollten die Konflikte in Marl dann doch nicht. Ein halbes Jahr vor den Kommunalwahlen umschiffte der Parteitag die internen Konflikte großräumig. Der Antrag für Ko-Landessprecher? Kam gar nicht erst auf die Tagesordnung. Man habe in NRW „furchtbare Erfahrungen“ mit Sprecher-Duos gemacht, rief Thomas Röckemann den Delegierten zu. Eineinhalb Jahre lang war er selbst Teil einer nicht funktionierenden Doppelspitze. Der Rechtsanwalt, der einst dem „Flügel“ zugerechnet wurde, gehört inzwischen Vincentz‘ Lager an. Immer schon dazu gehörte der Bundestagsabgeordnete Kay Gottschalk: Dies sei ein „Albtraum in der Außendarstellung“, warnte er vor einer Mehrfachspitze. Und der Generalsekretärs-Antrag? Wurde von Vincentz zurückgezogen. Er hätte auch eine kaum erreichbare Zweidrittel-Mehrheit benötigt. In Marl sei oft zu hören gewesen, dass man kurz vor der Kommunalwahl kein Misstrauensvotum gegen den eigenen Landeschef brauche, berichtete der WDR. Bis zur Wahl im September soll erst einmal Ruhe herrschen. Vincentz will bis dahin Zuversicht verbreiten. Nach der Kommunalwahl führe „kein Weg an uns vorbei“, sagt er – und: „In den kommunalen Parlamenten wird dann die Brandmauer eingerissen.“ Ganz persönlich dürfte ihn im Herbst und Winter aber erst einmal eine andere Frage bewegen: ob er sich im Amt halten kann, wenn Anfang des nächsten Jahres ein neuer Landesvorstand gewählt wird. Falls er Vorsitzender bleibt, könnte ein Dankschreiben an Helferich fällig werden.
Die AfD im Bundestag
Der 20,8-Prozent-Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl wäre nicht erreichbar gewesen ohne die Erfolge im einwohnerstarken Westen. Dort legte sie um 9,8 auf nun 18,0 Prozent zu. Daran hatten NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen einen gehörigen Anteil: In NRW stimmten 16,8 Prozent für die AfD (plus 9,6 Prozentpunkte zu 2021). In Hessen waren es 17,8 Prozent (plus 9,0), in Rheinland-Pfalz sogar 20,1 Prozent (plus 10,9). In NRW kam die AfD auf knapp 1,8 Millionen Stimmen, in Hessen auf nicht ganz 640.000, in Rheinland-Pfalz auf annähernd 500.000. Die rheinland-pfälzische AfD stellt sieben Abgeordnete (2021: 4), die hessische neun (2021: 5). Nordrhein-Westfalens AfD bildet gar die größte Landesgruppe in der Fraktion: 26 Abgeordnete schafften den Sprung nach Berlin, 14 mehr als 2021.
Zur fünfköpfigen Riege der stellvertretenden Fraktionschefs zählen Sebastian Münzenmaier aus dem Landkreis Mainz-Bingen und der Essener Stefan Keuter. Als fachpolitische Sprecher fungieren künftig unter anderem drei Nordrhein-Westfalen und drei Rheinland-Pfälzer: Kay Gottschalk (Viersen) für Finanzpolitik, Michael Espendiller (Borken) für Haushaltspolitik, Rüdiger Lucassen (Euskirchen) für Verteidigungspolitik, Andreas Bleck (Neuwied) für Umweltpolitik, Nicole Höchst (Speyer) für Forschungspolitik, Sebastian Münzenmaier für Tourismus. Hessische Abgeordnete gingen bei der Verteilung der insgesamt 24 Sprecherposten – ebenso wie bei allen anderen herausgehobenen Funktionen in der Fraktion – leer aus. Zu den sechs Ausschussvorsitzenden, die von der AfD vorgeschlagen (und von den anderen Fraktionen abgelehnt) wurden, gehörten der Kölner Jochen Haug (Innenausschuss) sowie Kay Gottschalk (Finanzausschuss).