
Verdreifachter Intrigantenstadl
AfD legt bei der NRW-Kommunalwahl auf 14,5 Prozent zu – Streit geht weiter
Beispiel Gelsenkirchen: Kaum eine Zeitung und kaum ein Sender, der etwas auf sich hält, hatte vor der Wahl darauf verzichtet, Reporter:innen in die Ruhrgebietsstadt zu schicken. Arbeitsauftrag: erkunden, woran es liegt, dass die AfD tief im Westen Werte erreicht, die man bislang so nur aus dem Osten der Republik kannte. Manches, was in der Folge zu lesen und zu hören war, lieferte Erkenntnisse – die freilich meist so neu nicht waren. Manches andere schien von einer Art Angstlust getrieben: dass das Ruhrgebiet oder gar NRW insgesamt künftig „blau“ werde. Und schließlich fanden sich dort auch Berichte, die das Kreuz bei der AfD als quasi ganz „normale“ Reaktion erscheinen ließen – Berichte, in denen nicht das Votum für eine Partei mit teils faschistoidem Personal problematisiert, sondern lediglich bedauert wurde, dass die anderen Parteien noch nicht in toto deren Vorstellungen übernommen haben.
atsächlich lieferte Gelsenkirchen erneut die höchsten Ergebnisse für die AfD. Bei der Wahl des Stadtrats kam sie auf 29,9 Prozent, 17,0 Prozentpunkte mehr als 2020 und nur 0,44 Punkte weniger als die SPD. 20 Vertreter:innen wird sie im neuen Parlament stellen, genauso viele wie die Sozialdemokrat:innen. Und auch bei der Direktwahl der Verwaltungsspitze konnte die AfD zufrieden sein: 29,8 Prozent holte ihr OB-Bewerber Norbert Emmerich. Jubel war angesagt. Der Wahlkampf? „Berauschend.“ Der Wahlabend? „Historisch.“ Spitzenkandidat Emmerich freute sich: „Die AfD ist in der Mitte der Stadtgesellschaft angekommen.“
Landesweit holte die AfD 14,5 Prozent der Stimmen, 9,4 Prozent mehr als 2020. Damit wurde sie drittstärkste Partei. 1,14 Millionen Wähler:innen machten laut vorläufigem Endergebnis ihr Kreuz bei der AfD. 2020 waren es rund 372.000 gewesen. Knapp verdreifacht hat sie auch die Zahl der Mandate in den Kreistagen und den Räten der kreisfreien Städte: 186 waren es vor fünf Jahren; künftig werden es 552 Sitze für 453 Männer und 99 Frauen sein.
Inkompetenz in den Räten
Von einem kontinuierlichen Durchmarsch der AfD kann freilich nicht die Rede sein. Als im Februar der neue Bundestag gewählt wurde, hatte die Partei in NRW noch 16,8 Prozent erreicht. Dass sie dieses Ergebnis nicht wiederholen oder gar übertreffen konnte, war mehreren Faktoren geschuldet. Ihr Standard- und Gewinnerthema Migration und innere Sicherheit war – erstens – in der Wahrnehmung der Wählenden nicht so bedeutsam wie seinerzeit. Andere Themen traten hinzu: Wirtschaft etwa oder die Schulpolitik. Zweitens arbeiten zwar überall Kreisverbände der Partei, wirklich flächendeckend in sämtlichen Städten und Gemeinden aktiv ist die AfD mit ihren knapp 11.000 Mitgliedern aber bei weitem (noch) nicht. Und schließlich: Mehr als einmal und in zahlreichen Orten hatten AfD-Ratsmitglieder in der vorigen Wahlperiode ihre Inkompetenz in kommunalpolitischen Fragen offenbart.
Nur teilweise verfangen hat auch der Versuch der AfD, neue Wähler:innengruppen zu erschließen. Als sich die Bundestagsfraktion in diesem Sommer zur Klausurtagung traf, hatte ihre stellvertretende Vorsitzende Beatrix von Storch solche Gruppen skizziert. Potenziale gelte es zu heben unter Frauen, bei den Über-60-Jährigen, in den Metropolen und Großstädten, bei Deutschen mit Migrationshintergrund und bei konfessionell gebundenen Christen, forderte sie. Doch Wahlergebnisse und die Daten von Meinungsforschungsinstituten legen nahe, dass der Strategie Grenzen gesetzt waren. Zwar jubelte die Gelsenkirchener Ratsfrau und Landtagsabgeordnete Enxhi Seli-Zacharias: „Wir sind längst Volkspartei. Uns wählen hier auch Migranten, die keine Lust mehr haben auf diese katastrophalen Zustände.“ Doch große Defizite bleiben. Nach wie vor wird die AfD überwiegend von Männern gewählt. In Großstädten hat sie – abgesehen vom Sonderfall nördliches Ruhrgebiet – einen schweren Stand, ebenso in urkatholischen Gegenden. Und ihre Werte sinken, je älter die Wählenden sind. Sogar die sicher geglaubten Stimmen Jüngerer fielen diesmal nicht so zahlreich aus wie erwartet.
Stärken und Schwächen
So hat sich auch kaum etwas an den regionalen Stärken und Schwächen der AfD in NRW geändert. Stark ist sie vor allem im nördlichen Ruhrgebiet von Duisburg bis Hamm, im äußersten Zipfel Ostwestfalens sowie in einem Streifen von Hagen und dem Märkischen Kreis bis ins Oberbergische und ins Siegerland. Mehr als 18 Prozent holte sie in den kreisfreien Städten und Kreisen Gelsenkirchen (29,9 %), Herne (22,4 %), Hagen (22,4 %), Bottrop (21,8 %), Oberhausen (21,5 %), Duisburg (21,2 %), Kreis Recklinghausen (19,6 %), Märkischer Kreis (18,3 %), Kreis Minden-Lübbecke (18,1 %), Oberbergischer Kreis (18,1 %) und Kreis Herford (18,1 %).
Schwach schneidet die AfD hingegen in Städten ab, die traditionell universitär geprägt sind und/oder eine starke Verwaltungs- und Dienstleistungsbranche vorzuweisen haben, außerdem im Münsterland. Unter 11 Prozent blieb sie in den Kreisen und kreisfreien Städten Kreis Steinfurt (10,8 %), Kreis Warendorf (10,8 %), Düsseldorf (10,6 %), Kreis Borken (10,1 %), Kreis Coesfeld (9,1 %), Köln (9,1 %), Aachen (7,7 %), Bonn (6,0 %) und Münster (4,5 %). In drei Städten erreichten Oberbürgermeisterkandidaten der AfD die Stichwahl: in Gelsenkirchen, wo Norbert Emmerich (29,8 %) hinter der SPD-Kandidatin (37,0 %) ins Ziel einlief, in Hagen, wo Michael Eiche (21,2 %) hinter dem CDU-Bewerber (25,1 %) den zweiten Platz erreichte und in Duisburg, wo Carsten Groß (19,7 %) im ersten Wahlgang aber deutlich hinter dem SPD-Kandidaten (46,0 %) zurückblieb.
Neue Fronten im Landesvorstand
Trotz fast verdreifachtem Ergebnis: Die Wochen und Monate vor der Wahl waren so gar nicht nach dem Geschmack von AfD-Landeschef Martin Vincentz. Möglichst ungestört durch schlechte Nachrichten sollte der Wahlkampf vonstatten gehen, hatte er gehofft. Die Hoffnung war – erwartungsgemäß im Intrigantenstadl NRW-AfD – trügerisch. Im Landesvorstand taten sich neue Fronten auf. Die Sympathisant:innen seines parteiinternen Intimfeinds Matthias Helferich höhnten wider den Landeschef und dessen Anhängerschaft. Kreisverbände schossen quer oder wechselten ihr Führungspersonal aus. Kandidat:innen wurden mit Radikalismen auffällig. Der Verfassungsschutz klärte lokale Wahlausschüsse über einige Teile des Personals auf.
Im Landesvorstand brach neuer Zoff aus. AfD-Landesvize Sven Tritschler war offenbar Ziel einer Bespitzelungsaktion, mutmaßlich gesteuert durch AfD-Pressesprecher Kris Schnappertz und aus dem Vorzimmer von Landes- und Fraktionschef Vincentz. Der Landtagsabgeordnete Tritschler beschrieb, wie Schnappertz und andere versucht haben sollen, durch seinen Mitarbeiter Tim Schramm an schädigendes Material heranzukommen: „Mit der Aussicht auf hoch dotierte Jobs wurde Herr Schramm massiv unter Druck gesetzt, um kompromittierende Informationen gegen mich zu beschaffen.“ Tritschler beklagte eine Intrige gegen seine Person, weil er sich im Machtkampf innerhalb der Landespartei nicht klar auf die Seite von Vincentz geschlagen hatte: „Ich habe aus mehreren Gesprächen den Eindruck, dass man mir verübelt, dass ich mich nicht dem ‚Dschihad‘ gegen Teile der Partei anschließe, der unseren Landesverband seit Monaten lähmt und zerstört.“ Zwischenbilanz des Geschehens: Schnappertz verlor zwar seinen Posten als Pressesprecher der Fraktion, durfte aber Pressesprecher der Partei bleiben. Das mutmaßliche Intrigenopfer Tritschler hingegen musste Befugnisse im Landesvorstand abgeben, wie Helferich-Anhänger berichteten.
Problemfall Schnappertz
Auch beim zweiten großen Problemfall mischte Schnappertz mit. Mehr und mehr hatte sich der Vorstand der AfD Düsseldorf in den letzten Monaten vom Landeschef abgewandt. Der Vincentz-Vertraute Schnappertz verlor gar sein Vorstandsamt und seinen aussichtsreich erscheinenden Listenplatz zur Stadtratswahl. Juristische Auseinandersetzungen folgten. Kurzzeitig erschien sogar die Kandidatur der AfD in der Landeshauptstadt in Gefahr. Einer der Höhepunkte des Streits war die Überlegung des Düsseldorfer Vorstands, Martin Sellner zu einer Podiumsdiskussion einzuladen. Die NRW-AfD drohte massiv: Eine Kooperation mit Sellner könne „nur als parteischädigend angesehen werden“. Sollte die Podiumsdiskussion dennoch stattfinden, müssten gegebenenfalls Parteiordnungsmaßnahmen verhängt werden. Zwischenbilanz des Geschehens in Düsseldorf: Der Kreisverband verzichtete auf die Veranstaltung mit Sellner. Für adäquaten Ersatz war aber bald gesorgt: Am 15. September war Sellners Verleger Götz Kubitschek in der Stadt zu Gast. Und der Kreisvorstand monierte in einem u. a. an den Bundesvorstand gerichteten Brief: Schnappertz, der offenbar weiter als Pressesprecher des Landesvorstands im Dienst sei, werde trotz seines Agierens gegen Tritschler von den „Mitgliedsbeiträgen aller NRW-Parteifreunde“ für „satzungsfremde und übergriffige Aussagen“ bezahlt. „Wünschenswert wäre ein Einsehen bzw. Einwirken auf maßgebliche Akteure des AfD-Landesvorstands“, um „Auftrittsverbote“ und „Einmischungen in die Autonomie des Kreisverbands“ zu unterbinden, schrieb Kreischef Elmar Salinger.
Nicht nur in der Landeshauptstadt geriet die AfD mit Personalien in die Schlagzeilen. In Paderborn und Lage war es der Verfassungsschutz, der ihr schlechte Nachrichten bescherte. Den örtlichen Wahlausschüssen, die über die Zulassung von Bewerber:innen für die Bürgermeisterwahl zu entscheiden hatte, lieferte er „Erkenntnismitteilungen“. Die über den Paderborner Spitzenkandidaten Marvin Weber war 24 Seiten stark und kam zum Fazit, es bestünden „tatsächliche Anhaltspunkte, dass Weber Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolgt“. Als Chef der Jungen Alternative in Ostwestfalen-Lippe habe er deren völkischen Kurs mitbestimmt, fremden- und islamfeindliche Beiträge veröffentlicht, die Legitimation der Regierung bezweifelt und rechtsextreme Verschwörungsmythen verbreitet.
Die Fälle Weber und Detert
Weber, der dem radikaleren Lager der NRW-AfD zugerechnet wird, ist ein dankbares Objekt für Verfassungsschützer:innen. Etwa wenn er sich überzeugt zeigt, „dass es den einheimischen Deutschen auf der Seele brennt, endlich wieder ohne ewigen Schuldkult Deutsche im eigenen Land sein zu dürfen – und zwar stolz und tugendhaft“. Oder wenn er fordert: „Wir wollen endlich wieder frei von den ewigen Ketten der ewigen Geschichtsinstrumentalisierung der uns ausplündernden Staaten sein.“ Wenn er die „vollkommene Gleichschaltung auf allen Ebenen“, „globalistische Medienkartelle“, „NGO-Verbrecher“, „Ersetzungsmigration“ und „Umsiedlungspolitik“, „Kultur- und Staatszersetzung“ beklagt. Oder wenn er „dieses Land an manchen Tagen nur noch als gebrochenes Experiment der Siegermächte bezeichnen mag“. Deutschland? Weber zufolge auf dem Weg zur „Beutekolonie Germanistan“. Uwe Detert ist ein ähnlich dankbarer Gegenstand der VS-Betrachtung. Manches klingt arg reichsbürgerlich, was er über soziale Medien teilt. „Das Deutsche Reich ist da – Es ist nie untergegangen – Es gehört uns“, erfährt man dort. Und bedauert wird: „Durch 70 Jahre systematischer Gehirnwäsche glaubt heute die Masse, dass die BRD ein Staat ist“ – während doch Deutschland „kein souveräner Staat“ sei, vielmehr eine GmbH. Antisemitismus durfte auf den Detertschen Kanälen nicht fehlen: In einem Video, in dem ein Jugendfoto von Ex-Kanzlerin Angela Merkel mit zwei Schulfreundinnen gezeigt wird, ist zu lesen: „Von den Rothschilds als Teenager ausgewählt, geformt und an die Macht gebracht!“
Detert zählt parteiintern zum Lager rund um Vincentz. Insofern überrascht es wenig, dass der Landesverband sich alle Mühe gab, ihn zu exkulpieren, als die Tageszeitung Die Welt vor Monaten Zitate aus seinen Social-Media-Kanälen veröffentlichte. Die mutmaßlichen Äußerungen seien „alle von der Meinungsfreiheit gedeckt und in keiner Weise strafrechtlich relevant“, befand die NRW-AfD. „Durch das Teilen und Zitieren“ mache er sich zudem „die Äußerungen nicht unbedingt zu eigen“. Detert sei jedenfalls „ein geschätztes Mitglied der AfD“, „fest auf dem Boden des Grundgesetzes“. Der Wahlausschuss in Lage freilich sah das nicht so und verhinderte Deterts Kandidatur. Im Fall Weber entschieden die Kommunalpolitiker:innen in Paderborn anders. Sie gaben grünes Licht für seine Kandidatur. Nicht weil sie Sympathien für den AfD-Rechtsaußen entwickelt hätten; sie wollten vielmehr das juristische Risiko einer Niederlage vor Gericht nicht tragen.
Sammelbecken AfD
Nicht nur Detert und Weber vermittelten einen Eindruck über die „Qualität“ des AfD-Personals. Die Partei, die von Sieg zu Sieg zu eilen scheint, führt sie alle zusammen – ob als Parteimitglieder oder als parteilose Kandidat:innen: Reichsbürger:innen und Rassist:innen, Verschwörungserzähler:innen und Homophobe, Antisemit:innen und Neonazisympathisant:innen, solche, die von Militanz träumen und Misogyne. Da war – die folgende Übersicht ist notgedrungen unvollständig – die Ratskandidatin, die auf einem Social-Media-Profil die Illustration eines Paares teilte, so wie man auszusehen hat nach AfD-Geschmack; dazu gab’s Reichsflaggen und in Fraktur den Hinweis: „Ihr werdet uns nicht austauschen!“
Da war der Kandidat, der einst das Video „Ursula Haverbeck, Angela Schaller und der Volkslehrer“ teilte, mit dem Satz „Eine Kämpferin für die Wahrheit!!“ kommentierte, und der an anderer Stelle einen Aufruf zu einer Demo unter dem Motto „Solidarität mit Ursula Haverbeck“ veröffentlichte. Da war im Märkischen Kreis der Kandidat, der vor vier Jahren beim Trauermarsch für den verstorbenen Neonazi Siegfried Borchardt mitlief. Da waren in einer anderen Gemeinde desselben Kreises die beiden Kandidaten, deren Posts der Partei im Nachhinein dann doch missfielen. „Lesbisches und schwules Verhalten ist biologisch krank“, war dort zu lesen. Da war der Kandidat aus dem Kreis Unna, der in einem „Querdenker“-Chat geschrieben haben soll: „Dann müssen die Leute sich eben organisieren, dann müssen wir kleine Splittergruppen machen, wie die ETA und so weiter. Das muss jetzt zur Sache gehen.“ Und: „Da geht’s für mich nur noch da weiter, wo andere schon längst aufgehört haben. Das heißt: Waffen bauen und so weiter. Und wer das einfach nicht kapieren will, der soll sich am besten jetzt schon einen durch die Birne halten, weil der stört uns nur bei unseren Taten.“ Da war ein anderer AfD-Kandidat aus demselben Kreis, der in seinem Onlineshop und auf Märkten Symbole wie die Lebensrune oder „Schwarze Sonnen“ vertreibt. Dass seine Ehefrau, auch sie Kandidatin, einst beim Sturmvogel Deutscher Jugendbund zu sehen war, passt ins Bild.
Das alles mögen Einzelfälle sein. In einzelnen Fällen dieser Einzelfälle hat sich die AfD gar distanziert – wohl weil es gar zu parteischädigend war, was sie getrieben oder geschrieben haben. Zumeist aber geschah – nichts. So fügen sich die Einzelfälle am Ende zu einem Gesamtbild einer nationalistischen, rassistischen und sexistischen Partei, die freilich nach der Wahl vom 14. September nichts anders machen muss. Gewählt wird sie ja trotzdem – oder eben deswegen.